

Hier finden Sie
"novum"-Artikel zu
Fragen der Poetik in der kommunistischen Kulturpolitik
Materialien zur Untersuchung, wie sich Bewusstsein herausbildet
Gedichte-Auswahl
Heinrich Heine:
Antwort
Romanzen
Rainer Maria Rilke:
Der Panther
Erich Fried:
Angst und Zweifel
Einer der drei Wünsche
Zur Sonne, zur Freiheit!
Bertolt Brecht:
Die Wahrheit einigt
Wer aber ist die Partei?
Arne Kagel:
Dann wirst
alle lüfte
Max Zimmering:
Dumpfe Stunde
Peter Hacks:
Gebrechlicher Vielvölkerstaat
Beitrag von Erich Fried:
Unsere Politik ist
wo immer das geht
unsere Politik
nicht Politik zu nennen
Wir sind daher froh
und finden es dankenswert
daß unsere Feinde
Politik eng einschränken wollen
und daß sie Literatur
und Kunst und Allgemeinbildung
als integrierbar
kampflos uns überlassen
Quelle: Erich Fried "Gesammelte Werke", Gedichte 2, Berlin 1993.
Im Gegensatz dazu formuliert
Peter Hacks
Das Problem der gegenwärtigen Propaganda ist, daß man dem Imperialismus,
der mehr Grund zu Vorwürfen bietet als jede Gesellschaftsform sonst,
gar nichts vorwerfen kann:
weil es ihm gelungen ist,
den Leuten alle Kriterien für recht und unrecht,
wahr und falsch,
schön und häßlich
aus den Hirnen zu waschen. Nichts gilt mehr,
und wie argumentieren,
wo nichts gilt?
Das Waschmittel ist der Positivismus,
die Wäscherei das Fernsehen.
(Peter Hacks, 9. Dezember 2000)
Heinrich Heine
Antwort
Es ist der rechte Weg, den du betreten,
Doch in der Zeit magst du dich weidlich irren;
Das sind nicht die Düfte von Muskat und Myrrhen,
Die jüngst aus Deutschland mir verletzend wehten.
Wir dürfen nicht Viktoria trompeten,
So lang noch Säbel tragen unsre Sbirren;
Mich ängstet, wenn die Vipern Liebe girren,
Und Wolf und Esel Freiheitslieder flöten.
Rainer Maria Rilke
Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.
Rainer Maria Rilke,
6.11.1902, Paris
Heinrich Heine: Neue Gedichte
Romanzen
V
Aus einem Briefe
(Die Sonne spricht:)
Was gehn dich meine Blicke an?
Das ist der Sonne gutes Recht,
Sie strahlt auf den Herrn wie auf den Knecht;
Ich strahle, weil ich nicht anders kann.
Was gehn dich meine Blicke an?
Bedenke, was deine Pflichten sind,
Nimm dir ein Weib und mach ein Kind,
Und sei ein deutscher Biedermann.
Ich strahle, weil ich nicht anders kann,
Ich wandle am Himmel wohl auf, wohl ab,
Aus Langeweile guck ich hinab -
Was gehn dich meine Blicke an?
(Chor der Affen:)
Wir Affen, wir Affen,
Wir glotzen und gaffen
Die Sonne an,
Weil sie es doch nicht wehren kann.
(Chor der Frösche:)
Im Wasser, im Wasser,
Da ist es noch nasser
Als auf der Erde,
Und ohne Beschwerde
Erquicken
Wir uns an den Sonnenblicken.
(Chor der Maulwürfe:)
Was doch die Leute Unsinn schwatzen
Von Strahlen und von Sonnenblicken!
Wir fühlen nur ein warmes Jücken,
Und pflegen uns alsdann zu kratzen.
(Ein Glühwurm spricht:)
Wie sich die Sonne wichtig macht,
Mit ihrer kurzen Tagespracht!
So unbescheiden zeig ich mich nicht,
Und bin doch auch ein großes Licht,
In der Nacht, in der Nacht!
weiter Gedichte finden Sie hier: Heinrich Heine
Erich Fried
Angst und Zweifel
Zweifle nicht
an dem
der sagt
er hat Angst
aber hab Angst
vor dem
der dir sagt
er kennt keinen Zweifel
Einer der drei Wünsche
Ich wollte -
die Revolutionen wären wirklich
so revolutionär wie die Konterrevolutionen
konterrevolutionär sind
Zur Sonne, zur Freiheit!
Ich will Freunde haben
so verlässlich wie meine Feinde und Feinde
so unbeholfen
wie viele Genossen und Arbeiter
die soviel
vom Kampf verstehen wie ihre Arbeitgeber Brüder
das wäre der Sieg
hier finden Sie weitere Gedichte von: Erich Fried
Gründe
Gesammelte Gedichte
Arne Kagel
alle lüfte
und alle lüfte zu durcheilen:
die wir gesandte weltenfern,
hier wie zu gast sind, unser stern
uns zwingt und kennt kein weilen.
beschränktheit, raunen taube seelen,
an der wir, hier zu leben, litten:
in fremdbegrenzter welt gestritten
wird eingeschränkt durch uns, befehlen
noch wolln wir kaum.
man bellt
im kleinen raum,
in der beschränktheit seiner welt,
darin nur fressgier treibt und hält,
und erdluft schwer zu atmen fällt,
wenn oftmals gegen kleine, irre
gedanken unterm harten panzer an
zukämpfen gilt. als ganzer mann
erscheint nicht, wer naturgemäß verwirre.
dabei muss aller ziel im reifen
sichtbar schon vor schönheit schwingen,
leichter jedes wort durchklingen,
und nach allen sternen greifen
Peter Hacks
Gebrechlicher Vielvölkerstaat
Gebrechlicher Vielvölkerstaat.
Deutschland. wie soll das enden?
Zwei Welten, die in Rat und Tat
Sich nimmermehr verständen,
Die Ostnation, die Westnation
Ersticken in einem Reiche.
Man spricht die gleiche Sprache schon,
Doch denkt man nicht das Gleiche.
Es überbrückt solch tiefen Riß
Kein Leimen und kein Kleben.
Nur Wut erwächst und Bitternis
Aus dem Zusammenleben.
Entlasse Deutschland, so mein Schluß,
Die trüben Existenzen
Vom Rheinstrom und vom Isarfluß
Aus deinen engen Grenzen.
O laßt sie atmen, laßt sie gehn.
Wir wollen ihnen gönnen.
Daß wir, wenn wir
sie nicht mehr sehn,
Sie wieder mögen können.
Die Selbstbestimmung war ein Ziel,
Ein schwer errungenes.
Zwei heile Länder sind besser
Als ein gesprungenes.
Einwände zur Orphik:
Die Arbeit, das Denken und die Sprache
Die Dummheit, die runde
Sein und Bewusstsein, Wille und Weg
Die Kultur-Frage:
Kontinuität des Kulturbegriffs und die Krasse
Alles muss durch den Kopf - Wo ist da Idealismus?
Präzision ist Kunsthandwerk
Bewusstsein bestimmt zugleich das Sein
Fortschritt und Poesie - Integraler Bestandteil
Die Arbeit, das Denken und die Sprache
Bevor wir uns dem schwersten potentiellen Angriff auf die kommunistische Poetik - dem Idealismus-Vorwurf - zuwenden, soll noch der eine und andere Einwand bearbeitet werden.
Bei der öffentlichen Veranstaltung und dem Einführungsvortrag zum Stück "Orphische Variationen" von Erich Köhler (novum dokumentierte) wurden einige interessierte Nachfragen nach dem Manuskript laut. Es gab auch freundlich-kritische Anmerkungen, die wir nicht übergehen wollen, sondern bewusst hervorheben:
Zunächst wurde kritisiert, dass die zentrale Rolle der Arbeit aus Friedrich Engels Schrift "Vom Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen" unklar sei, da ja der Titel "Anteil an" impliziere, dass da noch anderes im Spiel sein muss. Wir entgegnen: Die Arbeit als Hauptbestandteil der Menschwerdung charakteresiert diese zugleich hauptsächlich. Deswegen muss sie als Hauptmerkmal dieser Phase dienen. "Arbeit zuerst, nach und daran mir ihr die Sprache - das sind die beiden wesentlichsten Antriebe, unter deren Einfluß das Gehirn eines Affen in das bei aller Ähnlichkeit weit größere und vollkommenere eines Menschen allmählich übergegangen ist. Mit der Fortbildung des Gehirns aber ging Hand in Hand die Fortbildung seiner nächsten Werkzeuge, der Sinnesorgane. "
Es bleibt kein Zweifel, dass der Titel "Anteil an" nur das Missverhältnis bezeichnet, das bis dahin zwischen der Funktion und ungenügender Erkenntnis dieser Funktion der Arbeit bestand.
Damit im Zusammenhang eine andere Frage: Ist diese Phase tatsächlich abgeschlossen?
Wer der Ansicht ist, dass die fortgesetzte Veränderung des Menschen durch die veränderten Einflüsse der Arbeit dagegen spricht und meint, der Prozess dauere an, betrachtet die Menschwerdung als unendlich sich ausdehnenden Prozess. Dabei ist ja völlig unsinnig, bei jedem Einfluss und jeder Auswirkung der Arbeit - die es solange gibt, wie es Arbeit überhaupt gibt - noch den Menschwerdungsprozess zu sehen.
Schließlich müsste abstumpfende und verrohende Arbeit, jede verringert bildende Arbeit, Bestandteil dieses Prozesses sein. Aber bleiben wir bei Engels, der zu Recht schreibt:
"Die Arbeit ist die erste Grundbedingung alles menschlichen Lebens, und zwar in einem solchen Grade, dass wir in gewissem Sinne sagen müssen: Sie hat den Menschen selbst geschaffen."
Hier wird etwas bezeichnet, das seinem Wesen nach bereits abgeschlossen ist, weil der Mensch bereits
besteht. Das aber hindert nicht, zu sehen, dass sich auslaufende Unterprozesse noch durch die
Jahrtausende vollziehen".
Th. Waldeck
Die Dummheit, die runde
Skepsis tauchte auch bei der Frage auf, ob Kunst Bewusstsein entwickelt. Den philosophischen Idealismus zu überwinden und die Welt zu erkennen, wie sie ist, geschieht grundsätzlich mit dem Sinn, sie zu verändern. Erfolgreich ist man dabei stets durch Suche, durch Erfahrung und ständiges Selbst-In-Frage-Stellen. Wenden wir uns der Erfahrung zu. Nur auf individuelle Erfahrung zu vertrauen, hilft nicht voran: Diese individuellen Erfahrungen müssen nicht repräsentativ sein und subjektive Befangenheit ist im Erfahrungsprozess hinderlich. Da der Erfahrungsprozess ohne sinnliche Wahrnehmung nicht funktioniert, kristallisiert sich die Kunst als komprimiertes sinnliches Erfahrungsangebot heraus. Zugleich aber vermittelt Kunst abgeschlossene Erkenntnisse verdichtet, die auf logische Weise bis ins Einzelne nie dargelegt werden können. Damit kann sich das Fundament für den nächsthöheren Erkenntnissprung bilden. Das heißt, der Umgang mit der Kunst ist für den, der ihn beherrscht und versteht, der effizientere Weg des Lernens.
"In der Erkenntnistheorie muss man, ebenso wie auf allen anderen Gebieten der Wissenschaft, dialektisch denken, d. h. unsere Erkenntnis nicht für etwas Fertiges und Unveränderliches halten, sondern untersuchen, auf welche Weise das Wissen aus Nichtwissen entsteht, wie unvollkommenes nicht exaktes Wissen, vollkommener und exakter wird. " (Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus)
Die herrschende Klasse schafft mit ihrer niedrigen Moral entsprechende Pseudoangebote. Menschlicher Fortschritt heißt, alles ringsum in Frage stellen zu können - sich selbst zuerst. Somit tritt im Fussballfieber des bedrückenden Sommers 2006 der zivilisatorische Bruch gleich dreifach hervor. Guter Fußball ist Harmonie von Körper und Geist in der Bewegung. Zuerst wird die Kunst jedoch hier zum Selbstzweck betrieben: Das Sinnvakuum wird gefüllt mit Gebrüll. Währenddessen geschieht allerhand: Atomare Verseuchung von Mitteleuropa und der Welt, was rasch anwachsende Krebsraten bewirkt und die Verringerung atembarer Luft. Rascher und stärker auftretende Naturkatastrophen gehen einher mit massenmörderischen Kriegen ums letzte Öl für das Rüstungs- und Energiegeschäft: In Palästina begeht ein kapitalistischer Staat Völkermord. Die Welt sieht zu; aber nicht dem Massaker an den Palästinensern, sondern - dem Fußball. Wenn es der klassenkämpferischen Seite DIESES Fußballs noch eines Beweisese bedurfte: Der Blick wird abgelenkt von der Möglichkeit der Veränderung. Ginge es wirklich um Frieden, müsste es schon lange heißen: UNO nach Israel! Für Hoffnungen des Ausbruchs aus der Logik profitabler Vernichtung der Menschheit stehen nicht nur Kuba, China und Nordkorea. Auch Russland begreift den Zwang zur Kooperation. Venezuela und Bolivien brechen aus dem Teufelskreis der menschenfressenden Markt-Logik aus - auf zur Vernunft. Deren nationale Besonderheiten auf den Fußball reduzieren zu können, freut die Beharrungskräfte: "Der Ball ist rund und Geschäft ist Geschäft..."
Die Diktatur des Kapitals wird nirgends so populär gemacht wie im Profi-Sport und im populären Fußball. Keiner findet es anrüchig, dass hier Menschenhandel passiert, dass Spieler "verkauft" und "gekauft" werden. Aber es ermüdet. Zugleich werden nicht zufällig Millionen "Deutschland-Fahnen" verkauft und als Zeitgeist-Attribut an die Autos der ideologisch Versklavten befohlen. Der Nationalismus ist das altbewährte Mittel, alle Fragen nach dem Räuber Großkapital und dem Verbleib des Raubes in vereinter Vaterlandsliebe zu ertränken, während das Kapital über die nunmehr vaterlandsbesoffenen Gegner lacht.
Rechenhaftigkeit wurde zwar zur neuen Religion. Wer aber dieser überdrüssig ist, kann sich sinnlich am
Nationalismus berauschen, um so auf diese Art seinen Gegnern zu folgen.
Th. Waldeck
Sein und Bewusstsein, Wille und Weg
Der offizielle Kampf gegen Rechtsextremismus folgt nicht ethischen Prinzipien. Diese sind der herrschenden Klasse im Profitstreben unwichtig. Das menschliche Leben hat für sie immer nur kolateralen Charakter und sie spricht: "Rechtsextreme kosten uns Arbeitsplätze, weil nur in einem toleranten Land investiert wird" (SPD-Ministerpräsident Platzeck)"
Mit anderen Worten: Frisch, wenn es Arbeitsplätze bringt, lasst uns andere Länder überfallen, die Jugoslawen bombardieren mit hunderttausenden toten Zivilpersonen und radioaktiver Munition und in Afghanistan einmarschieren, um die Erdgasvorräte ringsum zu sichern, im Sudan Ölnachschub für unsere heimischen Multis zu beschaffen - Lasst uns vor Kriegsverbrechen nicht zurückschrecken, lasst uns so rechtsextrem sein, wie möglich!
Wenn uns die Arbeitslosen mit Demonstrationen lästig werden: Unsere Überwachungs- und Schikanierungsorgane sind doch Arbeitsplätze! Bekanntlich sind auch die Lager schon geplant und der Reichsarbeitsdienst für einen Euro je Stunde Entlohnung unter Androhung physischer Vernichtung ist bereits Praxis.
Das ist das Sein. Es wird Zeit, die philosophische Grundfrage zu qualifizieren. Das Sein schafft primär das Bewusstsein. "Es kommt aber darauf an, sie (die Welt) zu verändern" (MARX)
Eine durchschnittliche Tageszeitung bringt drei "Wirtschaftsseiten" - anzeigenfrei. In der selben Ausgabe sind sechs (6) Sportseiten anzutreffen - ohne störende Anzeigen - und eine einzige Kulturseite, auf der es nicht um Mechanik gehen soll! Diese ist fast ganz mit einer Anzeige ausgefüllt.
Kultur, die im Zeitalter zunehmender Menschheitsvernichtung sich nur noch im Kampf gegen die profitorientierte, vernichtende Klasse äußern kann, hat damit sowenig zu tun wie mit Pornographie. Wo es darum geht, wichtige Felder des Klassenkampfes zu bestimmen, Taktiken festzulegen, die Kampfplanung und -lenkung der KP zu bestimmen und zu präzisieren, bedeutet das, Erfahrungen und Entwicklung des Klassenbewusstseins aufzunehmen und im Ergebnis die Führungsposition zu stärken.
Es gibt zugleich immer eine von der Kommunistischen Partei getrennte Bewusstseinsbildung, die aufgrund mangelnder sozialistischer Orientierung auf halbem Wege stehen bleibt und in eine reaktionäre Richtung gelenkt werden kann, sogar gelenkt werden muss, da in das Führungsvakuum zwangsläufig die unendlich flexiblen Meinungsproduzenten der herrschenden Klasse stoßen. Diese haben die mechanische Stärke derzeit auf ihrer Seite.
Das Problem ist bekannt. Bisher geht die kommunistische Bewegung jeweils von den spezifischen ökonomischen Prozessen des Imperialismus aus. Die erste Prämisse dabei ist: Es bedarf keiner übrigen, weiterreichenden proletarischen Orientierung, da die Entwicklungsstruktur des revolutionären Überganges und der Verteidigung der Macht in Form der Diktatur des Proletariats unstrittig ist. Dazu kommen unzählige neue Erkenntnisse , der revolutionären Kämpfe des zwanzigsten Jahrhunderts.
Die zweite Prämisse ist, dass keine Zeit mit weiterreichenden Planungen zu verschwenden, sondern alle Kraft auf den zerfallenden Imperialismus zurichten sei. Das heißt aber, man entwickelt keinen eigenen Entwurf und ist immer abhängig vom Gegner.
In der Frage der Orientierung begibt man sich auf die Ebene des Determinismus, und übersieht völlig die Erkenntnisprozesse, die sich im Menschen vollziehen. Man kehrt vom dialektischen Materialismus zurück zum mechanischen Materialismus und missachtet die wirksamste Waffe, die man hat: Die menschlichen Wesenskräfte.
("Die Kultur ist der Gradmesser der menschlichen Wesenskräfte" Marx. MEW 1, 541)
Th. Waldeck
Kontinuität des Kulturbegriffs und die Krasse
Ursprünglich galt der Begriff Kultur dem Acker. Er bezeichnte die Pflege des Bodens und (!) dessen fruchtbares Ergebnis.
Behält man "Acker" als entwickelbares Potential von Zivilisation vor Augen, hat sich tatsächlich kein Sinneswandel vollzogen: Die Kultur bleibt unverändert sowohl Bestandteil der Arbeit als auch deren Kriterium. Einzige Bedingung ist eine definierte Richtung, die Höherentwicklung des Menschen, seiner eigenen Natur gemäß. Dies führt im Ergebnis natürlich zur Ausdehnung der Herrschaft des Menschen über die objektiven Prozesse, indem er diese voll-ständiger erkennt und zu nutzen vermag, im Sinne der Erkenntnis und deren Nutzung zu menschlichen Zwecken.
Der marxsche Kulturbegriff sieht Kultur als "Gradmesser der menschlichen Wesenskräfte" (Marx, MEW 1, 541) Diese Richtungsvorgabe ist unverzichtbar, da anderenfalls Kultur als reines Kriterium des Ergebnisses verbliebe. Ein Dilemma, in welchem die jeweils reaktionäre Klasse steckt. Soweit sie fortschrittlich auftritt, entwickelt sie kulturellen Fortschritt. Ab jenem Punkt, da ihr Kampf auf Verhinderung weiteren Fortschritts gerichtet ist, blockiert sie in jedem Punkte die Kultivierung. Hier haben wir den gar nicht so seltenen Fall der zwei Wortbedeutungen. Da die nunmehr reaktionäre Klasse gezwungen ist, ihre geistig rückwärts gewandte Manipulation als Kultur darzustellen, wird für gewöhnlich in Ermangelung eines passenderen Begriffes bei den reaktionären Geist-Entäußerungen von Kultur gesprochen, während diese tatsächlich Kulturverhinderer sind.
Da haben wir nicht nur allerlei Ringelpietz in Film und Literatur. Wir haben auch einen Herrn Krass mit sauertöpfischer Miene die Rolle des Kulturträgers gebend. Nicht nur dessen formale Vergorenheit, das säuerliche Text-Werk, die ungeschickte Sprache, schlimmer: Sein kulturelles Ungeschickt-Sein ganz und gar, aufgefüllt mit Kriegserotik, lassen uns den Scharlatan* genauer betrachten. Diese militaristische Pseudo-Erotik - als "Literatur" in Abwesenheit von Fortschritt der Sprachkultur hat dennoch einen Sinn: Die Deutschen zu verwirren anhand ihrer Geschichte. Auch dazu brauchte er nochmals die Waffen-SS, die er vermittels seiner Autobiographie zu Kapitalzuwachs einsetzt wie weiland der Herr Krupp. Er braucht sie auch, um Durcheinander zu stiften, nicht um zu klären, sondern um zu verdunkeln heraustrommelnd sein Blech. Er ist Bündnis-Partner der herrschenden Klasse. Sein Streben ist stets darauf gerichtet, sich nicht auf die Schliche kommen zu lassen, sowenig wie ihr... Solcher Krasse gibt es Millionen, kleine und große.
Dieser Anti-Kulturkampf, der mittels aller denkbaren Mittel und Medien rückwärtsgewandte Ansichten, Vorstellungen und Ablenkungen in die Massen trägt, ist demnach in Wirklichkeit der reine Klassenkampf hinter der Fassade unpolitischer Ästhetik oder Anti-Ästhetik, sämtlich oberflächlich und formal. Das kulturlose, also unmenschliche Niveau sowohl des öffentlichen als auch des Bezahl-Fernsehens ist kein Zufall. Es folgt nicht aus mangelndem Bewusstsein gegenüber den menschlichen Wesenskräften, sondern im pragmatischen Sinne des Machterhalts GEGEN die weitere Kultivierung. Jede Gesellschaftsformation entwickelt einen eigenen Gradmesser. In dem was gemeinhin unter "Kultur" verstan-den wird, schlagen sich, wie in einem trojanischen Pferde, die herrschenden Eigentumsverhältnisse nieder.
Nehmen wir eine geringere Stufe der Kultur als es die Künste sind, das Essbesteck. In den Zeiten, als das Essbesteck Gemeingut wurde, geriet das kulturelle Wesen der Sache, die Indikation bewusst hygienischer Ernährung, aus dem Blick der herrschenden Klasse zugunsten der Erscheinung, von übertriebenem Zierrat und Vergoldung.
Th. Waldeck
*übernommen
Alles muss durch den Kopf - Wo ist da Idealismus?
Die Äußerlichkeiten wie Zierrat, Vergoldung am Essbesteck, treten an die Stelle des kulturellen Fortschritts und erheben selbst Anspruch, Kultur zu sein - eine glatte Fälschung. Der reifende und erwachende Widerstand der unterdrückten Klassen richtet sich zwangsläufig gegen die "reaktionäre Kultur".
Auf einer anderen Ebene tritt das Problem von Wesen und Erscheinung bei den Maschinenstürmern auf. Die Aktionen gegen Maschinen statt gegen deren Eigentümer verschleißen Kräfte, zeitigen Schaden, und lähmen deshalb letztlich den Widerstand. Das heißt, nun sehen wir eine opportunistische Richtung, die wissenschaftsfremd politisiert, anstatt den Fortschritt zu suchen. Sie richtet sich immer wieder auf Erscheinungen, statt auf das Wesen, sie zieht es vor (überspitzt gesagt) mit den Händen zu essen, da ein Besteck Ausdruck bürgerlicher Dekadenz sei, ohne zu fragen, welchem Sinn das Besteck dient.
Die menschlichen Talente und Anlagen finden eine uneingeschränkte Grundlage erst in der klassenlosen Gesellschaft: Den Übergang in dieses Stadium bildet die sozialistische Kulturrevolution.
Für die Gesellschaft wird dieser Kultursprung erst mit der Beseitigung der Kapitalisten als Klasse beginnen. Die menschlichen Talente und Anlagen kommen aber vollständig in der klassenlosen Gesellschaft zur Entfaltung. Das heißt, ein unüberschaubarer revolutionärer Erkenntnis-Gewinn wird ermöglicht, der einher geht mit dem Aussterben der bisher lebensprägenden menschenfeindlichen Entfremdung der Menschen untereinander und von der Natur.
Für die Gesamtgesellschaft wird dieser Kultursprung nach dem Absterben des Staates, also nach der ersten Phase des Überganges beginnen. In der kommunistischen Bewegung schlägt sich die bewusste allseitige Entwicklung der Schöpferkräfte bereits jetzt nieder.
Für dialektische und historische Materialisten, die diesen Zusammenhang überblicken, liegt auf der Hand, Erneuerung und Entwicklung der Schöpferkräfte schon jetzt einzufordern und dadurch die heutigen systembedingten Grenzen deutlich zu machen. Wenn, vom Marxschen Kulturbegriff ausgehend, kultureller Fortschritt zugleich kommunistische Reifung einschließt, also Stärkung der Bewusstseinskräfte der unterdrückten Klasse, so ist jeder Schritt kommunistischer Bewegung immer eine kulturelle Leistung. Das heißt allerdings auch, dass keine Bewusstseinsentfaltung ohne kulturellen Gehalt geschieht. Dieser Allgemeinplatz wird erst lebendig, wenn er in jeder Situation in jeder Stadt, jeder Straße mit Leben erfüllt wird. Das geschieht, wenn man die Wirkung kultureller Leistung auf Denken und Bewusstsein betrachtet. Zitieren wir dazu kurz Engels, bevor wir ins Detail gehen:
"Zweitens ist es nun aber nicht zu vermeiden, dass alles, was
einen Menschen bewegt, den Durchgang durch seinen Kopf machen muss - sogar Essen und Trinken, das infolge des von vermittelst des Kopfs empfundenen Hunger und Durst begonnen und infolge von ebenfalls vermittelst des Kopfs empfundener Sättigung beendigt wird. Die Einwirkungen der Außenwirkungen der Außenwelt auf den Menschen drücken sich in seinem Kopf aus, spiegeln sich darin als Gefühle, Gedanken, Triebe, Willensbestimmungen, kurz als "ideale Strömungen", und werden in dieser Gestalt zu "idealen Mächten". Wenn nun der Umstand, dass dieser Mensch überhaupt "idealen Strömungen" folgt, und "idealen Mächten" einen Einfluss auf sich zugesteht - wenn dies ihn zum Idealisten macht, so ist jeder einigermaßen normal entwickelte Mensch ein geborner Idealist, und wie kann es da überhaupt noch Materialisten geben." (Engels "Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie")
Th. Waldeck
Präzision ist Kunsthandwerk
Die objektive Kulturstufe bezeichnet das Ergebnis der Schöpfungskraft des Menschen bei konkreten gesellschaftlichen Bedingungen und Herausforderungen unter denen sich diese entfaltet.
Dabei können die Schöpferkräfte durchaus rückwärtsgewandt sein, das heißt, angewendet werden. Die Äußerungen der menschlichen Wesenskräfte sind insofern auch Herrschaftsinstrument der herrschenden Klasse. Damit ist die Kultur der reaktionären Klasse in ihrer Entwicklungsstufe der revolutionären nicht unterlegen, sondern sie ist dieser oft in vielen Fragen überlegen. Da die höher stehende Kultur die niedriger stehende prägten, ist die Revolution stets dann siegreich, wenn sie die höchste Stufe der menschlichen Entwicklungspotentiale und die Stufe des dafür nötigen gesellschaftlichen Rahmens erreicht. Lenin schreibt 1922:
"Die ökonomische Macht, die der proletarische Staat Rußlands in den Händen hat, genügt vollauf, um den Übergang zum Kommunismus zu sichern. Woran also mangelt es? Es liegt klar auf der Hand, woran es mangelt: Es mangelt der Schicht von Kommunisten, die leitende Funktionen in der Verwaltung ausüben, an Kultur. "*
Die Regel gilt überall, auch für den revolutionären Aufruf, die Propaganda - und selbstverständlich für die Organisation. Das heißt, sie gilt überall, wo es etwas zu tun gilt, um es so wirksam, so zielgenau wie nur möglich zu tun. Bekanntlich kann etwas Halbgetanes, schlecht Getanes größeren Schaden bedeuten, als wäre es ausgeblieben.
Die artikulierten Schöpferkräfte in Rückwirkung auf Bewusstsein kommen in der erklärten Kunst, der literarischen Prosa, der Malerei, der Musik zum Tragen, aber eben auch im gekonnten Organisieren, und beides passiert im Kampf. Ohne diese Artikulation und Konzentration der menschlichen Schöpferkräfte
auf ALLE Felder wird der Kampf verloren.
Bei Bildender, Angewandter, Darstellender Kunst ist die Verwurzelung in der Reflexion der Welt und Sinnklärung eigener Existenz sehen. Nicht im Bestreben, aus dem Kreis der materiell unmittelbar notwendigen Existenzsicherung herauszutreten, liegt die Motivation des frühen Künstlers. Weil er die Möglichkeit hat, herauszutreten, strebt er nach Befriedigung durch Erkenntnisfortschritt im Austausch mit seinem Rezipienten. Indem er eine verdichtete Aussage einer komplexen Ansicht als Kommunikationsgrundlage anbietet, tritt er sofort in die Selbstprüfung.
Erfahrung führt zu Bewusstsein. Die innerlich durch Reflexion der Außenwelt gesammelte Erfahrung wird selbst zur Außenwelt und wirkt dadurch wieder auf das Innere des Menschen ein. Gemeinsame Klassenerfahrung führt zu gemeinsamem Klassenbewusstsein. Erfahrenheiten werden exemplarisch ergänzt zu Verständnisketten. Es erfolgt die Vervollständigung unterschiedlicher Erfahrungen zu zusammenhängender Erkenntnis. Kunsterlebnis kann zu Erkenntniszuwachs bei jeder überzeugenden Darstellung und Vermittlung führen.
Genauso kommt es durch willkürliche, unsortierte Vermittlung von Erfahrungsfragmenten zur verzerrten Wahrnehmung im Kopf des Menschen. Deshalb ist Grundlage der höchsten Kulturstufe die philosophische Wahrheit.
Im Faschismus werden Klassenerfahrungen aufgegriffen und demagogisch falsch erklärt - unter Zuhilfenahme einzelner Mittel der Kunst, so dass ein geschickt gedrehter Goebbelsscher Propagandafilm den höchsten menschlichen Schöpferkräften zwar entsprechen kann, aber nur im handwerklichen Bereich, da ihm die Grundlage der philosophischen Wahrheit fehlt.
Th. Waldeck
* Lenin, Werke Bd. 33, 275
Bewusstsein bestimmt zugleich das Sein
Die Kulturfrage -Folge 5
Alles, was durch den Kopf des Menschen geht, bewegt diesen. Zugleich sind seine Handlungen messbar an den geselischaflichen Bedürfnissen.
Aber sie sind immer Ergebnis dessen, was vorher durch seinen Kopf ging. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Scheinbare Umkehrung ist der Satz: Das Bewusstsein bestimmt das Sein. Tatsächlich ist diese Aussage nicht philosophisch dessen Gegenteil. Beides bildet eine funktionelle Einheit.
Marx und Engels haben immer daran gewirkt, auch unmittelbar politisch wirksam zu sein. Sie waren sowohl Philosophen als auch Veränderer der Welt. Damit waren die Erfahrungen der aktuellen Kämpfe wertvoll.
Im Augenblick der heißen Schlacht des philosophischen Materialismus gegen den philosophischen Idealismus konnte die primäre Bewusstseinsrolle nur zurückhaltend bewertet werden, um erkenntnistheoretisch die grundsätzlich primäre Bedeutung des Seins zu verankern. Die Objektivität, das Wirken von Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung, galt es zu vertreten. In diesem grundlegenden philosophischen Streit war unbedingt der Sieg zu erringen. Denn dieser ist der Boden für die bewusste Veränderung der Welt und Orientierung der Arbeiterklasse im Streit der Klassenkräfte. Dieser Kampf vereinte seinerzeit auch dialektischen und mechanischen Materialismus in der politischen Wirkung. Philosophisch gibt es kaum Berührung. In der politischen Einflussnahme bildet die Einheit den Humus für die Niederringung des modernisierten und verhüllten Idealismus. Gesetzmäßig trat die Beachtung der anderen Seite zurück: Die Ausprägung des Seins durch das Bewusstsein, die unabdingbarer Bestandteil revolutionärer Bewegung ist.
Im Moment sich drastisch verschärfenden Widerspruchs zwischen den Produktionsverhältnissen und Produktivkräften begann die sozialistische Revolution zu keimen. Die Arbeiterbewegung wuchs rasch, bedingt durch die Verelendung. Das war die Gelegenheit für den schon halb überwundenen mechanischen Materialismus und den metaphysischen Materialismus, wieder das Haupt zu erheben.
Unter der Flagge des Kampfes gegen den Idealismus von gestern, zogen und ziehen sie nun gegen die materialistisch-dialektische Anerkennung ideeller Triebkräfte.
Ihre Verfechter übersehen dabei, dass sie selbst idealistisch vorgehen, d. h. "ihr Tun aus ihrem Denken erklären, statt aus ihren Bedürfnissen",* die dabei im Kopf sich widerspiegeln, zum Bewusstsein kommen.
Der Idealismus sieht die Realität ohne Gedanken als unmöglich, so wie der Gedanke ohne Realität nicht vorstellbar ist.
Der Gedanke basiert zwar immer auf der Realität, aber aus einer unübersehbar zusammengesetzten Realität, die im Einzelnen vollständig nicht erfassbar ist, so dass jeder Eindruck sich als Extrakt unübersehbar vieler Einflüsse herausbildet. Dieser Extrakt stimmt genauso wenig mit dem jedes anderen Menschen überein wie überhaupt niemand mit einem anderen übereinstimmt. Zwischen den Erfahrungen zweier Menschen, gibt es unzählige Unterschiede. Dennoch stimmen viele grundlegende Erfahrungen einer Gruppe von Menschen mit vergleichbaren Lebensumständen überein. Die Angehörigen einer Klasse ziehen gleiche Erfahrungen aus ihrer Stellung zu den Produktionsmitteln. Aber im Alltag jedes einzelnen Angehörigen dieser Klasse und seinen besonderen Einzelerfahrungen gibt es unzählige Besonderheiten. Beides; die verbindenden wie die trennenden Erfahrungen innerhalb einer Klasse, haben Auswirkungen auf ihr Bewusstsein.
T. Waldeck
* Engels "Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen"
(M./E. Werke, Bd. 20. S. 444)
Fortschritt und Poesie - Integraler Bestandteil
Im Alltag jedes Klassenangehörigen gibt es unzählige individuelle Einzelerfahrungen, die mit anderen nicht übereinstimmen. Diese individuellen Erfahrungen prägen in ihrer Verschiedenheit die Gesamt-Erfahrung teils stärker, teils schwächer. Teils überlagern sie gemeinschaftliche Erkenntnisse.
Je nach Klassenbefürfnis werden die gemeinsamen Erfahrungen so bedeutsam, dass alles weitere zurücktritt. Klassenbewusstein entsteht. Aber die individuelle Verschiedenartigkeit der Erfahrung wird durch die Kultur der Bourgeoisie geschickt ausgenutzt. So agieren in Literatur und Film hauptsächlich Individuen und keine Kollektive. Zumeist stehen sie obendrein gegeneinander im Kampf oder in Behauptung ihrer Individualität.
Daraus ergeben sich Fragen: Wie kann die Gemeinsamkeit durch Verbindung verwandter individueller Erfahrungen gestärkt werden? Wie wird die Verschiedenartigkeit individueller Erfahrung in der Wahrnehmung der ausgebeuteten Klasse zurückgedrängt? Um die gemeinsamen Erfahrungen als verbindend sichtbar zu machen, wendet man sich an ein einziges Subjekt: Das Individuum. Die Erkenntnis, dass individuelle Einzelerfahrungen schwächen, indem sie Klassenerfahrungen überlagern ist individueller Ausgangspunkt, um Erfahrungen, soweit sie ihrer Natur nach offensichtlich dem Charakter der eigenen entsprechen, mit der eigenen zu ergänzen.
Das offfenkundig übereinstimmende Moment ist demnach die Voraussetzung für ein bereitwilliges Übernehmen der mitgeteilten Erfahrungen.
Der Mensch, der eine Weinflasche und ein Weinglas vor sich sieht, sofern sein Geschmackssinn des Weins kundig, verbindet mit dem Öffnen der Flasche und dem Füllen des Glases erfahrenen Genuss. Darum wird er diesen Genuss auskosten; nicht die offene Flasche an die Lippen setzen, sondern das Glas füllen. Die Erfahrung lehrt ihn, dass der Geschmack des Weines dem Glas als Trinkgefäß angemessen ist. Es macht ihn sichtbar und erfüllt die sinnliche Wahrnehmung durch den Geruch, was Genuss hervorruft und die Freude steigert.
Dies ist verbreitete und übereinstimmende Erfahrung weintrinkender Menschen. Wenn wir nun die Qualität des Eigentlichen, nämlich des Weines, betrachten wollen, brauchen wir nicht über Gläser nachzudenken; aber nur deswegen, weil alle Betreffenden, wenn es zur Sache (dem Trinken) kommt, ausnahmslos ein Weinglas benutzen werden. Wie günstig! Und wie schade, dass es nicht um den Wein geht!
Das Glas ist zugleich Bestandteil des Erfahrens, leitet zu diesem hin und über. Das Glas ist dabei gemeinsame Basis für die vergleichende Erfahrung. Wenn ein Weinvertreter einen Pappbecher oder Strohhalm darbietet, verkauft er schlecht, wenngleich er denkt,
sein Wein sei so gut, dass er auch in dieser Form erfolgreich ist.
Was heißt es, wenn man gesellschaftliche Erfahrungen unendlich vielfältig transformieren, also allgemein kompatibel oder vergleichbar machen will? Es heißt, die Gemeinsamkeit zu vermitteln, möglichst aber so, dass des Hörers oder Lesers Interesse durch die +Berufung+ auf die Gemeinsamkeit nicht von der Gemeinsamkeit selbst abgelenkt wird! Es besteht die Notwendigkeit, möglichst #viel# "Berufung" zu geben, +ohne+ diese deutlich zu machen, was nichts weiter heißt, als sie zu verdichten.
Das ist Sache und Beruf der Dichter, also einzelner, die natürlich einen Klassenauftrag haben. Das heißt für uns, die gegnerischen Verdichter zu überwinden, selbst kompetent zu werden. Poesie ist Bedingung für Stärkung. Unsere Form ist nicht beliebig, sondern notwendige Bedingung für erfolgreiche Mitteilung und damit selbstverständlich zugleich Inhalt. Thomas Waldeck