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Hinter den Bergen

 

Der Krott

 

Buchhülle Schatzsucher

 

Hartmut und Joana

 

 

"Geht es an, eine Zukunft ins Blick­feld zu rücken, deren Züge im einzelnen noch gar nicht klar sind und auf der an­dererseits bestanden wird? Auf einem jedenfalls besteht Köhler nachdrücklich: Zukunft heißt Kommunismus. Die Frage nach der Legitimität von Entwürfen die­ser zukünftigen Gesellschaft, die auch utopische Momente enthalten, wäre zu simpel beantwortet, würden wir in sol­chen Entwürfen den unver­bindlichen Spiel­platz folgen­loser Phantasie, schöner Wunsch­bilder in der Kunst sehen."   (Karin Hirdina)

aus:    SINN UND FORM    2. Heft (03/04)   1978

Zukunft heißt Kommunismus

von Karin Hirdina

Erich Köhler - ein Autor, um dessen Werke es keine großen Literaturdiskus­sionen gegeben hat, die unspektakulär den Buchhandel durchliefen, die bespro­chen wurden. Positiv im allgemeinen. Nichts Aufregendes? Zwei Romane lie­gen bisher vor: Schatzsucher (1964), Hinter den Bergen (1976). Ein Erzäh­lungsband: Nils Harland (1968). Der Krott oder das Ding unterm Hut (1976). Theater­stücke. Kinder­bücher. Nicht so wenig also, daß Quantität öffentliche Zu­rückhaltung erklären würde. Die Quali­tät also? Was schreibt Erich Köhler, worüber, wie? Fragen wir zunächst die Lexika. Die Auskünfte ähneln sich. Bei­spiel: Meyers Taschenlexikon Schrift­steller der DDR. Leipzig 1974.

Der Krott
oder Das Ding unterm Hut
,
VEB Hinstorff Verlag Rostock 1976
Hinter den Bergen,
VEB Hinstorff Verlag Rostock 1976.

"Köhler, Erich, geb. 28.12.1928 Karls­bad, Erzähler. Sohn eines Porzellan­schleifers, war nach nicht abgeschlosse­ner Bäcker-, Schneider-, und Malerlehre u. a. Landarbeiter in Mecklenburg; er trampte durch Westdeutschland und Holland und kehrte 1950 in die DDR zurück; arbeitete bei der Wismut-AG un­ter Tage und ging wieder als Land­ar­beiter nach Mecklenburg; 1958/61 Stu­dium am Institut für Literatur Johannes R. Becher` in Leipzig; lebt in Alt Zau­che (Kr. Lübben); erhielt 1964 den Lite­ratur­preis des FDGB. Im Zentrum des erzählerischen Werks von K. stehen Probleme, die aus der sozialistischen Um­gestaltung der Landwirtschaft resultie­ren. Bereits seine erste Erzählung 'Das Pferd und sein Herr' (1956) - sie zeigt den Wandel der Menschen auf dem Lande und bezeugt die immer wieder anklingende Tier­liebe K.s - machte auch durch ihre stilistische Formung nachdrücklich auf den Autor aufmerk­sam. In dem handlungs­reichen Roman 'Schatzsucher' (1964) schildert K., aus reichen persönlichen Erfahrungen schöp­fend und stets auf der Suche nach neuen Ausdrucks­mitteln, bild­kräftig und origi­nell den Kampf um neue Produktions­methoden; lebendig und phantasie­voll gezeichnete Genossen­schafts­bauern mit ihren moralischen und politischen Kon­flikten beherrschen das Geschehen, in dem sich das Ent­stehen ländlicher Koopera­tions­gemein­schaften ankündigt. In dem symbol­trächtigen Stück 'Der Geist von Cranitz' (U. 1972) versuchte K., teils mit grotesken Mitteln, teils in mär­chen­hafter Gestalt, die gesell­schaft­liche Um­wälzung auf dem Lande mit Proble­men der Kulturrevolution in Verbin­dung zu bringen."

"Handlungsreich", "bildkräftig", "origi­nell", "Probleme, die aus der sozialisti­schen Umge­staltung der Land­wirtschaft resultieren", "Tierliebe" - wird in die­sen Attri­buten etwas von dem sicht­bar, was Köhlers Werk ausmacht? Sie legen nahe, seine Erzäh­lungen und Romane zu lesen als Chroni­ken und Illustrationen zur soziali­stischen Umge­staltung der Land­wirtschaft, zu den auf den verschie­denen Partei­tagen formulier­ten Haupt­aufgaben, zur Diskus­sion um Wesen und Perspek­tive des realen Sozialismus.

Dann wäre die relative Echo­losigkeit der Erzählungen und Romane verständlich, denn Illustrationen regen nur selten auf oder an zu öffentlicher Verständigung. Man könnte Köhlers Werke so lesen - wenn sie nicht so gut und das heißt et­was ganz anderes wären. Für mich ge­hören sie - besonders "Hinter den Ber­gen" - zu den seltenen Werken, über die deshalb so schwer zu reden ist, weil sie so seltene Glücks­fälle sind. Auf so selbst­verständliche Weise gelungen und glücklich machend. Der sowjetische Film "Leuchte mein Stern, leuchte" war in den letzten Jahren ein besonders eindrucks­volles Beispiel für diese Glücks­fälle. Fel­linis "Amarcord" gehört dazu oder Wellms "Pugowitza". Es sind poeti­sche Werke - "bildkräftig" sagt das Lexi­kon. Was aber heißt das für Köhlers Prosa? - Die Theater­stücke, vor allem "Der Geist von Cranitz", sollen im fol­genden ausgeklammert bleiben, haben sie doch noch keine adäquate theatrali­sche Verwirk­lichung gefunden. Der Geist dieser Stücke aber ist der gleiche wie der der Erzäh­lungen und Romane. Ihm soll nachge­gangen werden. Vielleicht läßt sich dann auch erklären, warum Köhler zu den "Stillen im Lande" gehört, zu denen, die nicht im Vordergrund litera­tur­kritischer, öffentlicher Aufmerk­sam­keit stehen. Ich kenne Erich Köhler nicht, weiß nicht, ob ihn dieser Zustand be­rührt, kalt läßt oder beun­ruhigt, viel­leicht schmerzt. Mich beun­ruhigt er, weist er doch darauf hin, daß wir nicht so genau wissen, wovon gegen­wärtig öf­fentliche Resonanz von Büchern abhängt. Worüber reden Leute, wenn sie über Litera­tur reden? Vor allem wohl über sich selbst, über ihre Erfah­rungen, Wunsch­bilder, Empfind­lich­keiten, Ziele, über Verdräng­tes auch. Alle Literatur­dis­kussionen weisen es aus - jüngst An­nemarie Auers Pamphlet zu Christa Wolfs "Kindheitsmuster" (Sinn und Form, 4/1977). Unüberhörbar dabei: der Ton des Getroffen­seins und der Wunsch, dies abzustreiten. Christa Wolfs Buch hat viele getroffen; andere Bücher, über die öffent­lich gestritten wurde, hat­ten getroffen, was dann einge­standen oder auch bestritten wurde. Trifft Köh­ler uns nicht? Was also schreibt er?

Sein allgemeiner Gegen­stand ist natür­lich nicht die sozia­listische Umge­staltung der Land­wirtschaft, wohl aber die Le­bens­proble­matik jener, die von der Um­ge­staltung dieser Gesell­schaft betroffen waren, sie durch­geführt haben - mit unterschied­lichen Motiven und persön­lichen Ziel­vor­stellungen. Dies vor allem scheint mir sein Thema zu sein - wie gesell­schaft­licher Fort­schritt in unserer ur­eigen­sten Geschichte zustande kam und wie, woran er zu messen ist. Dieses Maß befragt Köhler in seinen Büchern in verschie­denen Motiven: im Verhält­nis von Natur und industriali­sierter Um­welt, im Motiv der Schatz­suche, des Ei­gentümer­bewußt­seins, materieller Stimuli, des ent­wickelten Konsums und Ge­nusses, im Verhältnis von Kollek­tivität und Eigen­nutz. Diese Motive durchzie­hen - neben anderen - "Schatz­sucher", "Krott", "Hinter den Bergen". Stofflich kommt neben der dörf­lichen Sphäre die Armee vor - je eine der Hauptfiguren in "Schatz­sucher" und "Hinter den Ber­gen" meldet sich in den fünfziger Jahren freiwillig zum Dienst in der Armee -, und "Krott" schließlich ist in einem in­dustri­ellen Groß­betrieb, einem Kraft­werk, ange­siedelt, das auf der Wiese ent­stand. Zentrales Motiv aber dieser drei Werke - wie schon ansatz­weise in der früheren Erzählung "Nils Harland" - scheint mir das Gewicht des Utopi­schen in unseren Vorstel­lungen von der Zu­kunft zu sein. Nun haben wir uns im theore­tischen Bewußt­sein, dem program­matischen Titel von Engels: "Die Ent­wicklung des Sozialis­mus von der Uto­pie zur Wissen­schaft" folgend, längst dar­an gewöhnt, Utopie als etwas Suspektes anzusehen. Als vorwissen­schaftliche und inadäquate Bewußt­seins­form. Im alltäg­lichen Sprach­gebrauch ist Utopi­sches so etwa dasselbe wie Illusio­nistisches oder auch einfach Unrea­listisches. Welche Ge­halte kann dann Köhler mit diesem Mo­tiv überhaupt entfalten?

"Schatzsucher", "Der Krott" und "Hinter den Bergen" enthalten - jeweils ver­schieden deutlich ausgemalt, unterschied­lich auch mit dem erzählten Gesche­hen verknüpft - utopische Entwürfe. Ent­würfe, denen eines gemein­sam ist. Sie meinen Kommunis­mus. Eine Gesell­schaft, die vor allem durch "bargeldlose Leistung" (Erich Köhler) bestimmt ist, durch Harmo­nie zwischen Mensch und Natur, durch Abwesenheit von Egois­mus.

Heinrich Ramm in "Schatzsucher" strebt nach der schnellen, möglichst sofortigen Über­windung privatistischen Denkens. Er versucht dies konsequent vorzu­leben - verzichtet auf die private Neben­wirt­schaft, bis seine Frau gegen seinen Wil­len die private Kuh in den privaten Stall einstellt. Ramm aber hält sein Ziel für real - jetzt sofort. Nur: Die Menschen um ihn stehen dem entgegen, sie sind "Schatzsucher", wollen die Berei­cherung, das gute Leben, den guten Verdienst - bei guter Arbeit oder auch ohne sie. Statt des Ideals treibt sie das Geld. Des­halb wendet sich Ramm von ihnen ab. "Nein, ich habe mir diese Bauern ganz anders vorgestellt, ehrlicher, stärker, größer in allem, mann­hafter selbst im Wider­stand. Und nun dieser Klein­kram. Brauchst mir keine Predigt zu halten. Theoretisch ist mir alles klar. Aber das Herz, das macht nicht mit. Ich brauche nur einen zu sehen, wie es rechnet und tüftelt hinter seiner Stirn, da krampft sich bei mir alles zusammen."

Ja, theoretisch wissen wir das alle, seit wir Lenin gelesen haben - der Sozialis­mus wird aufgebaut mit den und durch die Menschen, die der Kapita­lismus ge­formt hat. Also ist Ramm ein Spinner, einfach ein emotional Unein­sichtiger? Einer, der Realitäts­sinn durch utopi­sches Wollen ersetzt? Ein menschen­verachten­der Sonder­ling schließ­lich?

Antipode scheint der ihn als LPG-Vor­sitzender ablösende Pflock zu sein" Die Namen: wie bei Strittmatter Kurz­cha­rakteristik der Personen. Pflock, der sta­bile Realist, kein Träumer, der nach vorne prescht, einer, der das Nötige schritt­weise anpackt - ob das Melker­problem oder die Agitation in Langs­bach.

Zwischen Ramm und Pflock steht der Instrukteur Eisen­kolb, eisernes Büffel­chen genannt, vermittelnd, zu Kompro­missen bereit - auch mit dem Pfarrer -, wenn die Sache es erfordert, ge­schickt Ramms wie Pflocks Natur nut­zend, ein wenig zu ausgewogen, weise und gut schon - was in Köhlers späte­ren Geschichten nicht mehr vorkommt. Eisenkolb weiß viel, er relativiert Ex­treme, vor allem die Rammschen: "Du suchst Gold, glaub's nur, reines Gold. Dieser edle Stoff kommt aber nur selten gediegen vor. Man muß ihn heraus­wa­schen aus dem Sand, heraus­schmelzen aus dem Quarz, gewinnen aus Bergen tauben Gesteins. So ist das auch beim Menschen. So ein Körnchen Gold zu för­dern, beim Menschen, du, das kostet Ge­duld und Arbeit" - Solche Art Lehr­sätze werden in Köhlers späteren Wer­ken nicht mehr stehen, und wenn doch, dann als ein Mittel ironi­scher Relati­vie­rung sich all­wissend oder allzu weise ge­bender Personen. - Aber auch hier wird Köhlers wirklich dialek­tisches und ge­rechtes Erzählen bereits deutlich. So ein­deutig, wie die Figuren einge­führt wer­den, bleiben sie nicht: Der anschei­nend nur pragma­tisch beharrende Pflock entwirft eine Konzep­tion beacht­licher Dimension für Kurzbach/­Langsbach, die, klug angegangen, schließlich realisiert wird. "In einem weiteren Jahr, verstehst du, plagt sich kein Mensch mehr mit der indivi­duellen Wirt­schaft herum. Was Ramm, der Dussel, andauernd vom Men­schen verlangt, dafür schaffen wir jetzt die Voraussetzung."

Ramm existiert schließlich mit der pri­vaten Neben­wirtschaft, trinkt die Milch der privaten Kuh. Das Un­aus­weichliche erreicht hinter seinem Rücken auch ihn. Und er, der menschen­verachtende Ramm, malt das Porträt des Kommunisten Mal­terer, des im Konzentra­tions­lager ermor­deten ersten Mannes seiner Frau. Ange­sichts dieses Bildes formieren sich die Langs­bacher zur Brigade Malterer. Und der vermittelnde, alles über­schauende Eisen­kolb? Er hat schließlich wenig Ei­genes, wird blasser, je kräftiger die an­deren werden. Die anfangs einge­führte Rolle einzelner wandelt sich.

Was leistet Ramms ungeduldiges Wol­len? Wenig, denn wirksam werden Pflocks Konzeption und Eisen­kolbs ge­schicktes Instruieren. Utopi­sches Wollen scheint sehr leicht widerlegt, denunziert durch das Handeln derjenigen, die zwar nicht sofort den Kommu­nismus errich­ten können, aber historischen Fort­schritt in Richt­ung auf ihn durch­setzen. Aber so einfach ist bereits in diesem Buch Köhlers die Frage nach Wert oder Un­wert von Utopie nicht beant­wortet. Ramms utopisches Wollen leistet viel: Es bestimmt das Maß seiner kritischen Sicht auf das Erreichte, das ihm gleich­zeitig Maß maleri­scher Gestal­tung ist. Ramm malt die Langs­bacher und die Kurz­bacher Drusch­plätze in ÖI und hängt das Gemälde ans Schwarze Brett in Kurz­bach. Was sehen die Bauern? Den Drusch­platz im genossen­schaftlichen Kurz­bach: "Die ganze Anlage war so ge­staltet, daß jeden, dem die Spiel­freudig­keit des Kindes noch nicht ganz abhan­den gekommen war, Lust anwan­delte mitzu­spielen. Es war offen­kundig: hier machte das Dreschen, eine der schwer­sten länd­lichen Arbeiten, Spaß ... Anders Langs­bach! Hier sprang dem Betrachter ein wüstes Durch­einander von Spreu, Sieb­kaff, Stroh und Getreide­mieten der verschie­densten Formen und Größen ins Auge." Das Ergebnis: "Bald verbreitete es sich im ganzen Dorf: Die Langs­ba­cher sind blamiert'." Dies ist der letzte Anstoß für reales Geschehen - in Langs­bach wird die LPG gegründet.

Ramm malt, was er sieht, aber er sieht keine Menschen. "Oder soll ich vielleicht die Frei­arbeiter malen, deren Anblick mir schon ein Würgen in der Kehle ver­ursacht? Oder diese krimi­nellen Prämien­jäger, die kalt­schnäuzig alles ver­derben lassen, wenn keine bare Münze dabei herausspringt? Oder die Bauern, die sich jetzt schon wieder überlegen, ob sie in der Genossen­schaft den Staat nicht noch besser betrügen können als zuvor? Ich sehe überall nur Eigen­tümer, Besitzer, Drücke­berger, Narren, Spitz­buben - Schatz­sucher! Und ihre Gesichter! Ver­logen, hämisch, höhnisch, tückisch, bru­tal, stumpf, über­heblich, aal­glatt, arro­gant, verbohrt, feind­selig - Visagen. - Wie soll ich da Menschen malen?" Schließlich malt er den Kommunisten Malterer, versucht, sich von allen Men­schen seiner Umgebung zurückziehend, mit diesem Bild - alle seine Ideale vom wahren Menschen mitzuteilen. Das fer­tige Bild behält seinen Betrachter im Auge, ist geeignet, ihm Gewissen zu sein, mahnt ihn, das Ziel nicht zu vergessen. Das Bild ist die Ursache für Ramms Tod: Der Agent des Klassen­feindes tö­tet ihn. Entschlossen, den gefährlich­sten Mann umzu­bringen, den, der der Wie­der­her­stellung der alten Zustände am meisten entgegen­gewirkt hat, hatte er sich so­eben noch für Eisen­kolb entschie­den. Nun, nachdem er die Ent­hüllung von Malterers Porträt und die Verpflich­tung der Bauern vor ihm erlebt hat, tötet er Ramm. Zumindest im Kopf des Klassen­feindes hat sich die Bedeu­tung der Personen umgekehrt.

So stellt sich her: eine enge Verbin­dung von utopi­schem Entwurf und Kunst. Die Kunst gewinnt ihre Kraft aus dem Fest­halten am Ideal. Was bezogen auf die gesellschaft­lichen Zustände Utopie war und versagte, gerinnt in der Kunst zum unverzicht­baren Maß­stab und Spie­gel. Dies ist in "Schatz­sucher" als Motiv kräftig angegangen - zu kräftig und ein­deutig wohl. Auflösung des Gegen­satzes von Utopie und Wirklich­keit durch Über­schätzung der Kunst, restloses Ver­drängen der Utopie aus den handlungs­bestimmen­den Motiven ins Reich der Kunst. Dies ist anders in Köhlers vor­erst letztem Roman "Hinter den Ber­gen". Dazwischen liegt "Der Krott oder das Ding unterm Hut". Nicht nur zeit­lich.

"Der Krott" enthält im Titel keine Gen­re­be­zeichnung, ist aber wohl eher eine Erzählung als ein "kleiner Roman". Im Unterschied zu "Schatzsucher" und "Hinter den Bergen" mit jeweils viel­fältigem Figuren­ensemble, chronik­artiger Erzähl­haltung bestimmt hier eine Figur - Paul Jordan - die Erzählung: Er ist es, der träumt, der wahrnimmt, der erlebt.

Paul Jordan ist Kultur­ver­antwortlicher in der BGL eines Kraftwerks. Die Er­zähl­ung beginnt mit einer geträum­ten Vision: der Vision einer paradie­sischen Land­schaft, in der Natur, Mensch und Tier in unge­trübter Harmonie miteinan­der leben. Den wilden Tieren wurde mittels Auslese ein Verhaltens­programm antrai­niert, in dem der Mensch als Beu­te­objekt fehlt. Und die Menschen wer­den mit immunisie­rendem Balsam gesalbt und von früh an in Tier­psycho­logie geschult. "Alle Verwaltung ist dar­auf abge­sehen, die Natur zu wahren und zu mehren". "Dies ist das Land, wo Milch und Honig fließt." - Eine Utopie im verbrei­tetsten, schlich­testen Sinne - Schlaraffen­land, Illusion, unrealisti­scher Traum. Nun haben Utopie­bildungen in der Geschichte und erst recht in der Kunst immer etwas mit der Realität zu tun - als Gegen­bild, als positive, sei es auch illusio­näre, Aufhe­bung konkreter Mängel, empfundener Miß­stände der Wirklich­keit. Warum träumt im "Krott" Paul Jordan ein natürliches Paradies? Wozu dieses Gegenbild "vollendeter Harmonie"? Warum der Wunsch: "Zeigt mir den Platz, das Plätzchen, für das nicht Voraus­setzung, Bedingung, Wi­der­spruch gilt. Ein, zwei Prä­missen müs­sen schon erlaubt sein, will man eine Mensch­heit träumen, deren Arten­egois­mus sich nicht im materiellen Ver­brauch der Natur erschöpft, sondern sich viel­mehr zur Anschau­ung all ihrer Formen verfeinert hat." Verfei­nerte Anschau­ung statt des materiellen Ver­brauchs der Na­tur, so die erträumte Alter­native, für die - so ist zu vermuten - die Ursache in Paul Jordans täglich erlebter Umwelt liegt.

Bereits wenige Seiten weiter wird der Traum konfrontiert mit den "Erforder­nissen des Tages": "... Energie, spezi­fische Wärme­ver­brauchs­werte, techni­sche Wirkungs­grade, Material­ver­brauchs­normen, Leistungs­kurven. Alles, was damit nicht unmittel­bar zu tun hat, erscheint als schwächlich, abwegig, fast verdäch­tig." Gemessen an den Erforder­nissen des Tages erscheint Jordan nicht nur sein Traum schwächlich, fast verdächtig, sondern auch seine eigene Tätigkeit. Ist das Ziel der Kultur­arbeit, der sozialisti­schen Kultur­revolution - Bedingungen für die Entwick­lung sozialistischer Per­sön­lichkeiten zu schaffen - ein utopi­scher Traum? Die Gleich­setzung des Nacht­traums und der Rolle von Jordans täglicher Arbeit legt diese Frage indirekt nahe - noch bevor Jordan von dem ominösen Krott befallen wird, der ihn geistig verwirrt und das heißt zunächst: ihn Ungewohntes und (leider) für den Kultur­funktionär Unge­wöhnliches tun läßt. Jordan legt provo­kativ eine Schau­fenster­puppe in eine der gläser­nen Vi­trinen auf dem gläser­nen Platz. Denn: "... ein siebenfaches Nichts in Scheiben­schreinen" scheint ihm Nicht­achtung de­rer, die an sieben Wochen­tagen im Kraftwerk mit der Natur ringen. Jordan geht "vor Ort", d. h. in die Werk­hallen. Er weckt mitten in der Nacht seine Toch­ter. Er hört imaginäre Gespräche über Kunst. Überall sucht er den Sinn seiner Arbeit, der Kultur­arbeit. Was erfährt er? Zunächst erlebt er die Bedingungen, auf die Kultur­arbeit trifft. Schwere Arbeits­bedingungen, unter denen die Kollegen Werk­tätigen arbeiten müssen. Schwere Schinderei, Verletzung der Arbeits­schutz­bestimmungen auch. Statt mit den Ar­beitern ins Gespräch über Kultur zu kommen, findet sich Jordan plötzlich in unge­wohnter Lage: "Ich liege mit dem Rücken auf dem Trommelboden und stemme mit beiden Füßen, das erlaubt die rationellste Kraftentfaltung, dieses sogenannte Leitblech, vier Meter lang, etwa dreißig Zentimeter breit, minde­stens anderthalb Zentner schwer, gegen die Halterung. Die Angst um meine Knochen verleiht mir ungeahnte Kräfte. Kollege ZRB versucht die Schiene mit­tels Bolzen zu befestigen. . . . Das dauert und dauert. . . . Mein feuerfester Arbeits­schutzanzug klebt wie ein nasser Sack am Leibe. Schaum tritt vor die Lippen, vermischt mit salpetrigem Kohlenstaub. Und ZRB fummelt. Nein, er tückscht dabei nicht mir zum Fleiß ... So ist das nicht. Nur ist es eben fraglich, ob das der rechte Weg ist, mit Werktätigen ins Gespräch zu kommen." Nein, es ist der rechte Weg nicht und auch nicht die rechte Lage. Und doch beneidet Jordan die, die hier schuften. Der Nutzen ihrer Arbeit ist klar. Sie tragen ihn als Aus­weis auf den Helm gedruckt - in Form von Buchstabengruppen ZRB, BMSR. Was aber könnte sich Jordan auf den Helm schreiben? Mitautor des BKV? Doch gerade dieser, der Betriebs­kollek­tiv­vertrag, löste sein ruhe­loses Suchen nach dem Sinn eigener Tätigkeit aus - und natürlich der Krott. Seine Frau, Deutsch­lehrerin, hat dieses Werk kriti­siert. Genauer: es als Beispiel für schlechtes Deutsch, für un­schöne Häu­fung der Infini­tive nämlich, zu Unter­richts­zwecken miß­braucht. Ihre - ver­stiegene - Forderung: "Ein Werk wie dieser Betriebs­kollektiv­vertrag, geboren letzten Endes aus dem Kommu­nistischen Mani­fest und dessen konse­quente Fort­setzung, muß auch so gut und schön wie jenes verfaßt sein. Es muß ein erbaulich Lesen darin sein, und nicht nur seines Inhalts wegen. Große und richtige Ge­danken müssen schlicht und schön ge­sagt werden. Mut und Freude müssen sie ver­breiten: Seht, das haben wir uns vorge­nommen!" - Wie sollen Formulie­rungen aussehen, die geeignet sind aus­zudrücken, was hier geleistet wird? Ganz sicher jeden­falls nicht so, wie es Jordans Frau schau­dernd liest: "Die Ziele ... sind ... auszuarbeiten und ha­ben ... zu orientieren, um ... zu errei­chen, wobei ... zu berück­sichtigen sind." Und auch nicht so, wie Köhler es als karikierendes stilistisches Mittel einsetzt. Häufung unver­ständlicher Abkürzungen, substanti­vierte Verben, zu Formeln ge­ronnene Begriffe. Dünne Abstraktion, in der nicht mehr sichtbar wird, was ge­schieht. Im imagi­nären Gespräch über Kunst hört Jordan den Schrift­steller auf das Mittel gegen diese Verflüch­tigung von Realität ins leere Symbol verweisen: "Beschreiben, beschreiben, beschreiben." Ein anderer Zusammen­hang diesmal, in dem Kunst erscheint: Kunst als "gestei­gertes Sehen, Empfinden, Mitempfinden" ist nun nicht Aufbe­wahrungs­ort von Utopie, sondern Chronik des heutigen Werks für die künftig Lebenden. Und warum plaziert dann Jordan in die ehe­mals leeren Glas­kästen utopische Litera­tur? Wo ist die Brücke vom heutigen Tun zur Zukunft?

Zukunft ist Jordan wichtig. Wie wird sie aussehen? Sein Töchterchen hat da ganz "klare" Vorstellungen: "Jeder wird tun, was ihm gefällt, nach seinen Fähig­keiten und Bedürf­nissen ... Niemand wird sich einschränken müssen. Ungebil­dete wird es nicht geben." Jeder wird nach "IK - KI" leben können (Imma­nuel Kant - Kate­gorischer Imperativ), Regelungen, Program­mierungen werden nicht nötig sein. Die Voraus­setzungen? Das werden die Erwachsenen mit ihren Maßnahmen und Methoden - Regelun­gen und ähnlichem - schon schaffen. Doch gerade daran hat der Papa im Mo­ment seine Zweifel. Und dies verstört das Fräulein Tochter: ..,Warum machst du denn Programme mit? Warum arbei­test du denn in einer Leitung mit am entwickelten System des Sozialismus, wenn du nicht daran glaubst? Warum hast du mich und meine Schwester? Warum hast du denn Kinder? Ach, Papa, Papa, warum läßt du mich nicht ruhig schlafen? Es ist späte Nacht. Oder', in ihren Augen glitzern Tränen, 'oder - bist du vielleicht krank?'"

Ja, ist Jordan, der nie zweifelte und schwankte, vielleicht krank? Nun, er ist vom Krott befallen, seine Zweifel könn­ten Ausdruck beginnender Wahn­vor­stel­lungen sein. Durch den Einfall "Krott" nimmt Köhler den gestellten Fragen den "tierischen Ernst", hebt sie ins luftigere Reich poetischen Spiels - aber er hebt sie nicht auf. Vielleicht ist wirklich un­zulänglich, was Jordan und andere tun, wenn sie den BKV - und nicht nur die­sen - zu einem "Programm zur Steue­rung und Regelung zwischen­menschli­cher Bezie­hungen" gemacht haben? Viel­leicht ist auch der Traum, den Jordan anfangs träumte, falsch? Weil Steuerung und Regelung, System­regulierung und was der Begriffe mehr sind, inadä­quate Ziel­stellungen sind, wenn es um mensch­liches Verhalten geht. Auch in jenem Traum war alles programmiert - mit Salben einer­seits und Auslesemethoden anderer­seits. - "Der Krott" ist ganz of­fen­sichtlich in einer Phase unserer Ent­wicklung geschrieben, da über­eifrige Wissen­schafts­gläubigkeit im Fort­schritt vor allem eine Sache immer besserer Program­mierung und Steuerung sehen ließ. Die kritisch angegangenen Begriffe weisen es aus. Weder lassen sich aber Köhlers Intention noch der Gehalt ins­gesamt auf diese Ebene beschränken. Jordan wird den BKV umschreiben las­sen, durch den aus dem Kultur­fonds be­zahlten Schrift­steller. Ist dies nun das letzte Wort im "Krott" zu den Fragen, die Jordan beun­ruhigt haben: "Schöne", utopische Litera­tur im Glas­kasten und die schönere Formu­lierung des Betriebs­kollektiv­vertrages? Nach der Über­schät­zung von Funktion und Wirkung der Kunst in "Schatzsucher" nun ihre Ver­niedlichung zur "schönen" Ver­kleidung? Im erzählten Geschehen hat die Kunst nunmehr wenig zu tun mit dem, was in Paul Jordans verkrot­tetem Kopfe vor sich geht. Er träumt wieder einmal - diesmal nicht im Bett, sondern in der unbe­quemen Trommel. Diesmal nicht ein natürliches Paradies, sondern einen gesell­schaftlichen Zustand, in dem das Geld als Zahlungs­mittel nicht mehr nö­tig ist. Heute noch ist das Geld Kon­densator menschlicher Energie­umwand­lung. "Der Rest unserer Gegenwart. Die Zukunft beginnt mit der Lösung des Problems konden­sations­loser Energie­umwandlung. Wir müssen uns beeilen" - Das Motiv der Schatz­suche wieder als der Zukunft entgegen­stehend. Das Ge­gen­bild: ein Zustand, in dem es die Menschen nicht mehr nötig haben, ihre Leistung über das Geld zu erfahren und zu repräsen­tieren. Sie werden ihre Lei­stung und ihren Ver­brauch abschätzen gelernt haben, die Anschauung wird ih­nen mehr gelten als das Ver­brauchen. - Mitten im schönen Traum rasselt diesmal nicht der Wecker, aber der Krott in Jordans Kopf und läßt ihn - wie passend zum Traum - «tausend­stimmi­ges, zart­brausendes Eiapopeia" von Kin­der­stimmen hören. Ein kräftiger Ham­merschlag befreit Jordan vom Krott. Das Träumen aller­dings ist ihm nicht ver­gangen. Im Kranken­haus träumt er noch einmal: eine "graphische Darstellung des Prinzips der Energie­erwirtschaftung der Mittel für die erweiterte Repro­duk­tion». Noch einmal wird die Vor­stellung vom selbst­regulierenden System ironi­siert, in dem nichts miß­lingen kann, in dem nur eine unklare und damit poten­tiell störende Größe ist: "Auf welch ge­heim­nisvolle Weise kommt dabei die neue erweiterte, höhere, reinere, uns al­len teuere Arbeits­kraft zustande, die das System braucht und bedingt? Mir will das magere Pfeil­chen nicht genügen. Ich setze einen Trichter oben auf das vage Gefäß und beginne mit mächtiger Kelle zu schöpfen. Aus Mangel an Einsicht fülle ich Masse in den Trichter, hoffend, es fände sich darunter, wie Erz im Gestein, jenes uner­findliche Keim­chen Sinner­füllung, welches ich Pathos nen­nen möchte, Hoch­gefühl des bewußten Seins, ständig gegen­wärtige, handlungs­umschlossene Anschauung der Natur und aller eigenen Schritte darin."

Im Traum hat Jordan diesmal den Sinn - vielleicht - gefunden. "Der Krott" nimmt auf seine Weise das thematische Leit­motiv der "Schatz­sucher" auf: Wie wird unsere Zukunft aussehen, was von unseren Vor­stellungen über sie ist Traum, ist Utopie, was ist not­wendi­ger Maß­stab, um den Sinn heutigen Tuns nicht zu verlieren? Wichtig ist Köhler dabei - dies durch­zieht alle seine Werke - künftiges Verhalten zur Natur. Ohne Romanti­zismus besteht er doch auf dem Menschen als "Natur­wesen", der, bei allem not­wendigen prag­matisch-instru­mentalen Verhalten zur Natur, doch des Anschauens der Natur bedarf - als Mo­ment not­wendiger Selbst­anschauung.

Die versuchte Analyse macht es wohl deutlich: "Der Krott" ist in seinem Grund­ton von ironischer Polemik ge­prägt. Ironische Distanz ist da gegen­über allen techno­kratischen Vor­stellungen, de­nen die Zukunft nichts anderes ist als die Gegen­wart - nur noch ein biß­chen besser -, oder in denen die Frage nach der Zukunft gar keinen Platz hat. Iro­nische Distanz aber auch gegen­über dem Eiapopeia vom paradie­sischen Schlaraf­fenland. Der Entwurf bleibt konturlos, Kontur aber gewinnt die Bestimmung seiner Funktion: für die Art, wie wir denken, handeln und sprechen. Köhler polemisiert auch gegen eine bestimmte Art zu sprechen. Gegen Schemata, zu de­nen Sinn gerinnen kann. Er setzt sprach­liche Klischees und Verwahr­losungen - die uner­trägli­chen Infinitiv­konstruktio­nen, Genitiv­anhäufungen, sinn­losen Kür­zel - ein, um eil­fertiges und ober­fläch­liches Denken zu denunzieren, das sich auch in der Leere der Glaskästen verge­gen­ständlicht ("Ausersehen, zu enthalten, sind sie selber Inhalt einer gründigen Idee. Auser­sehen, zu enthalten, umfas­sen ihre Scheiben Leere.") Köhler geht die leere Formel an, die die Welt-An­schau­ung ersetzt. Dies alles wird erzählt, nicht de­klamiert. Heiter­keit stellt sich her, oft gemischt mit betrof­fener Selbst­befragung, wenn zu lesen ist, wie inadä­quat wir oft aus­drücken, was sich doch der flinken klischee­haften Be­nen­nung wider­setzen sollte. Genauig­keit im Den­ken und Formu­lieren als Tugend, als Voraus­setzung auch, uns über Gegen­wär­tiges wie Zukünf­tiges zu verstän­digen.

"Hinter den Bergen" wirft das Thema des Wohins ganz anders auf. Eine Uto­pie ist hier nicht nur Antrieb für das Handeln eines einzelnen und nicht nur Quelle eines in Kunst ver­­gegen­ständlich­ten Ideals, hier wird eine Utopie ver­wirklicht. Utopia - seit Thomas Moras einen abge­grenzten Ort der idealen Ge­sell­schaft bezeichnend - liegt hinter den Bergen. Im Dörfchen Ruhin. Was in Ru­hin geschieht während drei Jahr­zehnten -von 1945 bis 1975 -, wird hier auf eine umwer­fend amü­sante, philoso­phisch gegrün­dete und von Einfällen über­spru­delnde Weise erzählt. Verkürzt wieder­gegeben: Auf Initiative des merk­würdi­gen Laien­predigers Rufe­land begrün­den die Nach­kriegs-Ruhiner, Einge­sessene und Zuge­wanderte, eine Kommune. Sie eignen sich das Land an, bebauen es gemeinsam, wirt­schaften gemein­sam, sie bauen einen Speicher und eine Kirche als Stätte, in der das Wort Gottes, und das heißt in Rufe­lands Munde, das Wort des Gemein­sinns und des tätigen Geistes ge­pre­digt wird. Rufe­land bedient sich "ge­mischter Methoden": kleiner Wunder und eines in der Scheune nieder­kom­menden Weibes, das er zur Maria und dessen Kind er zum Jesus­kindlein stili­siert. Die Kommune floriert, sie erfüllt. auch die staat­lichen Erfassungs­auflagen. Aber: Sie wider­spricht dem, was vor den Bergen geschieht, dem normalen Verlauf der Boden­reform, der Heraus­bildung eines neuen Eigentümer­bewußt­seins bei den Bauern. Schließlich zerfällt die Kom­mune mit tat­kräftiger Hilfe tat­kräftiger Leute aus Vor­bergen, mit Hilfe zum Bei­spiel des Erfassers, Genossen Waag. Die "Jung­frau Maria" gebärt ein Kind nach dem anderen, die Kirche bleibt unvoll­endet, das Land wird verteilt. Und dies in einer Zeit, da vor den Bergen bereits der Über­gang zu Genossen­schaften be­ginnt. In Ruhin wird norma­lisiert, und plötzlich stimmt nichts mehr. Die Ab­gabe- und Anbau­pläne wer­den nicht er­füllt, soziale Unter­schiede entstehen neu. "Hinter den Bergen, da ging eben nichts nach der Regel." Inkongruenz, Abwei­chung ist die Grund­situation Ruhins. Wo die Kongruenz mit Macht hergestellt wird, ist es zunächst zum Schaden - Ruhins wie der Gesellschaft vor den Bergen. Als schließlich nach langem Drängen auch in Ruhin eine Genossen­schaft entsteht, ist sie es nur dem Na­men nach - die Ruhiner wollen ihre Ruhe haben. An den inzwischen nor­malisierten Zuständen ändert sich nichts. Der Konsum steigt ständig, aber die Ru­hiner haben keine Muße, ihn zu genie­ßen. Sie sind unzufrieden. Aus der Kom­mune wird schließlich ein Kur­ort, die Kirche - dem Abriß mit knapper Not ent­gangen - wird zur touristischen Sehens­würdigkeit. Die Ruhiner sind alt gewor­den, die sechs Kinder der Alma Teutsch­ke - der einstigen "Jungfrau" - be­stimmen mehr und mehr das Gesicht des Dorfes. Aus Ruhin ist eigentlich Teutschken­dorf geworden.

Soweit die Geschichte, die erzählt wird. Erzählt wird sie von einem, der sich als Chronist gibt, seiner­seits einer vor­liegenden Chronik nur folgend: den No­tizen und den in die Kirchen­fenster ge­malten Bildern, die Ahn­feld hinter­ließ. "Hinter den Bergen" ist das wichtigste von Köhlers Werken. Nicht nur, weil es ein so besonderer Beitrag ist zur Selbst­ver­ständigung über uns, über unsere Träume, auf die wir nicht verzichten wollen und sollten und die im Handeln ihre Ver­änderung erfahren. Es ist sein wichtig­stes Werk, weil das Besondere seiner Erzähl­kunst hier durch keiner­lei vorder­gründige und ein­deutige Unter­brechungen einge­schränkt wird. Köhler vertraut zu Recht der Über­zeugungs­kraft der Poesie. Von symbo­lischer Namens­gebung bis zum ironisierend-relati­vieren­den Erzähler­kommentar, von den be­schrie­benen Bildern bis zur bild­haften Sprache sind die Mittel immer wieder neu, mit denen poetische Prosa erzeugt wird. Souverän stellt der Erzähler Figu­ren in den Mittel­punkt und rückt sie ins Abseits, wenn ihre tatsächliche Rolle sich verändert hat, ja, schickt sie sogar ins Gefäng­nis oder läßt sie un­klar ver­schwinden. Randfiguren noch werden mit derselben poetischen Gerech­tigkeit be­handelt wie Rufe­land oder Alma. "Sprach­röhren" des Autors, Figuren, in denen die ganze Wahr­heit versam­melt wäre, gibt es nicht mehr. - Müßig schiene mir, angesichts dieses Werkes die Frage nach litera­rischen Tradi­tionen zu stellen, in denen Köhler steht. Wenig wäre damit gesagt über das Eigene dieses Erzählers, über den poetischen Gehalt, der uns so sehr angeht. Schon die verknappte Fabel deutet den poetischen Grund­einfall an: Aus dem kleinen "Himmelreich in Ru­hin" wird das "Kulaken­nest", wird das Konsum­reich Bolles, des Besorgers, wird "Milieu", "Schau­werk" für Urlauber, wird schließlich ein Kur­ort für Herz- und Kreis­lauf­geschädigte, ein "Asyl für die Ermüdeten aus einer beweg­teren Welt".

Dies ist ein Roman, in dem das Thema der zu früh und zu spät Gekom­menen auf eigen­willige Weise aufge­nommen wird. Für das ganze Ruhin: Die Kom­mune war - sagen wir es vor­erst so grob - eine Vorweg­nahme, nach ihrem Zer­fall hinken die Ruhiner der Entwick­lung hinterher, "im normalen Mittel­feld" fühlen sie sich nicht wohl. Vor al­lem aber ist das Motiv der zu früh oder zu spät Gekom­menen zunächst auf Ru­feland bezogen, der in den ersten beiden der vier Bücher des Romans im Mittel­punkt des Gesche­hens steht, später zur Rand­figur wird.

Wer ist Rufe­land? Ein Hut­macher, der es im braunen Reich nicht vermochte, die passenden Kopf­be­deckungen zu den braunen Uniformen zu machen, statt des­sen zu predigen begann - "Es ist ein verhängnisvoller Hang zum Tragen schneidiger Ski­mützen über die Deut­schen gekommen. Wehe! Wenn die Zeit da ist, wird es an ein Schlitten­fahren gehen, den Hang hinab, und grausiger Nebel wallt in den Tälern." Er erzählt "vom Reiche Gottes, das anbrechen werde, wenn die Menschen einander wieder bar­häuptig achteten". Die Predig­ten führten schließlich zu seiner Einlie­ferung ins Konzen­trations­lager Sachsen­hausen. Er überstand den Todes­marsch und findet sich mit seiner Schwester Nele bei Kriegs­ende in Ruhin wieder. Er ist von unan­tast­barer Integrität, die­ser Prediger. Was sind seine Motive, hier in Ruhin ein "Gottesreich" zu er­richten? "... das wunderliche Zusam­men­treffen mehrerer im einzelnen nur platt erklärbarer Umstände mußte(n) in ihm das Bewußt­sein einer bestimmten Auser­wähltheit wecken. Wozu das, wenn nicht zu dem Behufe, Verhält­nisse zu schaffen, ein kleines Reich, ein Beispiel der Verschmel­zung des Menschen mit dem inne­woh­nenden Gott... Wir wittern eine tragi­komische Ver­fehlt­heit. Und doch, er stellte etwas dar in seiner Art und wahrte die Tradition der dünnen, aber nie ab­reißen­den Kette zu früh oder zu spät Gekommener." Ist er ein zu früh oder ein zu spät Gekom­mener?

Diese Frage beantworten heißt den Ideen­gehalt des Buches be­stimmen, heißt den Charakter der Rufe­land­schen Utopie klären. Einfach­ste Antwort, und auch sie wird vom Erzähler kommen­tierend vor­ge­schlagen: Was Rufe­land will, das ge­lobte Zeit­alter der Brüder­lichkeit, der scheuen Menschen­gemein­schaft, das blü­hende Paradies für tätige Gleiche, die Lilien­oase - Bild blühender Natur - ist eine chiliastisch getönte, damit letztlich kon­serva­tive Utopie. Rufe­land scheinen die Zeichen günstig: Ein abge­schiedener Ort, verzweifelte Menschen ohne Hoff­nung, eine Herde schließlich, die bisher zu folgen bereit war und die zu folgen bereit sein wird. Es bedarf nur des "Hirten". Rufe­land ergreift die Initia­tive. Was er dabei leistet, ist das Nö­tige. Ganz schlicht verhindert er zunächst, daß Alma und das Neuge­borene in der Scheune zertreten werden, indem er die andrän­gende Menge auf die Knie zwingt und ihnen das "Zeichen", deutet - als Zeichen der Hoffnung, der Ver­heißung, Zeichen aber vor allem, das zu tun, was not tut. Und dies heißt: das Land auf­teilen, durch gemein­same Arbeit in Be­sitz nehmen. Und Hoffnung geben, ein Ziel, eine Idee - "fromm ist, was der brüder­lichen Menschen­ge­mein­de frommt". Mit religiösen Dogmen hat, was Rufe­land predigt, wenig zu tun. Er bedient sich recht listiger Methoden - "gemischter", wie Schwester Nele kritisch vermerkt. Mit Verspre­chungen und an­ge­deuteten "Wundern" zwingt er die Ruhiner zum Leben, zum Gemein­sinn, zur Kollek­tivität. Viel muß ihm einfal­len, denn "alles muß man ihnen sagen", was jenseits des nackten Egois­mus ist. Und viele Schläge muß er hinnehmen: Alma, die Mutter des erwählten Knaben, ist allzu nach­giebig oder auch allzu sehn­süchtig nach etwas Liebe, zu gebär­freudig schließlich. Als Jungfrau Maria nicht tragbar, wird sie Köchin in der Gemeinschaftsküche. Der Damm um das Insel­reich Utopia bröckelt. Der Genosse Waag, der Erfasser, durchbricht ihn, und Bolle, der Besorger schleppt die Verlockungen und Konsum­freuden des Handels ein. Rufeland braucht viel Kraft, er bezieht sie aus dem Glauben an seine Mis­sion, sein Erwähltsein. Und er überträgt diesen Glauben, außerordentlich zu sein, auf andere. Auch ihnen wachsen damit ungeahnte Kräfte zu. Beispiel: die Land­arbeiterin Grabowski wird zu einem der Funktionäre, die die Kommune wählt. Rufeland wollte den Vergleich schaffen, wollte die Konkurrenz mit der Gesell­schaft, die seine Kameraden aus dem La­ger vor den Bergen errichten, wollte den Wett­bewerb verschiedener Modelle brü­der­licher Menschen­gemeinschaft. Sein Modell unterliegt. Es bedarf nur noch der als lästerlich empfundenen Oster­predigt Hänschens, des Erwählten, als Anstoß, und das Gebäude stürzt zusammen. Die Ruhiner wollen nicht mehr auf die An­nehm­lichkeiten fleisch­licher Ge­nüsse, per­sönlichen Reichtums verzichten, sie ent­wickeln Eigen­tümer­bewußt­sein. Und da sie dies später tun als die Vor­bergener, tun sie es gründlich: Das Land der Schwa­chen, Allein­stehenden, Arbeits­unfähigen wird von den Kräftigen angeeignet. Diese wollen nunmehr für sich arbeiten, nicht mehr für alle und für eine imaginäre Zu­kunft. Das geplante Kommunehaus - Rufelands Vision einer Burg der Brüder­lichkeit - bleibt in den Fundamenten stecken, die Kirche bleibt ohne Dach. Die Kommune zerfällt. Hans Teutschke, das Jesu­lein, wird staatlich erzogen, meldet sich später zum Dienst in den bewaffneten Organen. Die Utopie ist verschwun­den, hinweggeschwemmt vom Gang der Geschichte. Und doch: Etwas ist geblie­ben. Die Kirche steht und mit ihr die Bilder, die Ahnfeld auf ihre provisori­schen Fenster gemalt hat. Und hier ist wieder der Zusammenhang Utopie und Kunst - gegenüber "Schatzsucher" un­gleich verhaltener, geheimnisvoller, weil mehrdeutig. Ahnfeld hat gemalt, was in Ruhin geschah, und er hat seine Vision der Zukunft gemalt. Sein Motiv: Liebe zu Alma. "Meine ganze Liebe habe ich drangegeben, dieses Weibs­bild zu erhö­hen, das hier geächtet und geschunden und geschändet vor mir steht." Das erste Buch endet mit Ahnfelds Angebot, die Kirchen­fenster zu bemalen, am Ende des zweiten Buches findet Rufeland, aus zwei­jähriger Haft­strafe heim­gekehrt, die Kommune aufgelöst, aber neu dafür die Bilder auf den Fenstern der nunmehr un­be­nutzten Kirche. Im dritten und vierten Buch sind die Bilder Hintergrund des Er­zählens, Gegen­stand der Umdeutung und Ausdeutung durch den Erzähler und schließlich Objekt fotogra­fierender Touri­sten, Teil der Ruhiner Sehens­würdigkei­ten. Das Schicksal der Bilder wider­spie­gelt die Geschichte Ruhins. Im Mittel­fen­ster die heilige Jungfrau mit Almas Gesicht, auf dem Arm nicht einen erwähl­ten Knaben, sondern ein halbes Dutzend Kinder. Um diese Gruppe die Ruhiner bis hin zum Hunde Kuno.

Im nächsten Fenster der nackte Mann, Teil der Geschichte, einziger Büttel in der Vergangen­heit Ruhins, Symbol aus­gestoßener Gewalt­tätigkeit. Dann Alma unverklärt, mit den nährenden Attributen Schöpfkelle und Suppen­kessel, Alma in der Gemein­schafts­küche. Die nächsten Fenster zeigen die gemalte Chronik Ru­hins, Ereignisse, wie sie allen Einwoh­nern noch gegenwärtig sind, und das Bild Till Eulen­spiegels in der Grube, zum Ausfahren bereit, mit dem Gesicht Hans Teutschkes. Auf der gegenüberlie­genden Fensterfront Bilder; die Visionen der Zukunft geben: Symbole des Sehens und Gesehenwerdens, Symbole, die das Ende der Oase ankündigen, den Ein­bruch der Welt von draußen. Und die Vision eines Glaspalastes über den Ge­wölben der gedachten Kartause. Rufe­land schaudert beim Betrachten der Bil­der: "Das war kein Haus der Einkehr, keine Stätte stiller Sammlung; das war ein Tempel des Zwiespalts, des Wider­streits, der Unruhe und Erregung. Aber das Studium des gräßlichsten Anblicks stand ihm noch bevor. In dem großen auf die Spitze gestellten Fenster­viereck über dem Eingang sitzt mit unter­geschla­genen Beinen, in Purpur gehüllt eine Kreatur mit dem unver­kennbaren Grin­sen Oskar Bolles. Eifersüchtiger als das Weib im Haupt­fenster ihren Kinder­se­gen hütet der Götze über der Eingangs­pforte, ausgestattet mit sechs Armen, einen Wust von Waren. Es ist dies die einzige Darstellung, bei der sich der Ma­ler hemmungslos einer überquellenden Fülle von Einzelheiten überläßt."

Dies ist der gemalte Gegensatz: das Bild der siebenköpfigen Madonna und der Konsumgötze. Oberflächlich lesend könnte man folgern: Aus der Kommune ist eine Konsum­gesellschaft geworden, die Verteilung der Sympathien auf beide Zu­stände wäre dann eindeutig. Rufeland sieht es natürlich so: Die Fleischeslust, der materielle Konsum haben den Geist verjagt. Gestraft sind die Ruhiner durch den Verlust des Paradieses.

Für eine solche Les­art scheint noch et­was anderes zu sprechen. Die Ruhiner sind in der Tat nicht glücklich mit ihrem neuen Eigentümerbewußtsein, auch nicht mit ihrer halbherzig und lustlos begrün­deten Genossen­schaft. Zu sehr wirkt in ihnen der einstige Beginn nach. "Wie alles Gewesene hob sich die frühe Zeit der Gemein­samkeit mit dem größer wer­denden Abstand immer deutlicher und bedeutsamer heraus. Wer so begonnen hatte, dem genügte der Appell von elek­trischen Apparaten, Fahrzeugen, schönen Kleidern, selbst von barem Gelde nicht. Sehnsucht nach einem höheren Gegen­stand der Betrachtung stellte sich ein. Das Phantom der Lilie geisterte ... " Versorgt mit allen erreichbaren Attribu­ten des modernen Lebens­standards fehlt den "freien" Landwirten die Zeit, sie zu genießen. Zu mehr als einer halb­herzi­gen Genossen­schaft aber sind sie nicht mehr bereit. Auf Almas Drängen, zur gemeinschaftlichen Feldbebauung überzugehen, haben sie nur die resignierte Antwort "Was die will, ist viel zu schwie­rig, als daß es sein muß, denn schließlich hatten wirs schon mal." Sie sind unzu­frieden, weil sie von anderem bereits gekostet hatten, aber es nicht zu Ende brachten. "Es ging um die Enttäuschung, um jenen abgebrochenen anderen Pfad, die andere, die unvollendete Variante. Es ging um den abgebrochenen Versuch, die versäumte, nein, verpfuschte Mög­lichkeit, die aus der Rückschau stets ro­mantischer und weniger trist erscheint als der schließlich dann doch beschrittene Weg. Es ging um den verlorenen Garten Eden." Die Erinnerung lebt als Stachel in ihnen. Ist also der anfängliche Ent­wurf das Wahre?

Köhler träfe gewiß viele Emotionen, meinte er dies. Emotionen der Unge­duld, der Sehn­sucht nach der schnellen Über­windung aller Rudimente egoisti­schen, priva­tistischen Verhaltens, nach dem Kommu­nismus schon heute oder morgen. Utopisch-sozialistische Vorstel­lungen gehören nicht nur zu den berühm­ten drei Quellen des Marxismus, sie sind - nicht als theoretisches Gebäude, wohl aber als Ideal­vorstellungen - heute durchaus vorhanden. Doch Köh­lers Intention auf solche utopisch-sozia­listischen Vorstellungen zu reduzieren, wäre zu einfach, der Wahrheits­gehalt des Buches wäre dann wohl auch in Frage zu stellen. Gewiß, die Utopie wird nicht einfach denunziert als Produkt eines halb­verrückten Spinners, als bloße Not­lösung unter den Bedingungen des Man­gels. Rufeland hat - auch wider besse­res theoretisches Wissen - die Sympa­thie des Lesers ebenso wie die des Chro­nisten. Der Leser zuckt unter den Schlä­gen betroffen zusammen, mit denen Ru­felands Werk zerstört wird. Aber Trauer als Grund­stimmung stellt sich nicht her. Dafür sind es zu viele Einfälle, mit de­nen die heroische Vergangen­heit verab­schiedet wird. Die "List der Vernunft" setzt sich auf wunderbare Weise durch die handelnden Personen und doch auch hinter ihrem Rücken durch. Die einzel­nen werden von ganz unterschiedlichen Motiven bewegt. Was sie erreichen, ist mit dem, was sie wollten, nie ganz iden­tisch. Zum Beispiel: der Bauer Wunde­row. Er, der - in Eile und in Angst vor seiner Frau - Almas zweites Kind er­zeugte, will dieses zum Hoferben ma­chen. Mit allen Mitteln. Am Ende über­nimmt nicht Sohn Konrad den Hof, son­dern Wunderow wird LPG-Vorsitzender. Komische Verkeh­rung von Absicht und Ergebnis erfahren sehr viele der darge­stellten Personen. Und doch haben Ab­sicht und Erreichtes etwas miteinander zu tun, wenn auch auf skurrile, kaum identi­fizier­bare Weise. Was schließlich aus Ruhin geworden ist, das ist ein ab­gewandeltes Bild der Visionen Rufelands und Ahnfelds: die gelbe Aue, ein Gar­ten, eine liebliche Erholungs­landschaft. Auch die schwarze Lilie könnte durch­aus noch gezüchtet werden - Rufelands Symbol einer vom Menschen geprägten und ihm gemäßen Natur. Dazwischen allerdings Konrads Herde von Zucht­schweinen. Das Ganze keine Inselge­meinde Utopia, sondern ein Kurort. Un­wiederbringlich dahin: das Kommune­haus als Form kollektiven Daseins. Zweck­ent­fremdet ist das "Gottes­haus" nun Sehens­würdigkeit. Ahnfelds Bilder: bei der Restauration modernisiert in Ze­ment und Glas­klumpen. "... die Bild­inhalte wurden konsequent einer neuen dekorativen Auffassung unterworfen ... Das Neue wurde schön glasbunt mit vie­len licht­streuenden Bruch­kanten­reflexen." Nur ein Bild konnte Rufeland vor der Moder­nisierung retten - ausgerechnet den Eulen­spiegel. Eulen­spiegel statt Je­sus ist als Zeichen geblieben. Der plebe­jische Schalksnarr als Bild dessen, was in Ruhin vor sich ging, als Schlüssel­symbol wohl auch, um das Motiv des verrückten, aber nicht sinnlosen, des in­adä­quaten und doch treffenden Tuns zu umreißen. Für Tragik bleibt da wenig Raum.

Was die alten Ruhiner um sich herum sehen, wenn sie auf der Terrasse des Sa­natoriums sitzen, zeigt manches von dem, was der Prediger ihnen vorge­schwärmt und verheißen hatte. ". . . nur daß sie es nicht allein getan hatten und schon gar nicht aus freien Stücken und daß es ih­nen also auch nicht allein zugute kam, sondern vor allem solchen vom Getüm­mel des Groß­stadt­lebens zumeist in Sorge um andere angeschlagenen Men­schen".

Illusion war die Insel­gemeinde. Ohne Sinn allerdings war sie nicht. Denn auch die in Vorbergen haben nach dem Sinn fragen müssen. Den Erfasser Heinz Waag, als Vertreter der Staatsmacht von Anfang an das Bindeglied der Welten vor und hinter den Bergen, hat die Frage immer gequält: Was ist Es? Es, das ist der Sinn. Er sucht ihn - und damit ei­gentlich ist Rufelands Absicht erfüllt - im Vergleich mit dem Ruhiner Gesche­hen. Ruhin - die Ruhe ist hin, Ruhin als Ruine des Gartens Eden, Ruhin als Motiv, nicht in Ruhe, d. h. Selbstzu­frie­denheit zu versinken. "Der moderne Bau ruhte ganz auf den von ihnen vorgeleg­ten Funda­menten." Gemeint ist viel mehr als das neue spiegelnde Terrassen­café an der Stelle des geplanten Kom­mune­hauses.

Köhler erzählt die Geschichte unseres Anfangs anders, als es in anderen Bü­chern zu lesen ist. Verfremdet durch den Einfall einer urkommu­nistischen Insel Utopia. "Einmal im Leben muß man an etwas Unmögliches geglaubt haben", die­ser Satz aus Christa Wolfs "Nachdenken über Christa T." könnte Motto dieses Buches sein. Der Glaube versetzt zwar nicht Berge, kann Geschichte nicht will­kürlich machen, aber er ist bewahrtes Ideal, Grundlage für das, was machbar ist.

Utopia ist aufbewahrt - in Bildern, im Gedächtnis, im Ziel. Utopia ist negiert, zerstört - die auf asketischen Gemein­sinn orientierte Gemeinde auf der Lich­tung hat ihr Inseldasein nicht bewahren können. Verlust und Gewinn in einem. Verloren ist die Jugend, sind die ur­sprünglichen Bilder, verloren sind auch ungewöhnliche Initiativen und Hoffnun­gen. Entstanden ist ein neuer selbstver­ständlicher Lebens­anspruch, sind neue Hoffnungen.

Ist die Utopie auch aufgehoben im drit­ten (Hegelschen) Sinne - auf eine hö­here Stufe gehoben? Das letzte Buch des Romans hat gegenüber den vorangegan­genen einen bescheideneren Ton. Die Iro­nie ist verhaltener geworden. Aus dem kräftigen Entwurf des Anfangs wurde die fast beschauliche Idylle, eingeordnet in ein Ganzes, dessen Bewohner sich in Ruhin entweder als Erholungsuchende oder als Väter von Almas Kindern ver­sammeln. Die Ruhiner aber sind nun Lieferanten wohl­schmeckender Schinken geworden. - Auch diese Idylle, die ge­ordnete Provinz kann das allein Wahre wohl nicht sein. Köhlers Methode, ge­schichtliche Fragen in komischen Kon­stellationen aufzuwerfen, hält sich bis zum Schluß.

Stellen wir uns noch einmal die anfangs bereits angedeutete Frage - auch im Buch wird sie gestellt: Ja, darf denn so etwas sein? Ist utopisches Denken legi­tim? Geht es an, eine Zukunft ins Blick­feld zu rücken, deren Züge im einzelnen noch gar nicht klar sind und auf der an­dererseits bestanden wird? Auf einem jedenfalls besteht Köhler nachdrücklich: Zukunft heißt Kommunismus. Die Frage nach der Legitimität von Entwürfen die­ser zukünftigen Gesellschaft, die auch utopische Momente enthalten, wäre zu simpel beantwortet, würden wir in sol­chen Entwürfen den unver­bindlichen Spiel­platz folgen­loser Phantasie, schöner Wunsch­bilder in der Kunst sehen. Sicher gibt es eine besonders enge Verbindung zwischen Kunst und Utopischem, solange es Kunst gibt. Aber ebenso sicher wird in dieser Verbindung etwas zur Sprache gebracht, was auf allgemeinere Weise mit dem Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit, Wirklichkeit und Ideal zu tun hat. Die Frage etwa nach der Zu­kunft von Waren­produktion, Geld und Leistungs­prinzip bewegt ja nicht nur Erich Köhler. Und die erkenntnis­kriti­sche Abwehr von Utopie, wenn sie zum Ersatz wissen­schaftlicher Analyse wird, sollte nicht unreflektiert zur Abwehr phantasie­vollen Erkundens künftiger möglicher Perspektiven und Alter­nativen führen, nennen wir dieses Erkunden nun Utopie oder nicht. Selten, auch nicht in Produkten theoretischen Nach­denkens über Sinn und Un-Sinn von Utopie­bil­dungen, fand ich dieses Verhältnis so dia­lektisch gesehen wie in Köhlers Buch.