Wann blüht das Wasser?
Kapitalistische und sozialistische
Spekulationen über ökologische Sorgen

von Dietmar Dath

Das Umweltproblem begleitet mein gesamtes bewusstes Leben. Ich erfuhr davon als BRD-Kind in den 1970er-Jahren, teils im Schulunterricht, teils aus eigener Anschauung (der Kanal in der Nähe der Wohnsiedlung war fürchterlich), teils aus den Gesprächen der Erwachsenen und teils aus dem Kinderfemsehen, etwa bei den lustigen "Wombels". Für die pelzigen Puppenkreuzungen aus Igel, Hamster und Menschenwichtel ging es schon im Titellied ihrer Sendung ums Ganze: "Umwelt fängt an vor der eigenen Tür/ Wombels sind Wesen, die tun was dafür."

Was das "Umweltproblem", von dem die Erwachsenen allgemein redeten, genau war, wurde mir nicht allzu schnell klar. Westliche Nachrichten, Unterhaltungskünste und Meinungsprodukte ließen mindestens zwei Deutungen dieser Formel miteinander verschwimmen. Erstens: Die Umwelt hat ein Problem, nämlich uns Menschen und unsere Industrie. Zweitens: Wir Menschen haben ein Problem, nämlich unsere Industrie und die von ihr zerstörte Umwelt Diese Unschärfe zwischen einerseits Absage an den Humanismus ("die bösen Menschen!") und andererseits fatalistischer Verzweiflung ("die böse Welt!") ist typisch für imperialistische öffentlichkeiten; sie drängt Lenins Frage "Wer wen?" aus der Diskussion, und genau das soll sie auch.

Klar war immerhin, dass autos Kröten überfuhren, weil deren Wanderwege da verliefen, wo man Straßen gebaut hatte, und dass Fische tot im Fluss trieben, weil Fabriken Dreck ins Wasser pumpten. Die Zukunft schien absehbar: kahle, schwarze Bäume in toten Wäldern, überall Beton und Glas statt frischer Luft und Gras, Abgase im Atem und im schlimmsten Fall der nukleare Weltbrand, denn die rasanteste Form der Umweltzerstörung hieß Krieg.

Bis die Welt untergeht, muss man warten und sich die Zeit vertreiben. Warum nicht mit Kultur, Kunst, Literatur?

Die spekulative Fantastik, die mir unter dem Namen "Science-Fiction" in Filmen, Comics, Büchern begegnete, gefiel mir damals und gefällt mir heute besser als der fantasielos biedere Reformismus der meisten pädagogisch-naturalistisch-realistischen Künste, die meine Erziehungsberechtigten für wertvoll hielten. allerdings fand ich auch in der Science-Fiction jener Zeit, einer Kunst also, die vom Möglichen statt nur vom platt Wirklichen handelte, den Ausweg aus dem Umweltproblem, also der Verrottung, Erschöpfung, Vernutzung und Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen, allseitig verbaut.

In dem US-amerikanischen Film "Silent Running" (Lautlos im Weltall) von 1972 wurden die letzten Wälder in künstlichen Habitaten ins all geschossen und sollen jetzt vernichtet werden. In dem Film "Logan's Run" (Flucht ins 23. Jahrhundert) aus dem Jahr 1976 leben Menschen vor lauter Ressourcenmangel unter Schutzkuppeln und nur noch bis zu ihrem 30. Lebensjahr, dann werden sie getötet In den seit 1977 erscheinenden britischen "Judge- Dredd"-Comics gibt es Megastädte inmitten von Wüsten, in denen eine art anarchofaschismus gedeiht. Und so fort.

Das war kulturindustrielle Massenware. In deren Gegenteil, den literarisch raffiniertesten, für ein gebildetes Publikum geschriebenen westlichen Produkten der Science-Fiction, sah das Künftige freilich eher schlimmer und finsterer aus als in den Kino- und Heftchenwelten.

Die besten Texte der Gattung boten zwar keine sensationelle angstlust wie das Massenzeug, aber raffinierte und dennoch perspektivisch seltsam enge Spiegelspiele zwischen Vorhandenem und Denkbarem, zum Beispiel in der 1971 erschienenen kurzen Erzählung "Three Million Square Miles" (Drei Millionen Quadratmeilen) von Gene Wolfe. Sie lässt offen, ob die Hauptfigur am Ende tatsächlich ganz nah an der Zivilisation, direkt neben der Autobahn, im Unerforschlichen verlorengeht oder ob man das nur fürchten muss. Das ist ein Interpretationsspielraum, der die Verunsicherung des Protagonisten im lesenden Hirn exakt nachbildet Zu Beginn der Geschichte wird diesem Protagonisten, einem harmlosen Kleinbürger, beim Lesen einer Zeitungsdarstellung der Raumverhältnisse in den USA klar, dass ein großer Teil des Hoheitsgebiets dieses Staates von den Menschen, die ihn bewohnen, nicht erschlossen ist Seine Frau kann es nicht fassen: "Richard, glaubst du wirklich, dass das Land einfach da ist? Und dass die Leute in dem Fall nicht einfach hingingen und es sich nähmen?"

Es sich nehmen: Da geht es also sofort um Besitz, nicht um Bewirtschaftung, weil vom Kapitalismus überzeugte Kleinbürger zwar keine Kapitalisten sind, aber immer denken und reden, als wären sie welche.

Die Frau fragt den Mann, ob er nicht aus eigener Anschauung etwas über die angebliche große Weite zu sagen weiß - ist er nicht neulich geschäftlich verreist, hat er nicht aus dem Flugzeug geschaut? Er sagt: "Es war zu neblig, und außer Schwaden konnte man nichts sehen." Das ist ein großartig präzises Bild für die Weltskepsis des Kleinbürgers, seine ewige Spekulation darüber, ob die Welt insgesamt Trug, Simulation, Matrix, von Verschwörungen gelenkte Pseudowelt sei. Der Grund dafür liegt - anders als bürgerliche Medienökologie wähnt, die sich vor Bewusstseinsverschmutzung durch Medien vom Fernsehen bis zum Smartphone fürchtet - nicht in technischen Tücken, sondern darin, dass eine Welt nur von denen als real erlebt wird, die in ihr den eigenen Zwecken folgen. Im Gegensatz zu denjenigen, die nichts bestimmen, nichts entscheiden, also im Kapitalismus vor allem - kein Kapital besitzen, sich aber auch nicht gegen dessen Macht auflehnen, immer nur fremden Zwecken dienen, also "entfremdet" leben, wie Marx mit einem Hegel'schen Begriff sagt: Diese nämlich geben den Mitteln (also Geräten und sich selbst sowie anderen entfremdeten Menschen) die Schuld an den fremden Zwecken (vor allem am Profitzwang); die verbotene Erkenntnis der Besitzinteressen darf den Schleier der Selbstverdummung nicht zerreißen. Wenn Kleinbürger jammern: "Twitter macht dumm", übersehen sie, dass zum Beispiel bei kalifornischen Waldbränden das Instrument Twitter hilfreiche Dienste bei der Rettungskoordination geleistet hat. Da haben aber eben Menschen das Ding gegen seinen Profitzweck verwendet. Der wird von suchterzeugender Hetze und idiotischem Klatsch besser genährt als von sinnvollem Gebrauch, daher werden Hetze und Klatsch darin gefördert. Das Elend der Moderne, über das Kleinbürgerhime selbst in vorgeblichen Philosophenköpfen erschrecken, ist eine irrationale Wirtschaftsweise, die selbst die Rationalität des Ingenieurswesens oder der Computerprogrammierung unter ihr Kommando zwingt.

Auswege "zurück zur Natur" jedoch sind weder individuell noch gesellschaftlich drin - auch dafür findet Gene Wolfe in "Three Million Square Miles" ein bestechendes Bild. als die Eheleute von einem Reh sprechen, das nicht mehr im eingehegten Naturrest leben wollte, stellen sie fest: "Es lief auf die Autobahn und wurde überfahren."

Auf Menschen übertragen, bedeutet dieses Bild, dass in einer fortgeschrittenen, technisierten, hoch arbeitsteiligen, aber mit Privatbesitz an den Produktionsmitteln gestraften Gesellschaft niemand einfach tun darf, was er eben tun kann, um zu überleben. Das Jagen und Sammeln stellt beispielsweise, sobald Tiere oder Früchte nicht mehr Teil der Wildnis sind, sondern jemandem gehören, einen Rechtsbruch dar. Gesellschaft sichert Menschenleben, aber sie bedrängt auch Menschenleben. Wer darüber nicht hinaus-, sondern hinter einen erreichten Zivilisationsstand zurückwill, nimmt Milliarden Tote in Kauf: den Tod von Menschen, die für ihre Ernährung und medizinische Versorgung auf (agrarische und andere) Industrie angewiesen sind. Mal abgesehen davon, dass Menschen, seit es den Weltmarkt gibt, überall siedeln, auch da, wo sie ohne anschluss an diesen Weltmarkt zugrunde gehen müssten.

Jedes ernste, sei es politische, sei es wissenschaftliche, sei es künstlerische Nachdenken über die Zukunft der Beziehung zwischen Mensch und Natur wird groß denken müssen und überindividuell. So ein künstlerisches Nachdenken brachte fünf Jahre nach Wolfes "Three Million Square Miles" den Roman "Where Late the Sweet Birds Sang" (Hier sangen früher Vögel) der ebenso analytisch gescheiten wie dichterisch souveränen Autorin Kate Wilhelm hervor. Darin führt die auf besinnungslosen Warenausstoß und schiere Ramschflut gegründete Produktionsweise des Kapitalismus zur seriellen Fertigung von Menschen, zum Klonen. Erst nach einer Reihe von Erschütterungen des menschlichen Selbstverständnisses, die sich aus diesem Sprung in der Gattungsgeschichte ergeben, findet das Kernpersonal des Romans schließlich ihr Heil. Das liegt hier in der Rückkehr zur natürlichen Fortpflanzung und zu einer Sorte Bürger tun etwas Neues, aber sie haben ein schlechtes Gewissen dabei - denn sie eignen sich das Neue an, indem sie andere dafür arbeiten lassen und es ihnen zugleich vorenthalten.

Landkommunenwesen, das auch die besiegten Splitter westlicher linker Bewegungen der 197oer-Jahre in großer Zahl ausprobierten, als ihr revolutionärer Elan am Imperialismus zerbrochen war.

Gegen Ende des Buches heißt es: "Ein Dutzend oder mehr Kinder pflückten an den Feldrändern Beeren. Sie trugen langärmelige Hemden und lange Hosen, um nicht allzu sehr zerkratzt zu werden. Sie hörten auf, stellten ihre Körbe ab und rissen sich die beengenden Kleider vom Leib; nackt, nussbraun, lachend liefen sie dann auf die Siedlung zu. Keine zwei waren einander gleich."

Die Idee der Gleichheit wird hier zurückgewiesen. Sie wirkt wie das "Klonen" als ein Horror, der nur in Begriffen des von billigen Vervielfältigungsverfahren beherrschten Warenkosmos imaginiert wird. Ihr steht eine ziemlich armselige Utopie gegenüber, die allenfalls für Leute machbar wäre, die den Zusammenbruch der Zivilisation in gemäßigten Klimazonen überstehen, nackt und niedlich. Die Vorstellung von der Wirkweise der beiden Produktivkraftgrößen Wissenschaft und Technik, die sich in diesem sonst so klug erzählten, von so überzeugenden und dichten Darstellungen der Gebrauchswertzerstörung durch die falsche Gesellschaft erhellten Buch äußert, ist offensichtlich halbgar und regressiv. So sieht der Fortschritt mit der Bourgeoisie aus: Bürger tun etwas Neues, aber sie haben ein schlechtes Gewissen dabei - denn sie eignen sich das Neue an, indem sie andere dafür arbeiten lassen und es ihnen zugleich vorenthalten. Wenn bei der "Innovation" zwischen Kernkraft und Computern irgendwo aus Tausend möglichen Gründen das Geringste schiefgeht, würden sie als Hinweise darauf verstehen, dass man die Lage falsch eingeschätzt hat, dass man einen neuen Wert in die eigenen prognostischen Gleichungen einsetzen muss, dass die arbeit anders organisiert werden muss. Es ist, als würde ein Verwirrter über eine vielbefahrene Straße mit zwei Bahnen und zwei Fahrtrichtungen gehen: Er schaut erst mal nach links, das ist seine Wissenschaft, da kommen die Autos her; dann rennt er rüber, wenn keins kommt, das ist seine Technik. Und dann steht er auf dem Mittelstreifen und sieht: oh je, jetzt kommen die Autos von rechts, was ist denn jetzt los, dann war ja alles falsch, was ich bis jetzt gemacht habe, da hätte ich am besten gar nicht erst anfangen sollen. Und schon kommt der zweite falsche Gedanke: schnell zurück, Umkehr, reaktionäre Zivilisationsflucht, Ekel vor der Moderne. Dann läuft er mitten in den Verkehr, und die Autos sollen schuld sein, dass das übel endet.

Man könnte sagen - wenn man sich die populären wie die avantgardistischen Werke der 70er anschaut, die ich zitiert habe -, dergleichen sei eben der Epochengeist gewesen. Dessen Grauen lag schließlich darin, dass sich abzeichnete, wie es mit der Industrie weitergehen musste. Aber nicht überall auf der Welt dachte (und dichtete) man dasselbe darüber. Ein deutscher Text aus dem Erscheinungsjahr von Kate Wilhelms "Where Late the Sweet Birds Sang" berichtet von einer anderen Zukunft, einer veränderten Gesellschaft - nicht im Blick auf die wiederhergestellte vorindustrielle Idylle wie bei Wilhelm, auf das kleine Entkommen, sondern als Aussicht auf eine globale Wandlung.

Bereits eine scheinbar nebensächliche Beobachtung bei einer Inspektionsreise am Nil gibt Aufschluss über das in der Erzählung formulierte Mensch-Natur-Verhältnis:
"Auf einer Untiefe rekeln sich graue menschenähnliche Wesen mit platten Gesichtern und vorgewölbten Bäuchen, wie Badende, und blinzeln herüber. Seekühe, Flusssirenen." Das Nichtmenschliche ist hier vermenschlicht, aber ohne Sentimentalität oder okkultismus. Keine vorwissenschaftliche Natur-Rhapsodik schwärmt vom Bewusstlosen - Vermenschlichung muss nicht Zurichtung zur Ware, zuletzt zum Plunder heißen.

"Das gesamte Territorium ist nach Landschaften aufgeteilt", erklärt ein "Generallandschaftsdirektor" in der Erzählung, "nicht in administrative Bezirke." Und die in diesen Landschaften vorhandene Natur ist nicht zahnlos. als etwa bei menschlichen Wohnstätten eine große Schlange gesichtet wird und sich jemand deswegen sorgt ("In der Nähe spielen Kinder!"), wird daraufhin geantwortet: "Keine angst, die tun der Schlange nichts."

Die Menschen dieser Welt haben ihre Macht begriffen und setzen sie verantwortungsvoll um, auch einander haben sie nicht mehr zu fürchten: "In unseren Städten gibt es keine Zeichen, welche die Verkehrsteilnehmer in die Rolle auf Signale reagierender Roboter drängen; dennoch ist die Unfallquote niedriger als bei zeichen-gesteuerten Systemen gleicher Verkehrsdichte. Die Fahrer übertragen, ihrer Bildung folgend, den Grundsatz der achtung anderer, selbst niederer Wesen auf ihresgleichen und fahren gut dabei. Tiernamen finden sich nicht auf der Schimpfwortliste."

Die Ungleichheit zwischen den Wesen ist also in dieser Vision nicht auf die Stufe von Kapitalverwertungsinstrumenten - von allem, was lebt - herunternivelliert, sondern nach oben hin aufgehoben: in Freiheit.
Wissenschaftlich produzierte Technik erweist sich dabei sogar als poesiefähig: "Das Wasser blüht"

Und die Kinder, die bei Kate Wilhelm nackt Beeren sammeln müssen, sind hier "mit einem Balsam gesalbt. Der wirkt gegen lästige Insekten ebenso neutralisierend wie auf die feine Witterung jagdaktiver Tiere." Der beste Satz steht genau an dieser Stelle der Erzählung, und er scheint auf den ersten Blick unvollständig: "Die Salbung macht immun gegen und verantwortlich für." In der Konstruktion scheint ein objekt zu fehlen, aber gesagt ist damit, dass die Natur eben nicht mehr ein bloßes objekt ist, sondern Partnerin ihrer jüngeren Schwester, der Gesellschaft

Der Text wurde im Sozialismus geschrieben. Er stammt von Erich Köhler, heißt "Im Paradies", steht im Band "Der Krott oder das Ding unterm Hut" und erschien 1976 in einer Gegend, die nur ein paar Kilometer weit weg war von meinem damaligen Zuhause, aber einen ganzen Kosmos weit entfernt: in der Deutschen Demokratischen Republik.