Das Poetische


Peter Hacks

Das Gesamtwerk
von Peter Hacks ist verlegt beim
Eulenspiegel Verlag, Berlin


Ansätze zu einer postrevolutionären Dramaturgie

erschienen 1972 in der edition suhrkamp

Vorwort

Kunst lebt von den Fehlern der Welt. Ob sie uns lachen oder weinen macht, wir belachen oder beweinen Abschaffenswertes. Ob sie die Welt schön abbildet oder häßlich, sie fordert den Vergleich mit der häßlichen Realität. Das begeistertste Lobgedicht hat seinen Pfeffer daher, daß es den Tadel am Unrühmlichen impliziert. Jedes Kunstwerk ist auf seine eigentümliche Weise vollkommen, und Vollkommenheit, weiß man doch, ist die Schwester der Langweile. Ästhetische Vollkommenheit aber ist nicht langweilig, sondern eine Beleidigung des Universums.
So ist alle Kunst kritisch, selbst die kritische, bei der freilich die inhaltliche Opposition zu leicht die poetische überlagert. Gerade die allgemeinsten Züge des künstlerischen Tuns - das Vermenschlichen des Stoffs, das Erzeugen von Nichtgewesenem, das Befolgen selbstgegebener Gesetze, das In-den-Griff-Kriegen des Störrischen und Stimmigmachen des Widerstreitenden - bewirken das Interesse, das die Menschheit nicht aufhört, an der Kunst zu nehmen: als an dem Vorschlag eines unentfremdeten, produktiven, freien, bewältigten, durch gegenwirkende Interessen nicht mehr entzweiten Lebens. Indem Kunst Unbefriedigendes auf zufriedenstellende Weise abbildet, ist sie selbst das entzeitlichte Abbild des Verhältnisses von Aufgabe und Lösung.

Die hier gesammelten Aufsätze stammen aus den Jahren von 1959 bis 1966. ( ... )
Des Verfassers Reflexionen sind im schlichten Stil und verständlich gehalten. Dennoch fehlt es ihnen an dem Vermögen zu überzeugen. Der Verfasser ist zu allen Überlegungen fähig außer zu langwierigen. Er kommt zu Ergebnissen oft auf verwickelte Weise, aber mitteilenswert erscheint ihm allein das Ergebnis. Was er sich vorher gedacht hat, meint er, läßt sich mitdenken. Er liebt - vielleicht zu sehr - Beweise, aber er haßt es, die Prämissen zu beweisen. Das heißt, daß der Verfasser Leser voraussetzt, die ohnehin zu den gleichen Ansichten gelangt sind wie er, oder die doch im Begriff sind, dorthin zu gelangen. Aber für wen anders schreibt man? Glaubt da noch wer an die Macht der Argumente?
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Aber es reicht, denkt der Verfasser, wenn er das Publikum mit seinen Ansichten bemüht; er mag es nicht noch mit der Weise bemühen, auf die seine Ansichten zustande kamen. Übrigens kann auch in dem ziemlich kurzen Zeitraum dieser acht Jahre, welche der Verfasser für fette hält, noch Bewegung wahrgenommen werden. Für den, der zweifelt, ob er das Buch lesen will oder nicht, sei das bisherige Ende dieser Bewegung mitgeteilt.
Kunst lebt von den Fehlern der Welt; hieraus folgt nicht, daß die Kunst um so besser würde, je fehlerhafter die Welt ist. Offenkundige Mißstände verlangen politische Lösungen, nicht poetische. Bloße Schweinereien wollen beseitigt, nicht bedichtet werden. Kunst, um Kunst zu sein, braucht, außer Widersprüchen, auch eine sinnlich faßbare Einheit derselben, wie das die griechische Polis war, der englische Absolutismus oder - in Gottes Namen - die deutsche Hoffnung auf einen bürgerlich-feudalen Klassenkompromiß. Eine solche Einheit hebt die Kunst über die Armut naiver Parteilichkeit hinaus und befähigt sie zur Idee der Totalität.
Die meisten Arbeiten dieses Bandes kamen nach 1961 zustande, in jener Zeit also, wo der Sozialismus seine Fähigkeit bewies, für eine moderne Industriegesellschaft zu taugen. Mittels sichtbarer Beispiele begann er zu zeigen, daß er nicht mehr nur Negation der Abscheulichkeiten des Kapitalismus war, sondern vielmehr die Aufhebung von dessen Vorzügen; er wurde, was er in der Theorie seit jeher war, erstmals in der Praxis: ein System von Maßnahmen zur Befreiung der Produktivkräfte vom sie beengenden Privateigentum. Dieser weit übers Jahrhundert hinausgreifende Erfolg der DDR, in Verbindung mit ihren höchst lebendigen Widersprüchen, ermöglichte die Neuentdeckung der Kunst und die Wiederaufnahme der größten ästhetischen Fragen.
Es gibt in der Geschichte keine Gleichbeschaffenheiten; was sich ähnelt, ist doch Verschiedenes. Der grundsätzliche Unterschied zwischen der Jetztzeit und anderen kunstfreundlichen Epochen besteht darin, daß von dem fruchtbaren Widerspruch zwischen Fug und Unfug in allen vormaligen Gesellschaftszuständen der Unfug die Hauptseite war, und daß es heute der Fug ist. Mit diesem Glück hatten wir lange viel Ärger, das war unsere neue Frage. Wie behandelt Kunst Untadeliges?
Der Verfasser meint, daß auch die beste aller wirklichen Welten einen Fehler behalten muß: den, daß sie schlechter ist als die beste aller möglichen Welten. Gegenstand der jüngsten Kunst, glaubt er, ist das Verhältnis der Utopie zur Realität. Die Utopie hat keine andere Weise zu existieren als in einer sich zu ihr hin entwickelnden Realität; indem sie so existiert, existiert sie schon nicht mehr als solche. Der einzige der Realität erreichbare Zustand von Vollkommenheit ist der Prozeß des.sich Vervollkommnens, also ein unvollkommener Zustand.
Aus dieser befreundeten Feindschaft des Denkbaren zum Machbaren ergibt sich eine unendliche Zahl von Rätseln, heitern und traurigen, in der Tat meist heitern. Wir leisten uns ja Unersättlichkeit, weil wir schon nicht mehr Hunger leiden. Die hohe Leistung wird verfremdet durch die höhere Forderung. Die unwürdige Zwischenlösung erhält bessere Noten als die würdige Lösung, die sich als Endlösung ausgibt. Sinnlichkeit (eins der beliebtesten Themen der DDR-Kunst) wird beschrieben in ihrem dreifachen Wesen als statthabendes Glück, Störung der Ordnung und Vorwegnahme der Utopie. Das Individuum (die wichtigste sozialistische Errungenschaft) ist uns nie eman-zipiert und zugleich nie soziabel genug.
Der Verfasser bleibt hier fragmentarisch, er zeigt nur eine Richtung an. Er wirft der Welt vor, daß sie ist, und indem er diesen Vorwurf, der ein Lob ist, erhebt, weiß er der Kunst eine gesicherte Zukunft

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