Im Rahmen der vielfältigen Goethe-Ehrungen der DDR fand in Weimar vom 23. bis 28. März 1982 ein Kolloquium mit internationaler Beteiligung statt. Dabei ging es, wie Prof. Dr. Werner Schubert, Generaldirektor der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur, erklärte, nicht so sehr darum, "ein Goethe-Bild zu entwerfen, das ein für allemal und für jedermann gültig sei. Vielmehr ging es um neue Fragestellungen, die sich mit Notwendigkeit aus neuen gesellschaftlichen Entwicklungen und den Widersprüchen unserer Zeit ergeben." Um Goethes Werk nutzen zu können, das wurde in der Diskussion mehrmals deutlich ausgesprochen, muß nicht zuletzt das individuelle Bedürfnis nach Aufnahme und Aneignung geweckt und gefördert werden.
Während des Weimarer Kolloquiums hatten wir die Gelegenheit zu einem Gespräch mit dem DDR-Schriftsteller Erich Köhler. 1928 in Karlsbad (Karlovy Vary) geboren, nach nicht abgeschlossener Bäcker-, Schneider- und Malerlehre Landarbeiter und Wismut-Kumpel, lebt er heute in Alt-Zauche, Kreis Lübben im Bezirk Cottbus. Mit seinen Romanen und Erzählungen hat er seit der Mitte der sechziger Jahre als engagierter Erzähler und kritisch-reflektierender Zeitgenosse auf sich und uns aufmerksam gemacht.
- Ich bin kein moderner Tasso
Outsider unter den Goethe-Experten:
der Schriftsteller Erich Köhler- Was veranlaßte Sie, am Goethe-Kolloquium teilzunehmen?
E. K.: Der erste und simpelste Grund: Ich bin von den Veranstaltern eingeladen worden. Das hat mich natürlich sehr gefreut. Der zweite Grund: Ich bin von Natur aus ein - sagen wir - Goethe-"Fan", der Mann mit den trockenen Erbsen im Schädel, der seinen Kopf in ein Meer taucht, das "Goethe" heißt, und dem nachher die aufquellenden Erbsen den Schädel sprengen, (Dieser Bild-Vorgang ist einem Vierzeiler entnommen, ich weiß aber jetzt nicht, wer sein Verfasser ist.) Sie müssen wissen, daß ich sehr spät mit dem Schreiben anfing, mit 30 oder noch später. Die Schule - acht Klassen - hat mir von alledem, Kunst und Literatur, nichts vermittelt. Mein Weg durch die Literatur begann beim Abenteuer und dem Spannenden: Stevenson, Jack London, Edgar Allan Poe. Irgendwann bekam ich auch den "Faust" in die Hände - ein gewaltiges Leseerlebnis für mich. Das ist doch jetzt eine interessante Zusammensetzung - Poe und Goethe. Der dritte Grund: "Faust" habe ich noch nie auf der Bühne gesehen. Das Programm des Kolloquiums sah den Besuch der Aufführung beider Teile vor. Allerdings bin ich mit der Inszenierung am Deutschen Nationaltheater gar nicht zufrieden, zuviel Klamauk, zu wenig Sinn für die große Menschenwürde, mit der Goethe durch den "Faust" zu uns sprechen will; letztere sollte nicht zusammen mit falschem Pathos demontiert werden.
Ein vierter Grund: Als Optimist rechnete ich, Schriftstellerkollegen zu begegnen. Ich dachte, wenigstens 25 Prozent der Teilnehmer eines Goethe-Kolloquiums wären Schriftsteller, Künstler. Sie fehlten fast ausschließlich. So bin ich ein bißchen in die Rolle eines Outsiders geraten. - Endlich muß ich als einen Grund mein Bedürfnis nennen, durch den geistigen Austausch mit Wissenschaftlern, durch die Information über den Stand der Goetheforschung zu lernen.- Was können Sie für sich und Ihre Arbeit mit nach Hause nehmen?
E. K.: Ich habe die Plenarreferate und Diskussionen in meiner Arbeitsgruppe mit Aufmerksamkeit und Gewinn verfolgt. Das Referat von Wolfgang Heise "Goethesches bei Marx", das gibt mir bestimmt noch Anstöße für meine eigene Arbeit.
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Sie haben selbst mit einem essayistischen Beitrag unter dem Titel
"Dichter und Gral" in die Diskussion eingegriffen und damit aus Ihrer Sicht die Künstlerproblematik in der sozialistischen Gesellschaft prononciert. Nicht zuletzt durch Ihren Tassso-Bezug gewann der Disput in der Arbeitsgruppe "Tasso" an Spannung und Reiz. Sind Tassos innere und äußere Konflikte auch die Ihren? E. K.: Nein, ein moderner Tasso bin ich nicht, weder im Vergleich zu der historischen noch zur Goetheschen Figur. Natürlich ist das Verhältnis des Dichters zu seiner sozialen Umwelt ein aktuelles Thema, und es wird solange aktuell bleiben, solange es eines von beiden gibt. Wo und vor allem wie befindet sich ein Künstler in seiner Gesellschaft? Mit der Antwort auf diese Frage für den Sozialismus / Kommunismus wird die Position von Kunst in unserem Leben fixiert. Ich bin der Meinung, ein Schriftsteller in unserer Gesellschaft kann und sollte nicht mehr nach quasi kapitalistischem Muster für seine Arbeit bezahlt werden. Wir müssen gegen den bürgerlichen Begriff vom Künstler antreten: Der Künstler als derjenige, der durch seine Produktion innerhalb einer ordentlichen, normalen Umwelt zum Außerordentlichen, Einzelnen wird. Also wieder der Tasso-Typ, der, sich als Genie verstehend oder mißverstehend, das Recht einer Sonderbehandlung fordert. Doch selbst Tasso handelt damit unrecht. Um wieviel weniger habe ich oder ein anderer, der zwei, drei Bücher geschrieben hat, das Recht, sich als etwas Besonderes zu begreifen. Das wäre eine aufgeblasene Autorenschaft und bei unserer stattlichen Anzahl von künstlerisch tätigen Menschen von der Gesellschaft gar nicht zu, verdauen. Die Beurteilung der überdurchschnittlich künstlerischen Leistung entzieht sich dem Subjekt wie den Zeitgenossen. Nach meiner Erfahrung investiert ein Autor in ein Buch nicht mehr Phantasie, ist sein Schöpfertum nicht größer als die geistige Arbeit einer Ingenieurs, der eine Turbine mit zweiprozentig erhöhtem Wirkungsgrad konstruiert hat.
- Aus diesen Reflexionen haben Sie für sich eigenwillige Konsequenzen gezogen, die unter Schriftstellern der DDR auf Zu- und Widerspruch gestoßen sind.
E. K.: Ich arbeite in einem volkseigenen Gut, in einem Rinderaufzuchtbetrieb. Das heißt, ich bekomme ein festes Gehalt, dafür erhält der Betrieb meine Honorare von Veröffentlichungen. Zwischen mir und dem VEG ist ein genauer, ins Detail gehender Vertrag abgeschlossen worden. Ich will vorerst fünf Jahre auf dieser Basis arbeiten. Noch ist es aber nicht an der Zeit, darüber viel zu sagen. Eine solche Integration des Künstlers in unsere alltägliche Lebenswelt böte gerade jungen Schriftstellern materiellen Rrückenhalt und gewiß auch geistigen. Um auf Tasso zurückzukommen: Das fördernde Verhältnis von Fürst und Dichter, wie es Goethe schreibt, kann doch heutzutage nur im Verhältnis von Betrieb und Dichter bestehen. In einem sozialistischen Großbetrieb konzentriert sich mehr materielle Gewalt als einst in dem ganzen Herzogtum Ferrara.
Größer als die Autorität eines Mäzens ist die Autorität unserer Produktionsverhältnisse. Das sollten wir erkennen und dementsprechend unsere Künstler in die soziale Wirklichkeit einordnen. Ich will mit meinen Vorschlägen keine Zwänge ausüben, auch keine Rezepte verteilen. Es sind, wie gesagt, Vorschläge zur Diskussion.
Edgar Sommer
aus:
Thüringische Landeszeitung vom 17.04.1982