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Auszug aus: Heiner Müllers PHILOKTET
 

 


(Nach der Ermordung des Philoktet
droht die Mission von Odysseus und Neoptolemos zu scheitern)

 
...
 
NEOPTOLEMOS
Was für ein Schatten schwärzt den Tag?
ODYSSEUS                                    Das Volk
Der Geier sammelt sich zur letzten Arbeit
Der eine Dienst verlangt den andern. Steine.
 
Neoptolemos bringt Steine.
 
Was von ihm blieb nach unsrer Arbeit und
Nicht bleiben wird, im Bauch der Vögel nicht
Soll es den Weg gehn, den das Fleisch nicht kennt
Wo das Geteilte sich versammelt endlich
Die Brust den Nacken deckt, der Fuß den Scheitel.
Mit Steinen deck ich, was ich auf den Stein warf.
 
Tun es.
 
Den Bogen laß heraus, er braucht ihn nicht mehr.
Auch macht er wohl den Geiern keinen Hunger.
Ungern mein Leben dank ich solchem Tod.
NEOPTOLEMOS
Und nicht gern gab ich dirs. Und nicht für lang wohl.
Sein Arm, der nichts mehr hält, hielt tausend Speere.
ODYSSEUS
Das findet sich. Nimm seinen Bogen auf.
NEOPTOLEMOS
Austreten wird der Troer unsre Städte
Folgt uns nach Troja der nicht, sagtest du.
ODYSSEUS
So sagt ich. Und jetzt sag ichs anders. Nämlich
Der kommt uns nicht mehr, sondern geht entbehrlich
Mit heilen Füßen unten durch den Stein
Der Unentbehrliche in sieben Stürmen
Und ausgehn muß der Krieg uns ohne ihn.
Nimm seinen Köcher auch, ein Pfeil ein Troer.
 
Ich wollt mich nähm ein Gott in seinen Schlaf.
Roll mir den Himmel aus den Augen, Donner
Reiß mir die Erde von den Füßen, Blitz.
 
Er tuts nicht Gehn wir also, tauschen wieder
Den wenig festen Grund mit dem bewegten
Das Bild des kaum Begrabnen mit dem Blick
Der Leiber, die den Grund begraben, der
Sie zu begraben nicht mehr ausreicht, zu viele
Getötet und zu schnell. Und nicht genug
Und schnell genug nicht, unser ist die Stadt
Nicht eh die Mauern übersteigt das Tote.
Und laß uns schnell gehn, eh der Gott voreilig
Merkt mein Gebet und schlägt in Schlaf mich wirklich
Mit schwarzem Flügel und ein Schlächter weniger
Kehrt heim auf jene Küste, die von Blut schwappt.

   ...
 

Peter Hacks: Unruhe angesichts eines Kunstwerks
("Philoktet" von Heiner Müller)

aus der Aufsatz-Sammlung "Das Poetische"

 
Diese vollkommene Tragödie ist von vollkommener Bauart und in vollkommenen Versen verfaßt. Drei Vollkommenheiten; jede von ihnen liefert mir Antworten und, seltsamerweise, Fragen.
Hier ist eine Tragödie geschrieben; kann man Tragödien, schreiben? Eine Tragödie benötigt einen bewußten Helden, einen Helden also, der, was er tut, täte, auch wenn er wüßte, was er tut. Das läßt sich vom Philoktet nicht sagen; ihn zerstört Starrsinn, nicht Notwendigkeit. Müllers Stück ist besser als das des Sophokles, aber ich meine, daß Sophokles recht hatte, als er den tragischen Ansatz zur Katastrophe zu treiben sich weigerte; die Konfliktlage verlangt Ausgleich auf der höchsten historischen Ebene. Über diesen besonderen Fall auf Lemnos jetzt hinaus: gilt dasselbe nicht für alle ehemals tragischen Stoffe? Die Opfer der antagonistischen Widersprüche, die schicksalhaft scheiterten, weil sie keinen Ausweg sehen konnten - wirken sie für uns nicht alle ein bißchen kurzsichtig? Folgt Tragik allein aus der geschichtlichen Konstellation des Vorgangs, oder folgt sie nicht vielmehr aus dem geschichtlichen Bewußtsein des Beschreibers? Weiß das Müller, und erklären sich hieraus die unübersehbaren satirischen Züge in seinem Stück?
Hier ist eine Fabel nach einer alten Fabel. Sie ist reicher, komplizierter und geschlossener als diese, aber sie ist, wenn man so sagen will, von der herkömmlichen Sorte. Eine solche Fabel, zeigt sich, kann den gründlichsten Ideen zum Körper dienen; sie ermöglicht Totalität. Wir gehen heute, wenn wir eine Fabel machen, immer noch mehr von der Gründlichkeit unserer Ideen aus als von der dramatischen Ergiebigkeit ihrer Bestandteile, und die Fabeln, die wir so erfinden, sind schwächer als die, die wir vorfinden. Sollten wir nicht einsehen, daß die herkömmliche Sorte die richtige ist?
Hier ist eine Sprachkunst, die ich nicht nach Gebühr loben kann, weil ich sie übers schickliche Maß loben müßte. Keiner handhabt so souverän wie Müller den Vers als Grenzereignis. Der Umsiedlerin-Vers, das war die äußerste Gewalt, die man einem Vers antun konnte, ohne daß er aufhörte, ein Vers zu sein. Der Philoktet-Vers, das ist das Höchstmaß an innerer Spannung, das man einem Vers zu-muten kann, ohne ihn der Qualität erlesener Reinheit zu berauben. Klassische Literatur spiegelt die tatsächliche Barbarei der Welt im Stoff wider und ihre mögliche Schönheit in der Form; diese Maxime scheint im Philoktet erfüllt. Dennoch zögere ich, das Stück klassisch zu nennen. Die Schönheit dieser Verse hat von der Farbe des Gegenstandes. Sie ist utopisch und aber zugleich archaisch, anmutig und düster, ungeheuer in beiden Bedeutungen des Wortes. Ist am Ende der Philoktet-Vers in seiner mehr als menschlichen Schönheit barbarisch?
Kunstmeinungen interessieren uns, wenn sie uns bestätigen. Ein großes Kunstwerk kann uns irremachen. Wir lesen Philoktet und erkennen die Verbesserungsbedürftigkeit unserer Gedanken über die Kunst.

lesen Sie hier:

"Froschkönig" von Heiner Müller,

zu finden im Theaterheft zu Erich Köhlers "Der Geist von Cranitz"