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Dieter Noll
31. Dezember 1927 - 6. Februar 2008
Dieter Noll

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In Liebe leben
Gedichte
1962 - 1982

Aufbau-Verlag
Berlin und Weimar  1985


Auswahl aus dem Inhalt:

Ich will kein ewiges Gefühl besingen

Traum und Leben
1 Träume sind Schreckenskammern der Angst
2 Leben ist Sehnsucht, Suche und Sucht

Für ein Mädchen namens Karen

Abschiedsworte
für eine junge Frau

1 Ich warte, daß du das Schweigen brichst
2 In Liebe leben: was wäre denn daran so schwer
3 Mich trifft kein Vorwurf unterlaßner Handlung
4 Rechne mein Leben auf: Wann war ich Kind
5 Entsinne ich mich meiner Kindheit recht
6 Den minder Werten muß man zubereiten
7 Die Welt, die mich erzeugte, lag in Trümmern
8 Die Frage scheint dir wenig angemessen
9 Da ich mich dir im Umriß anvertraute

Laß uns Gefährten sein

In Erinnerung Beate

Auszug aus dem
Gedicht-Band:

Traum und Leben


Peter Hacks
Über Noll, für Noll

 


»Enttäuschung ist, wenn einer nicht der Erwartung des anderen entspricht, den Entwurf nicht verwirklicht, den man sich im Inneren von ihm gemacht hat,
wenn einer wagt,
Mensch statt Wunschbild
zu sein. «
Dieter Noll in "Kippenberg"


Dieter Noll am Schreibtisch Auszug aus
dem Gedichtband
In Liebe leben

Traum und Leben


Noll war im letzten Kriegswinter sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Die »Abenteuer des Werner Holt« sind die Fronterlebnisse eines Sechzehn- oder Siebzehnjährigen. Die Deutschen liebten die Geschichte des kleinen Nazisoldaten, der zu minderjährig ist, um für Schuld im Ernst in Frage zu kommen. Sie entliehen dem juvenilen Täter seinen Hauch von Unschuld, und sie profitierten ein wenig von seinem poetischen Freispruch. Kaum je hat sich ein Volk in einen Bestseller so hineingeschmissen.

Es ist klar, daß der Autor die Publikumsgunst für seinen Erstling genoß. Wahrscheinlich ist, daß er sie irgendwann zu genießen aufhörte. Seit dem Erscheinen des »Holt« kann Noll von den Einkünften aus ihm leben, aber daraus, daß er von dem Buch bis heute lebt, folgt ja nicht, daß er es bis heute liebt.

»Es gibt da unter Ihren Schriften eine, Herr Goethe«, sagte Napoleon am 2. Oktober 1808, »die ich, soviel will ich Ihnen verraten, bereits sieben Mal gelesen habe und mit Gewinn immer wieder lesen werde.« - »Ihre Majestät haben die Güte, mich zu hoch zu ehren«, sagte Goethe. »Der Titel des besagten Werkes«, fuhr Napoleon fort, »lautet: >Die Leiden des jungen Werthers Tatsächlich war der »Werther« volle 35 Jahre vor diesem Gespräch, das ich so ziemlich Talleyrands »Erinnerungen« entnehme, erschienen. Goethe hatte in dem drittel Jahrhundert seine Pflicht nicht vernachlässigt. Er hatte ganz ausnehmende Romane, Dramen und Epen in die Welt gesetzt; im Augenblick bereitete er die »Wahlverwandtschaften« vor, die einem gutgearbeiteten Stück Prosa bereits sehr nahekommen würden. Nicht jeder, will ich andeuten, wird sich glücklich schätzen, dem in seinen Kinderjahren, ein »Werther« zustößt und lebenslang anhaftet, und ich tue hiernach wohl besser, nicht allzu stark zu betonen, daß jeder, aber wirklich jeder DDR-Mensch den »Holt« gelesen hat.

Der Held im »Kippenberg« ist ein Professor, kein Schüler wie Holt. Die Romane haben den Verfasser und außer dem so gut wie nichts gemeinsam.

Die Kippenberghandlung ist eine ästhetische Leistung, keine biographische Erfahrung. Der Autor hat sie hergestellt, nicht sich von der Seele geschaufelt. Das Muster des sozialistischen Gesellschaftsromans ist deutlich angegangen. Der Stoff greift in die Mitte der Gesellschaft: nicht »in die Produktion« nämlich, sondern in die Produktivitätsfrage. Es ist die Geschichte eines Gelehrten, welcher die Theorie und Praxis seiner Wissenschaft mit dem in der Politik erreichten Bewußtseinsstand der DDR in Übereinstimmung zu bringen trachtet.

Das war alles nicht leicht zu machen und wurde dadurch erschwert, daß die Klassenlage der 60er, worin der Plan zum »Kippenberg« entstand, dem Verfasser in den 70ern, vom VIII. Parteitag, unter dem Hintern weggezogen worden war. – Sie erkennen sicher, daß, wenn der »Holt« Nolls »Werther« war, der »Kippenberg« sein »Faust« wurde. Auch der »Faust« erhält seinen Reichtum und seine Schwierigkeit daher, daß sich nicht feststellen läßt, in welcher Epoche er spielt.

Vom »Werther«-Typ sind die Bücher, die sich gleichsam von selber schreiben. Vom »Faust«-Typ sind diejenigen, die sich beim besten Willen nicht schreiben lassen. Ich will den anspruchsvollen Vergleich nicht ins Müßige hineindehnen. »Holt« ist von Dieter Nolls Hauptwerken das erfolgreichere, »Kippenberg« das besser geschriebene und das wichtigere. Wenigstens in dem Punkt sind Kunstwerke barmherzig, daß sie uns nicht zwingen, uns zwischen ihnen zu entscheiden.

Nolls Werdegang ist so nach der Regel, daß er fast nur in der DDR möglich war. Der Abiturient studierte die Germanistik und andere Kunstwissenschaften, anschließend ging er ins Verlagswesen. Sein erstes Buch, der »Holt«, erschien in seinem ersten Verlag. So normal, so berufsmäßig läuft das hier ab.

Er ist in erstaunlichem Maße das Gegenteil eines Schöngeists. Mit musischen Sachen befaßt er sich ohne Not kaum. Seine Aufmerksamkeit gehört Gegenständen wie dem Krieg gegen Nazideutschland und den Naturwissenschaften. Wenn ich eine Auskunft über einen Sowjetmarschall oder über organische Chemie benötige, wende ich mich an Noll. Unter den Fächern der Gelehrsamkeit verehrt er die Systematik. Darauf muß einer erst einmal kommen. Viele von den Jahren, während deren ich ihn kenne, widmete er dem Handwerk des Edelsteinschleifens, und seine Werkstatt ähnelte der, die die encyclopédie abbildet.

Noll dichtet besonders ungern, selbst für einen Berufsschriftsteller. Er haßte es, den »Kippenberg« zu schreiben, aber ich glaube, er schrieb nicht einmal den »Holt« gern. Er gebiert Text so widerstrebend und unter solchen Erschütterungen wie der Berg Ätna seine Lava. Zwischen seinen Arbeiten klaffen oft große Abstände. Keinerlei Schaffensdrang hindert ihn, die Feder beiseite zu legen. Dieter Noll, da müssen wir uns um ihn nicht sorgen, kann die Literatur mühelos lassen. Wenn er jetzt 75 wird, aber Dinge der Art fechten ihn wenig an.

Die vornehmsten Leidenschaften seines Lebens, will mir scheinen, waren das Segeln und der Kommunismus. Als 1989 die Akademie der Künste der DDR sich versammelte, um der Konterrevolution beizutreten, ging Noll zu meiner Überraschung hin, und sein Hingehen bewirkte, daß der Eintritt der Akademie in die Konterrevolution mit einer, Nolls, Gegenstimme beschlossen worden ist.

Wenn alle untreu werden, Noll nicht.

Traum und Leben

1
Träume sind Schreckenskammern der Angst,
leuchtende Räume der Wunscherfüllung.
Träume sind immer brutale Enthüllung
dessen, wonach du verlangst.

Träume bei Tage und Träume bei Nacht
sind nur im Ausmaß der Freiheit verschieden:
Diese sind, was du zu denken vermieden,
jene, was du gedacht.

Träumst du am Tag immer kühner und freier,
was du dir wünschst, was dir nie widerfuhr,
hebt sich vom Nacht-Traum allmählich der Schleier.

Wirkliche Freiheit hast du erreicht,
wenn der Nacht-Traum, frei von Zensur,
dem Tagtraum gleicht.

2
Leben ist Sehnsucht, Suche und Sucht,
Zwang und Notwendigkeit zu entrinnen.
Träume sind Expeditionen nach innen,
Abkehr, Zuwendung, Heimkehr und Flucht.

Leben ist Reiz, Reaktion und Verzicht,
Weigerung, daß wir Erfüllung gewähren.
Traum ist Dasein im Imaginären,
ins Leben hinüberleuchtendes Licht.

Ohne Träume sein, heißt hinter Gittern
im Zuchthaus überkommener Normen
lebenslänglich nach Freiheit zu Schrein.

Traum heißt: Um nicht stumm zu verbittern,
uns gemäße Gesetze zu formen,
danach zu leben und Mensch zu sein.

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