Eine Utopie
als großes Sinn- und Gegenbild


 
Rezension im "Neuen Deutschland"
vom 17./18.12.1977
von Dr. Peter Gugisch

Hinter den Bergen liegt das kleine Dorf Ruhin. Von diesem Dorf erzählt Erich Köhler in seinem jüngsten Roman. 1945, beim Neubeginn, wird Ruhin „vergessen“: Während ringsum die ersten Anfänge einer neuen Ordnung entstehen, ruft der Laienprediger Armin Rufeland die Ruhiner auf, ein Gemeinwesen nach den Vorstellungen Thomas Müntzers zu errichten. Durch gemeinsame schwere Arbeit, durch Besitzlosigkeit und Frömmigkeit will Rufeland seine Mitbürger läutern. Die Niederkunft der Umsiedlerin Alma Teutschke und die Geburt ihres Sohnes Hänschen sind ihm ein Zeichen: Was sich in einer Mainacht des Jahres 1945 in der Scheune des Bauern Konrad Wunderow zuträgt, ist für Rufeland die Wiederholung dessen, was christliche Überlieferung aus Bethlehem übermittelt hat.

Rufelands Verhalten findet offene Ohren. Der Gottesstaat, den er verkündet, beschäftigt die Ruhiner wenig, aber die praktischen und sehr handfesten Vorschläge des Predigers, gemeinsam die Hinterlassenschaft des Krieges zu überwinden, rütteln sie aus Erstarrung und Ratlosigkeit. Und so geschieht es, daß die christliche Utopie hinter den Bergen zum Wettlauf mit der neuen Zeit antritt.

Erich Köhlers Roman ist der weitgespannte Versuch, dreißig Jahre unserer gesellschaftlichen Entwicklung in einem großen Sinnbild und Gegen-Bild zu erfassen. Der fast skurrile Grundeinfall erweist sich als tragfähiger Ansatz für ein großes episches Werk, das für mich Köhlers erzählerisch bestes ist und einen wichtigen Beitrag zur jüngsten Prosa darstellt. Der geschichts­philosophische Ansatz, die erzäh­lerische Souveränität und der überlegene Humor des Buches zeigen Köhler auf der Höhe seiner Möglichkeiten. Aufschlußreich ist, wie der Autor das Wissen und die historische Einsicht seines Lesers in Ansatz bringt. Er ist be­ständig aufgerufen, seine eigene geschichtliche Erfahrung zu dem Erzählten ins Verhältnis zu set­zen. Dabei vermeidet Köhler jede simple Konfrontation: Rufelands Konzeption wird als großer, wenn auch irriger Versuch vorgestellt, der der Aufmerksamkeit wert und des Vergleiches würdig ist.

Wenn am Ende des Buches nach vielerlei Umwegen, Verzögerungen und Anläufen Ruhin den Anschluß an die Gesamtentwicklung gefunden hat, wenn die „Jungfrau“ Alma als geschätztes Mitglied der Feldbaubrigade durchs Dorf geht (das vor den Bergen längst den Namen Teutschkendorf bekommen hat), wenn ihre zahl­reichen (vaterlosen) Kinder als geachtete Mitbürger ihren Platz gefunden haben, dann wird der Leser in dem Bewußtsein entlassen, daß die Ruhiner Utopie nützlich, weil nachdenkenswert war.

Aus der Differenz zwischen Ruhin und der Welt erwachsen die Moral und das Vergnügen des Buches.

Auch Köhlers neuer Roman fordert den Leser zu geistiger Anspannung heraus. Er ist keine leichte Lektüre. Aber die anfängliche Mühe lohnt sich: Wie Köhler mit der Romanform „umgeht“, wie er Mittel einsetzt, Erzähltech­niken erprobt, zitiert und zuwei­len ironisiert, wie er den ausgedehnten Stoff organisiert und überschaubar macht, das ist des Lesens wert.

aus: "Neues Deutschland" vom 17./18.12.1977

Erich Köhler:
Hinter den Bergen
Kulturmaschinen Verlag.
420 S., brosch., 19,90 €.


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