Sandkastenspiele
»Radauer oder
Aufstieg und Fall
von Politanien«
- nachgelassener Text
Erich Köhlers
von Horst Haase
Fantastisch geht es häufig zu in Erich Köhlers Romanen und Erzählungen. So auch in diesem Stück Prosa, das sich in seinem Nachlass fand. Kein Harry Potter zwar und nicht die fabulöse Bilderwelt der Cornelia Funke, aber auch hier sind es Kinder, die unter fantastischen Umständen handeln, reden spekulieren und deren Naivität, Neugier und Zuversicht dem Ganzen Glaubhaftigkeit verleiht. Und mehr noch: In ihren Visionen wird die Welt der Kindheit zum Ideal, demzufolge alle Menschen Kinder sind und bleiben. Ungläubiges Gelächter zum Schluss. Damit gibt Erich Köhler den Realitäten wieder den ihnen gebührenden Raum. Dieser Schriftsteller liebte es, seine Gedanken schweifen zu lassen, ein Spinner war er nicht.
Eine Viererbande dreizehn- bis fünfzehnjähriger POS-Schüler dringt auf einem verfallenden Friedhof erkundungsfreudig in das Grab eines Schriftstellers ein, der laut Inschrift "seine schönsten Geschichten mit in das Grab genommen" hat. In der bemoosten Grufthöhle finden sich ein Sandhaufen, in den später auch Knochenreste nebst Schädel zutage treten, sowie ein kindlicher Alien, der dort "schon immer" haust und sich als Bürger des antiken Troja vorstellt, das immer und immer wieder grausam zerstört und von ihm immer erneut aufgebaut wurde - elendes und doch untilgbar hoffnungsvolles Schicksal der Menschheit. Der Sand ist sein Baumaterial, aus dem nun auch die Kinder ihre Sehnsuchtsstadt erstellen, Stadt und Staat in einem, Polis-Politanien, wo es weder Banken noch Sparkassen gibt, keine Ausbeutung und keinen Konkurrenzkampf, nicht einmal Eigen-Heime, dafür Wohnpaläste, in denen alle gemeinsam wohnen, leben und lieben und wo alle für alles verantwortlich sind und ihre "Arbeitskunst" entsprechend ihren Fähigkeiten einsetzen. Dummheit und Faulheit sind kein Versagen sondern Gebrechen. Und alles mit viel Grün natürlich, weshalb in Politanien die "Diktatur der Forstarbeiter" herrscht, der Heger-Beruf am beliebtesten ist. Und selbstverständlich wird das Geld total abgeschafft.
Diese hoffnungsreichen Wunschfantasien der Kinder erstrecken sich auf alle Lebensbereiche, die gleichsam durchdekliniert werden. Planung und Mitbestimmung, Moral und partnerschaftliche Beziehungen, Erziehung, Lernen und Freizeitgestaltung, Architektur und Ökologie, Krankheit, Alter und Tod werden ins Auge gefasst, selbst das Militär und das öffentliche Reinigungswesen nicht ausgenommen. Moderne Technologien, hauptsächlich die Computer, gehören zu den entscheidenden Grundlagen dieses Traums von einer perfekten Gesellschaft. Fern jeglicher. Uniformität sind die Menschenkinder - schwarze, weiße, gelbe, braune - solcherart ANDERE geworden in diesem aufschlussreichen Denkspiel, das an die großen Utopien der Vergangenheit anschließt, von denen allein Charles Fourier hier ausdrücklich erwähnt wird. Die Vorstellungskraft des Autors, dieses Querdenkers und Spieltheoretikers, lässt nichts zu wünschen übrig.
Seine kindlichen Helden gewinnen deutliches Profil. Linda Lässig, die Älteste, das weibliche Element, "macht alles mit links", ist klug, und ihre Vorschläge sind besonders bizarr. Ludwig Labahn wirkt als der Baumeister, der unermüdlich im Sand wühlt, um seinen kühnen Vorstellungen ein Gesicht zu geben. Karli Wünscher, nomen est omen, ist der Kleinste, ein Flunkerheini, der zunächst dem Frieden nicht traut und sich lange an das nach oben führende Seil klammert, dann aber umso beredter seinen Ideen freien Lauf lässt. Der Anführer ist schon im Titel des Textes genannt. Er heißt Kurt Radauer, auch dies ein sprechender Name, fungiert als Erzähler des Geschehens und nicht zuletzt als der Pragmatiker, der die Luftschlösser der anderen zerstört, ihre Traumvorstellungen zurück auf den Boden der Tatsachen holt. Sie dann aber auch wieder gewitzt ergänzt und bereichert und so das Ganze kunstvoll in der Schwebe hält, es als ein gedankliches und poetisches Spiel entwickelt und doch die Realitätsebene nicht ignoriert. Sprachlich klingt der JugendJargon der späten DDR durch, auch Haltung und erkennbares soziales Milieu sind davon geprägt. Und terminologische Anspielungen en masse.
Damit ist schon deutlich, wovon diese Utopie inspiriert ist und wovon sie sich vor allem absetzt. Es ist der konkrete DDR-Alltag, der da gelebt, vor allem aber kritisch beleuchtet, distanziert verhandelt und ironisch vorgeführt wird. Dem "realen Sozialismus" wird angekreidet, woran alles es ihm fehlt, und gleichzeitig wird erwogen in welche Richtung er steuern müsste, wie gelungen er sein könnte - wenn jugendlicher Überschwang und dichterische Fantasie hier auch weit über das Ziel hinausschießen mögen. Ob Amtsanmaßung und Heuchelei, strenger Schulstress, kleinbürgerliche Entartungen, problematische Familienbeziehungen, verblödelndes "Frnsn" (das ist Fernsehen) oder strapazierte Natur und Mangel an ökologischem Verständnis - all dem werden denkbare Entwürfe gegenübergestellt, die auf bessere Lebensgrundlagen für alle hinauslaufen. Prinzipiell soll ausgeschlossen werden, dass "Leute einander verspotten, verhöhnen, beschimpfen, betrügen, verleumden, verleugnen, beneiden, verdrängen, einsperren, verjagen, schlagen oder gar töten". Ein großes, ein ideales Programm, das konzeptionell allerdings weit über die von der DDR gegebenen Anlässe hinaus geht und die Jahrtausendgeschichte der Menschheit - von Troja bis in die Gegenwart - reflektiert. Wer möchte dem nicht folgen.
Doch das gedachte Politanien hat es nicht leicht. Noch sind die Planungen im vollen Gange, als die Erbauer der schönsten aller Welten mit blutigem Krieg überzogen werden und ihnen Vernichtung droht, der erst im letzten Moment und unter Einsatz aller Kräfte begegnet werden kann. Die Zustände von Vorgestern drohen wiederzukommen. Eine Fiktion, die zeigt, dass den Akteuren jene Gefahren nicht fremd sind, mit denen Weltveränderer es schnell genug zu tun kriegen.
Die eigentliche Bedrohung jedoch, die dem Unternehmen ein Ende bereitet, hat ein überraschendes Gesicht. Es sind die Helden der "Revo" und der "Demoherrschaft", die "oben" indessen bestimmend geworden sind und die mit der schwarz-rot-goldenen Fahne heranrücken, in der ein rundes Loch Hammer, Zirkel und Ährenkranz ersetzt hat. Sie wollen den Friedhof zum Fußballplatz umgestalten und stöbern dabei die unterirdische Jugendgang auf, fordern ihr Erklärung und schriftlichen Bericht über ihr seltsames Tun ab. So muss Radauer zur Feder greifen - auf diese Weise das Vermächtnis des toten Dichters erfüllend. Und wir können es lesen. Angesichts des "grassierenden Utopiemangels" eine lohnende Lektüre. Dank den Herausgebern.
Erich Köhler:Radauer oder Aufstieg und Fall von Politanien.
Kulturmaschinen Verlag.
102 S., brosch., 12,80 €.