Das Ginkgo-Meer

Vom Ginkgo-Biloba vor der Berliner Humboldt-Universi­tät nahm ich ein gespaltenes Blatt. Da kam ein Ginkgo-Wächter und verwies mich. Wenn, schloß er unbestechlich, jeder, der hier aus und ein geht, so ein Blatt vom Baum nähme.


Ginkgo-Blatt

abgedruckt in:
Fünfundsiebzig Erzähler der DDR
Aufbau-Verlag,
Berlin u. Weimar (1981)
hrsg. auf der Grundlage der von Richard Christ und Manfred Wolter besorgten Anthologie
"Fünfzig Erzähler
der DDR"


Ich ging dort aber nicht ein noch aus, nur vorüber, sah den Baum, nahm ein Blatt, wurde gerichtet. Ausgerichtet. Da fiel ich glatt ins Meer. Ginkgo, Art asiatische Konifere, verliert im Herbst die Blätter, steht im Winter kahl wie die gemeine Lärche. Die Blätter liegen zuhauf, vergilben, modern. Schnee drüber. Nicht um gepflückt zu werden durch jeden, wachsen die Blätter am Baume. Ich klatschte ins Meer. Haushohe, tonnenschwere, flaschengrüne Wel­len. Woher. Laßt, liebe Leser, mich darüber hingehen. Sie waren vorhanden. Ist eine große Stadt nicht meerhaft. Unter ging ich nicht. Da war ein Alter. Der und ich, wir trieben. Woher der Alte. Was weiß ich. Gibt es nicht viele neben uns und deren Nebenhersein uns nicht wundert. Ich packte ihn am Kragen. Mehr trug er nicht auf dem Leib. Wir wurden emporgeschleudert und hinabgeworfen, auf­gewogen und getragen. Um die Ecke. Mein Ginkgo-Blatt hielt ich am Stiel fest mit den Zähnen. Der Alte hatte einen Zahn im Maul. Wogenmassen. Wir trieben gegen graue Klippen. Der Alte rief: Wir treiben gegen die Klip­pen. - Vielleicht, vielleicht nicht. Ich steuerte uns so gut es ging. Zwischen Klippen wurden wir an Land geworfen. Steiniges Kap. Landzunge der Verwüstung, meerumbrandet. Seewärts zu Geröll verrollte Trümmer, landwärts auf­stufende Mauerreste, umgestürzte Säulen, ragende Pfei­ler, geborstene Bögen, palmig sich öffnend - und schlie­ßendes Spitzbogengewölb. Zwischen Schutt lagen oder standen Engelsfiguren mit abgebrochenen Flügeln, abge­schlagenen Nasen, geborstene Eisenstrünke zwischen den Schultern. Landeinwärts wurden die Gemäuer gänz­licher. Gewölberippen schlossen sich über Kreuzgängen, Baulichkeiten stiegen zu sakraler Höhe empor. Kloster­ruine, schätzte der Alte. Meerwärts fortschreitende Auf­lösung, konstatierte ich und wähnte: Sollte mich nicht wundern, wenn landein noch wohnliche Abteilungen an­zutreffen wären. Erkundung. Von einem Schuttwall zwischen Mauerbreschen schauten wir endlich, wie über einen Riegel, auf die andere Seite hinab. Treppenstufen. Eine belebte Straße. Die führte zu einem eisernen Tor. Dahinter ein breites Gebäude. Davor ein Baum, Art Koni­fere, Ginkgo-Biloba. Wir sind, erklärte ich dem Alten, bloß um die Ecke geschwommen, von der Humboldt-Uni um die Ecke. Ah! machte der Alte.

Viele junge Menschen gingen auf der Straße dahin, daher. Ein Mädchen kam vorüber, Röckchen wie Knack­pelle, Hintern zum 'neinbeißen. Reinbeißen klänge besser, aber wer beißt schon irgendwo herein. Das ist meine Toch­ter, sagte der Alte. Sie darf mich hier nicht sehen. Er verkrümelte sich im Geröll. Ich pfiff. Sie blieb stehen und schaute sich um. Ich winkte ihr aus den Ruinen. Sie stöckelte zögernd über die Treppen. In einer Tochter, die zögernd kommt, wenn einer ihr zuwinkt, auch wenn es nicht der alte Vater ist, lebt ein allbereites Gefühl, ge­braucht zu werden. Töchter, die bereitwilliger kommen oder gar nicht, brauchen selber etwas. Ich half ihr über den Trümmerrand zu mir und sagte: Da ist ein einzahniger alter Mann. Das ist mein Vater, sagte sie. Ich muß ihn sehen. Darfst du nicht. Er hat bloß einen Kragen an.

Sie sah, daß ich triefte. Ins Meer gefallen, mit einem Blatt vom Ginkgo, klärte ich sie auf. Das Mädchen machte große Augen. Es stakelte auf die Straße zurück. Ich legte mich ruhig zwischen zwei gefallene Engel. Mädchen, die das Gefühl haben, gebraucht zu werden, kommen wieder. Solche, die nur selber brauchen, finden überall. Wir lagen wahrlich nicht verlassen auf der Halde. Die Tochter brachte eine Zeltbahn für den Alten, Hemd und Hose für mich. Sie betrachtete mein Koniferenblatt. Richtig vom Baum genommen, fragte sie und schaute wie ein Kind, das Märchen hört. Dafür bin ich hier gestrandet, antwortete ich. Dann streichelte ich ihr Haar. Ich küßte ihre Lippen. Schließlich biß ich ihr auch 'nein, ganz zärtlich. Wir lagen zwischen Sandsteinengeln. Bei Jorge Amado, ja, bei dem heißt es gelegentlich: „Er gab ihr die Rute." Ich gab ihr alles, was ich hatte. Milde Herbstsonne wärmte uns. Bald würden alle Blätter vom Ginkgo fallen. Und nun komm, sagte sie.
Wohin denn.
Fort von hier.
Ich, mit meinem gespaltenen Blatt.
Du gibst es ab, beim Ginkgo-Wächter. Der legt es zu den übrigen.
Nein, sagte ich.
Wir lassen das Blatt versilbern, schlug sie vor.
Nein.
Ich will es dir zuliebe an meiner Bluse tragen, lebenslang. Ich will es lieber zwischen meinen Zähnen halten, solange ich welche habe, entgegnete ich, und sie: Hier kannst du aber doch nicht bleiben, wovon willst du leben, ganz allein.

Ich bin nicht ganz allein. Du gibst mir, was ich brauche, und du kommst zu mir, sooft du willst oder kannst.

So wurde es. Sie versorgte uns redlich, oft zweimal am Tag. Ich gab ihr, was ich geben konnte, ebensooft. Mit scheuem Blick zurück stieg sie zu mir in den Schutt; mit erhobenem Haupt ging sie jeweils dahin.

Der Alte starb.
Ich wickelte seinen Leichnam in die Zeltbahn und senkte ihn ins Meer, aus dem er aufgetaucht war, um mir seine Tochter zu überlassen. Dein Vater ist nicht mehr, sagte ich zu ihr. Sie sagte: Wir bekommen ein Kind. Jetzt mußt du mir folgen, ins Reine.
Ich kann nicht.
Ich bitte, bitte dich.
Was soll ich dort, mit meinem Blatt im Maul.
Spuck es aus.
Wohin soll ich's spucken, auf die glatte Straße, wo es plattgefahren wird. Nirgendwo außer bei mir ist Platz für es. Dann siehst du mich nie wieder. Sie weinte, als sie mich verließ. Doch sie vergaß mich nicht. So manches Jahr lag ich einsam auf den Trümmern inmitten zweier Engel aus Stein. Der eine Engel lag auf dem Rücken und himmelte in die Wolken; der andere Engel lastete mit dem Gesicht zur Erde. Auf seinem Rücken ragte ein rostiges Armier­eisen. Ich verbrachte meine Lebenstage zwischen ihnen und rollte verspielt den Stiel meines Blattes, das nicht welkte, zwischen Zunge und Gaumen.

Hitze und Kälte hielt mir das Mädchen nicht fern, aber an einem verborgenen Platz hinter einem Säulenstumpf hinterlegte es getreulich, was es für mich an Speise und Trank erübrigte. Lange hin waren ihre Gaben dürftig. Sie schrieb: Ich studiere und habe obendrein das Kind zu versorgen.

Niemals lauerte ich ihr auf, wenn sie die Gaben brachte. Es wäre so leicht gewesen. Da sie mich nicht sehen wollte, durfte ich ihr nicht nachstellen. In der Dunkelheit tappte ich hin und nahm diebhaft das für mich Bereitgestellte. Jahre zögerten vorüber. Das Meer blieb sich gleich. Landeinwärts vollzogen sich seltsame Abbruchvorgänge. Trümmer landeten in meiner Umgebung: Säulenschäfte, Stuckputten, ihrer Funktionen beraubte Prunkkapitelle wurden herüberkatapultiert. Irgendwo wurden noch immer Engel gestürzt. Sie sausten durch die Luft und fuhren kopfüber, kopf unter neben mir in die Trümmer, oder sie wummsten bäuchlings nieder, oder sie landeten stolzund bodenerschütternd, wenn auch mit einiger Schräglage auf ihren Sockeln, zu Malen erstarrt. Zwischen ihren Schultern ragten Moniereisen, blauheiß noch von der Schweiß­brennerflamme. Oder es waren die geriffelten Eisen, mit denen die Engel eben noch fest mit ihren Emporen und Firsten verbunden, schnittblank durchsägt. Ich lebte nicht ungefährlich mit meinem Blatt auf der Halde. Die Gaben des Mädchens indes wurden reichlicher.

Auf reinlichen Bogen schrieb sie: Ich habe das Examen bestanden. Ich beschrieb die Rückseite des Bogens mit Versen. Von Liebe und Treue und Sehnsucht sangen die Strophen. Ich barg sie an meiner Brust. Die Zeit verging. Zum Zeichen ihres Gedenkens und Vermögens stellte das Mädchen mitunter eine Bouteille Branntwein in den heim­lichen Sendkorb, wobei sie Geschmack und Kenntnis in der Auswahl der Sorten und Marken verriet. Ich lebte nicht schlecht.

Dann kam der Tag. Ich lag zwischen den zwei gefallenen Standbildern und träumte in die Wolken. Stimmen kamen auf, kleine Schreie: Vorsicht. Hier bricht man sich ja den Hals. Drei Schatten fielen über mich, ein dünner, ein schlanker, ein breiter. Der dünne Schatten war der eines Kindes. Leichtfüßig, unbekümmert hüpfte es über mich in meiner Liegemulde hin, von einem Sandsteinengel zum _ anderen. Der schlanke Schatten gehörte der Frau. Sie trug den Rock jetzt länger und nicht mehr ganz so straff. An ihrer Bluse blinkte, Bijouterie, ein silbernes Ginkgo-Blatt. Der breite Schatten ging vom Manne aus. Da ein solcher dabeistand und das Kind über mich hüpfte, in wolligen, dicknahtigen Hosenstrümpfen, von einem Engel zum an­deren, schlaksig, staksig, so blieb ich in meiner Mulde liegen. Ich versuchte zu lächeln. Das ist er, sagte die Frau zu dem Mann. Aha! sagte jener. Zu mir sagte sie: Ich bin jetzt wieder schwanger. Um die Landspitze planschte das Meer. Tja, sagte der Mann. Über mich hüpfte das Kind. Der Mann sagte: Die Versorgung wird eingestellt. Nicht, daß wir uns das nicht leisten können. Alles muß seine Ordnung haben.

Verzeih mir, flüsterte die Frau. Da legte der Mann seinen Arm um ihre Schulter und führte sie sachte Hinweg. Man rief nach dem Kind, das widerstrebend hin folgte, wo alles seine Ordnung haben mußte. Die Wolken zogen weiter. Ihr wehender Vorhang teilte mir Schatten und Licht zu. Der Korb mit den Gaben blieb aus. Ich warf mich über jenen steinernen Engel, der mir die Brust und nicht das gebor­stene Halteeisen bot, und suchte ihn zu erwärmen. Seine Kühle durchdrang mich. Seine unnachgiebigen Formen erschütterten mich. Seine Gestalt, dieses starre, „Gotische S" folterte meine Wirbelsäule. Sein himmelnder Blick beleidigte meine Augen. Ich fühlte eine leere Branntwein­flasche voller Gedichte, verkorkte und warf sie ins Meer, das aufgluckerte, das mir, hastdunichtgesehen, eine volle Pulle zwischen die Klippen warf. Ich fühlte mich entkleidet bis auf den Kragen. Von da an verfertigte ich Botschaften ans Meer, sorgsam verschlossen in gläsernen Boilern. Mein einziges Thema war SIE. Aber es meinte immer nur mich. Ich schrie in die Boiler von Liebe, Treue, Einsamkeit, Hoffnung, Erwartung, Erfüllung, verkorkte und lauschte, wie's klingelte in den durchsichtigen Blasen. Das schleu­derte ich angewidert ins Meer und wunderte mich, daß mir's erklecklich vergolten wurde. Ich schlenderte täg­lich am Strand, wo Bautrümmer unermüdlich verrollt und zu Feinsand zerrieben wurden, und sammelte zwi­schen den Klippen, was von den Wellen für meinen Bedarf ausgeworfen wurde. Da wurde ich dreist und ersann immer neue Geschichten um mich und das Mädchen. Ich gab SIE anderen Männern, dicken, dünnen; großen, kleinen; zor­nigen, sanften; alten, jungen; gescheiten und dummen; zaghaften und kühnen ... Sie litt neben den Klugen, spielte mit den Dummen und umgekehrt. Sie demütigte die Zag­haften, machte Kühne zu Löwen und im Gegenteil. Sie machte die Großen größer, die Kleinen kleiner' und an­dersherum. Sie unterwarf sich den Brutalen, verzehrte sich f ür die Zornigen, setzte den Brutalsten den Fuß ins Genick. Sie machte die Wildesten zahm wie Lämmer - nur den Dümmsten fand sie kein Mittel, weder für noch gegen. Und ich, ich war in jeder Gestalt der Ihrige. Ich war, verzeiht, liebe Mitmenschen, der dümmste, klügste, sanfteste, wil­deste all der ihr zugeschriebenen Männer. Ich war ihr der mit der niedrigsten Stirn, der bepelztesten Brust, ihr ga­lantester Schmeichler, der brillanteste Schwadroneur, der feinsinnigste Gelehrte, der rüdeste Louis. Und sie stopfte mir doch immer wieder ihr saugendes „Verzeih mir" in den Hals. Meine Geschichten um uns hatten viele Gesichter, doch immer dieselbe Bewandtnis: Den Trennstrich. Ich zog die Geschichten auf Flaschen und pfefferte sie ins Meer. Da entdeckte ich, daß das Blatt zwischen meinen Lippen dünner wurde, durchsichtiger. Mit jeder Sendung ans Meer traten die feinen Blattfasern stärker hervor, wie Äderchen unter der Haut eines Schwindsüchtigen.

Ich hocke auf dem Rist der Halde in der Bresche zwi­schen zwei Pfeilern und starre hinab auf die Straße. Dort geht ein Mädchen. Es ist rank wie Birke, spannkräftig wie Haselnuß, stolz wie Phallus erectus. Es darf mich hier nicht sehen. Ich habe bloß einen Kragen an und ein faden­scheiniges Blatt zwischen den Zähnen. Mir bleiben zwei Möglichkeiten: Ich gehe zurück ins Meer und lasse mich treiben, bis einer hereinfällt mit einem frischen Blatt vom Ginkgo-Biloba im Maul. Dem zeige ich, falls er Kraft genug hat, uns zwischen die Klippen zu steuern, meine Tochter. Sie wird mir eine Zeltbahn bringen, und er mag sehen, ob er ihr folgen oder meinen Platz auf der Halde einnehmen will. Oder. Ach was. Ich geh jetzt hinab auf die Straße. Jeder muß seine Möglichkeiten ausschreiten. Es ist zu schade, ein frisches schwellendes Blatt zu versilbern, der Liebsten ein Denkmal: Das Meinige ist nur noch ein Netz verästelter Nervenstränge, ein feinsinniges Ader­geflecht. Darein verfängt kein stofflicher Glanz, nur zir­pende Wellen bringen diese Antenne zum Schwingen. Ihre Impulse teilen sich, durch den Blattstiel gebündelt, den Zähnen mit. Laß sehn, wie fest die noch sitzen. Ich gehe in meiner ganzen kragengeschmückten Nacktheit unbe­kümmert landein.

Erich Köhler
Das Ginkgo-Meer

abgedruckt in:
Fünfundsiebzig Erzähler der DDR
Aufbau-Verlag,Berlin u. Weimar (1981)
hrsg. auf der Grundlage der von Richard Christ und Manfred Wolter besorgten Anthologie
"Fünfzig Erzähler der DDR"

zurück zum Seiten-Anfang

zur Eingangsseite

Biografisches

Werke
und Texte

Rezensionen

Sekundärliteratur

P.E.N.-Ausschluss

Das Kleine Blatt

Zur Poetik
anderer Autoren

Impressum

 

Sitemap

 

Vergleiche auch:

Menschwerdung 2

 

Stichwortsuche:


powered by FreeFind