John D. Bernal

Ausgabe Nr. 29 - 2009

Marx und die Wissenschaft (Auszüge)

erschienen in:
Streitbarer Materialismus
Ausgabe Nr. 11
Verlag zur Förderung der wissenschaftlichen Weltanschauung
Stefan Eggerdinger Verlag München 1988

1. Einleitung

Vor einigen Wochen führte ich einen hervorragenden Dichter von der Westküste Afrikas zu dem Grab von Karl Marx auf dem Highgate-Friedhof. Als wir dort einsam vor dem schlichten Grabmal standen, mußte ich daran denken, daß der Mann, der dort begraben lag, in allen Teilen der heutigen Welt bekannt ist und verehrt wird. Ich dachte daran, daß er jede Seite und jedes Gebiet menschlichen Denkens beeinflußt hat, die Naturwissenschaften ebenso wie alle ökonomischen und politischen, die sein besonderes Anliegen waren.

Von dem Beitrag zu sprechen, durch den Marx die Wissenschaft bereichert hat, erscheint fast überflüssig, denn unbestritten war Marx ein Wissenschaftler. Ausgehend von der Beobachtung und Ausübung der schwierigsten aller Wissenschaften - der Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft in ihrer historischen Entwicklung -, bezog er allmählich das ganze Reich der Wissenschaften in seine Studien ein. Trotzdem wäre er wohl über den Journalisten, Historiker oder ökonomen nicht hinausgekommen, wenn er sich darauf beschränkt hätte, diese Gebiete des menschlichen Wissens zu analysieren und zu betrachten. Er sah weiter; sein Denken setzte sich stets in politisches Handeln um. Eben durch diese Verbindung von Theorie und Praxis war er in der Lage, sich mit der ganzen Kraft seines scharfen Intellekts des gesamten Systems des Denkens und Handelns, das wir die Gesellschafts- und Naturwissenschaften nennen, zu bemächtigen und es dabei zu verändern.

Die vorliegende Schrift will zeigen, was Marx für die Wissenschaft seiner Zeit geleistet hat und was das Ergebnis seiner Arbeit in der Zukunft für die Wissenschaft bedeuten wird. Seine große Leistung besteht darin, daß er als erster den grundlegenden gesellschaftlichen Charakter der Wissenschaft und demgemäß die Unerläßlichkeit der Wissenschaft für die Gesell- = 120= schaft entdeckte. Um das tun zu können, mußte er das gesamte Material der Wissenschaften geistig in sich aufnehmen und verarbeiten und eingehende Kenntnisse der Geschichte und Philosophie erwerben.

Da die Grundelemente des marxistischen Gedankengebäudes heute Gemeingut selbst der erbittertsten Antimarxisten sind, können wir kaum noch ermessen, was Marx für eine ungeheure Leistung vollbracht hat. Seine große Entdeckung war, daß die Geschichte, die menschliche gesellschaftliche Entwicklung, letztlich nicht von abstrakten Ideen oder mystischen Eingebungen vorangetrieben wurde, sondern von eben dem Prozeß, durch den die Menschen ihr Leben erhielten - von dem Produktionsprozeß, durch den sie sich Nahrung, Kleidung und Unterkunft verschafften. Die Produktion, gesellschaftlich von Anbeginn an, brachte gesellschaftliche Produktionsbeziehungen mit sich, die zum Auftreten rivalisierender Klassen führten. Ihre Konflikte, die den entscheidenden Teil der Geschichte ausmachen, lassen sich in ununterbrochener Folge bis auf den heutigen Tag und darüber hinaus verfolgen und sind der Ursprung der geistigen Erzeugnisse der menschlichen Kultur. Diese Vorstellungen, deren Richtigkeit zu beweisen und auszubauen Marx einen so großen Teil seines Lebens widmen sollte, hatte er bereits in den Anfängen seines Lebenswerks klar herausgearbeitet. So finden wir in seinen "ökonomisch-philosophischen Manuskripten" (1844) folgende Sätze:

"Dies materielle, unmittelbar sinnliche Privateigentum ist der materielle sinnliche Ausdruck des entfremdeten (1) menschlichen Lebens. Seine Bewegung - dis Produktion und Konsumtion - ist die sinnliche Offenbarung von der Bewegung aller bisherigen Produktion, d. h. Verwirklichung oder Wirklichkeit des Menschen. Religion, Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst etc. sind nur besondre Weisen der Produktion und fallen unter ihr allgemeines Gesetz." (Karl Marx/Friedrich Engels, Kleine ökonomische Schriften, Dietz Verlag, Berlin 1953)

Anmerkung von J. D. Bernal:
Das Wort "entfremdet" wird von Marx bildlich gebraucht. Die materiellen Güter sind Erzeugnisse der menschlichen Arbeitskraft; in ihnen steckt ein Teil des Lebens der Arbeiter, die sie produzieren. Durch die Materialisierung dieses Teiles in Eigentum wird er sozusagen dem Leben entzogen und entfremdet, wie man sein eigenes Eigentum sich ent-fremdet, indem man es verkauft.

Ein Jahr später schreibt Marx:
"Die Geschichte ist nichts als die Aufeinanderfolge der einzelnen Generationen, von denen jede die ihr von allen vorhergegangenen übermachten Materiale, Kapitalien, Produktionskräfte exploitiert, daher also einerseits unter ganz veränderten Umständen die überkommene Tätigkeit fortsetzt und andrerseits mit einer ganz veränderten Tätigkeit die alten Umstände modifiziert ... so daß z. B., wenn in England eine Maschine erfunden wird, die in Indien und China zahllose Arbeiter außer Brot setzt und die ganze Existenzform dieser Reiche umwälzt, diese Erfindung zu einem weltgeschichtlichen Faktum wird..." (Karl Marx/Friedrich Engels, "Die deutsche Ideologie", Dietz Verlag, Berlin 1953, S. 43)

Diese Erkenntnis von der gesellschaftlichen und ökonomischen Basis der Geschichte, die in der einen oder anderen Form das gesamte moderne Denken durchdrungen hat und der sich auch nicht die f frömmsten Obskuranten und bösartigsten Antimarxisten entziehen können, verdanken wir Marx. Ihre heutige Selbstverständlichkeit sollte uns nicht vergessen lassen, daß Marx eine gewaltige geistige Leistung vollbrachte, als er sie damals dem gesamten Denken seiner Zeit zuwider faßte und aussprach.

Auch auf Marx' Ideen müssen die Prinzipien seiner Lehre angewandt werden. Es war keineswegs ein Zufall, daß es einem Mann von seiner Herkunft, Bildung und Erfahrung vorbehalten war, jene Entdeckung zu machen. Wohl war sie angesichts der Entwicklung des Denkens und der Politik zu Anfang des 19. Jahrhunderts latent, aber es ist ein gewaltiger Unterschied zwischen der unbestimmten Anerkennung gegenseitiger Verknüpfung der verschiedenen Kulturbestandteile und der exakten Feststellung der Form dieser Verknüpfung, die Marx mit Hilfe der von ihm entwickelten neuen dialektischen Methode vornahm.

Um diese Methode von Grund auf zu verstehen, muß man auf die Originalarbeiten von Marx zurückgehen. Deshalb hat es mir besondere Freude gemacht, mit dieser Schrift beauftragt zu werden, denn dadurch war ich gezwungen, nicht nur viele allgemein bekannte klassische Werke des Marxismus erneut zu studieren, sondern mich auch in einige frühe und weniger bekannte Werke von Marx zu vertiefen, die ich nun zum erstenmal in die Hand nahm. Es ist überraschend, wie im Lichte der Erfahrungen der Nachkriegswelt Sätze, die vor mehr als hundert
=122=

Jahren geschrieben wurden, einem heute viel klarer sind als bei der ersten Lektüre. Im gleichen Maße, wie sich die wirtschaftlichen und politischen Ereignisse der letzten Jahre als Beispiele häufen, beginnt man mehr und mehr zu erkennen, worauf Marx hinauswollte. Um so erstaunlicher ist es, daß er zu seinen Erkenntnissen zu gelangen vermochte, ohne die ganze Fülle der wirtschaftlichen und politischen Vorgänge vor Augen zu haben, die uns in diesem Jahrhundert seine Lehre voll begreifen ließen.

Obwohl Marx bereits 1843, also schon im Alter von 25 Jahren, zu seinen grundlegenden Schlußfolgerungen gelangt war, waren sie doch keinesfalls einer noch so genialen Intuition entsprungen, sondern das Ergebnis eines , tensiven Studiums und einer scharfen Beobachtung des Lebens und der Gesellschaft. Der eigentliche Umschlag, durch den, wenn man so sagen darf, Marx zum Marxisten wurde, ist eines der interessantesten Beispiele der Entwicklung des menschlichen Denkens. Es verdient eine äußerst sorgfältige und eingehende Untersuchung, und alles, was ich jetzt darüber sagen werde, muß als ein recht dilettantisches Bemühen angesehen werden; aber es ist immerhin ein Bemühen, das seinen Wert hat: Diese kritischen Wandlungen des Denkens sind die eigentlich revolutionären Ereignisse, die weit mehr als die stete Anhäufung von Tatsachen den Sieg des menschlichen Geistes über die menschliche Umwelt kennzeichnen.

(...)

7. Der Standort der Naturwissenschaften

In der gleichen Periode der Entwicklung seines Denkens hatte Marx jenes umfassende Verständnis für die Bedeutung und den Standort der Naturwissenschaften erlangt, das sein gesamtes späteres Werk kennzeichnete. Das kommt bereits deutlich in einem seiner unveröffentlichten "ökonomisch-philosophischen Manuskripte" aus dem Jahre 1844 zum Ausdruck:

"Die Naturwissenschaften haben eine enorme Tätigkeit entwickelt und sich ein stets wachsendes Material angeeignet. Die Philosophie ist ihnen indessen ebenso fremd geblieben, wie sie der Philosophie fremd blieben. Die momentane Vereinigung war nur eine phantastische Illusion. Der Wille war da, aber das Vermögen fehlte. Die Geschichtschreibung selbst nimmt auf die Naturwissenschaft nur beiläufig Rücksicht, als Moment der Aufklärung, Nützlichkeit, einzelner großer Entdeckungen. Aber desto praktischer hat die Naturwissenschaft vermittelst der Industrie in das menschliche Leben eingegriffen und es umgestaltet und die menschliche Emanzipation vorbereitet, sosehr sie unmittelbar die Entmenschung vervollständigen mußte. Die Industrie ist das wirkliche geschichtliche Verhältnis der Natur und daher der Naturwissenschaft zum Menschen; wird sie daher als exoterische Enthüllung der menschlichen Wesenskräfte gefaßt, so wird auch das menschliche Wesen der Natur oder das natürliche Wesen des Menschen verstanden, daher die Naturwissenschaft ihre abstrakt materielle oder vielmehr idealistische Richtung verlieren und die Basis der menschlichen Wissenschaft werden, wie sie jetzt schon - obgleich in entfremdetere (*Siehe Anmerkung) Gestalt - zur Basis des wirklich menschlichen Lebens geworden ist, und eine andre Basis für das Leben, eine andre für die Wissenschaft ist von vornherein eine Lüge. < Die in der menschlichen Geschichte - dem Entstehungsakt der menschlichen Gesellschaft - werdende Natur ist die wirkliche Natur des Menschen, darum die Natur, wie sie durch die Industrie, wenn auch in entfremdeter Gestalt wird, die wahre anthropologische Natur ist.>

Die Sinnlichkeit (siehe Feuerbach) muß die Basis aller Wissenschaft sein. Nur, wenn sie von ihr, in der doppelten Gestalt sowohl des sinnlichen Bewußtseins als des sinnlichen Bedürfnisses ausgeht - also nur wenn die Wissenschaft von der Natur ausgeht - ist sie wirkliche Wissenschaft. Damit der Mensch' zum Gegenstand des sinnlichen Bewußtseins und das Bedürfnis des Menschen als Menschen' zum Bedürfnis werde, dazu ist die ganze Geschichte die Vorbereitungsgeschichte. Die Geschichte selbst ist ein wirklicher Teil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen. Die Natur­wissenschaft wird später ebensowohl die Wissenschaft von dem Menschen wie die Wissenschaft von dem Menschen die Naturwissenschaft unter sich subsumieren: Es wird eine Wissenschaft sein." (Karl Marx/Friedrich Engels, Kleine ökonomische Schriften, Dietz Verlag, Berlin 1953)

In dieser äußerst komprimierten Aussage liegt der Ausgangspunkt der marxistischen Analyse der Welt der Natur und des Menschen, wie sie in Engels' "Anti-Dühring", "Ursprung der Familie..." und "Dialektik der Natur", in Lenins "Materialismus und Empiriokritizismus" und in Stalins Werk "Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft" entwickelt worden ist und in vielen noch zu schreibenden Büchern der weiteren Entwicklung harrt. Aus diesem Zitat wird klar, daß die Bedeutung, die Marx den Naturwissenschaften beimaß, auf ihrem Verhältnis zur Industrie oder zum Ausdruck der gesellschaftlichen Produktivkräfte beruht. Den» wie wir gesehen haben, wußte er bereits, auf welche Weise die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse - die Institutionen des Eigentums, des Handels, der Konkurrenz- oder Monopolwirtschaft - mit dem Stand der Produktivkräfte verknüpft sind. Aber diese hängen ihrerseits von dem Stande der Wissenschaft ab und sind dabei zugleich eine Haupttriebkraft für ihr Voranschreiten oder ihre Stagnation.

Die entscheidende Bedeutung der Entwicklung der Produktivkräfte zeigt Marx' nachdrücklicher Hinweis, daß der übergang zu einer neuen Art von Zivilisation, insbesondere zum Sozialismus, nur dann möglich ist, wenn die Produktivkräfte solch einen Entwicklungsstand erreicht haben, daß sie die materielle Voraussetzung, d. h. die hohe Produktivität bieten, die zur Wirksamkeit des Sozialismus nötig ist, und daß erst hiernach, wenn dies erreicht ist, der Kommunismus möglich sein wird.

Viel später wendet sich Marx in seiner "Kritik des Gothaer Programms" (1875) mit äußerster Schärfe gegen jene, die es für möglich halten, in einem sozialistischen Staat, der gerade erst aus dem Kapitalismus hervorgegangen ist, einen Zustand idealer ausgleichender Gerechtigkeit herzustellen.

"Aber diese Mißstände sind unvermeidbar in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft nach langen Geburtswehen hervorgegangen ist. Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft.

In einer höhern Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch die Produktionskräfte gewachsen sind und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen - erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!" (Marx /Engels, Ausgewählte Schriften, Bd. II, S.17)

Diese Feststellung bringt klarer als beinahe alle anderen zum Ausdruck, wie gut Marx die Probleme des übergangs zum Kommunismus erfaßt hatte. Wir sollten auch darüber nachdenken, wie getreulich die tatsächlichen Erbauer des Sozialismus, Lenin und Stalin, das damals von Marx niedergelegte Programm durchgeführt haben, während alle ihre "sozialistischen" Verleumder, die selber nichts unternommen haben, um ihre eigenen Länder vom Kapitalismus zu befreien, laut schreien, die sowjetischen Staatsmänner hätten den wahren Marxismus preisgegeben.

Marx erkannte in vollem Maße, daß die Existenz der modernen Wissenschaft eine notwendige Voraussetzung für eine mechanisierte Industrie großen Maßstabs ist und daß viele der typischen Merkmale dieser Industrie, insbesondere Antriebsmaschinen, wie z. B. Dampfmaschinen, zu ihrer Erfindung ebenso wie zu ihrer Verbesserung der Wissenschaft bedurften. Anderseits weiß er ebenso genau, daß die Wissenschaft keine spontane Schöpfung des menschlichen Geistes ist und nichts mit Pallas Athene gemein hat, die in voller Rüstung dem Kopf des Zeus entsprang. Er erkannte, daß die Wissenschaft selbst ein Produkt der gesellschaftlichen und industriellen Kräfte ist, denen sie dient. So schrieb er in der "Deutschen Ideologie ( Marx-Engels, Ausgewählte Schriften, Bd. II, S. 17.)

"Z. B. die wichtige Frage über das Verhältnis des Menschen zur Natur . . . zerfällt von selbst in der Einsicht, daß die vielberühmte 'Einheit des Menschen mit der Natur' in der Industrie von jeher bestanden und in jeder Epoche je nach der geringeren oder größeren Entwicklung der Industrie anders bestanden hat, ebenso wie der 'Kampf' des Menschen mit =144= der Natur, bis zur Entwicklung seiner Produktivkräfte auf einer entsprechenden Basis. Die Industrie und der Handel, die Produktion und der Austausch der Lebensbedürfnisse bedingen ihrerseits und werden wiederum in der Art ihres Betriebes bedingt durch die Distribution, die Gliederung der verschiedenen gesellschaftlichen Klassen - und so kommt es denn, daß Feuerbach in Manchester z. B. nur Fabriken und Maschinen sieht, wo vor hundert Jahren nur Spinnräder und Webstühle zu sehen waren, oder in der Campagna di Roma nur Viehweiden und Sümpfe entdeckt, wo er zur Zeit des Augustus nichts als Weingärten und Villen römischer Kapitalisten gefunden hätte. Feuerbach spricht namentlich von der Anschauung der Naturwissenschaft, er erwähnt Geheimnisse, die nur dem Auge des Physikers und Chemikers offenbar werden; aber wo wäre ohne Industrie und Handel die Naturwissenschaft? Selbst diese 'reine' Naturwissenschaft erhält ja ihren Zweck sowohl wie ihr Material erst durch Handel und Industrie, durch sinnliche Tätigkeit der Menschen. So sehr ist diese Tätigkeit, dieses fortwährende sinnliche Arbeiten und Schaffen, diese Produktion die Grundlage der ganzen sinnlichen Welt, wie sie jetzt existiert, daß, wenn sie auch nur für ein Jahr unterbrochen würde, Feuerbach eine ungeheure Veränderung nicht nur in der natürlichen Welt vorfinden, sondern auch die ganze Menschenwelt und sein eignes Anschauungsvermögen, ja seine eigne Existenz sehr bald vermissen würde."(Marx / Engels, "Die deutsche Ideologie", S. 41/42.)

Diese Wechselbeziehung zwischen Wissenschaft und Technik wurde später sehr schön von Engels dargestellt, als er schrieb: "Wenn die Technik, wie Sie sagen, ja größtenteils vom Stande der Wissenschaft abhängig ist, so noch weit mehr diese vom Stand und den Bedürfnissen der Technik. Hat die Gesellschaft ein technisches Bedürfnis, so hilft das der Wissenschaft mehr voran als zehn Universitäten. Die ganze Hydrostatik (Torricelli etc.) wurde hervorgerufen durch das Bedürfnis der Regelung der Gebirgsströme in Italien im 16. und 17. Jahrhundert. Von der Elektrizität wissen wir erst etwas Rationelles, seit ihre technische Anwendbarkeit entdeckt. In Deutschland hat man sich aber leider daran gewöhnt, die Geschichte der Wissenschaften so zu schreiben, als wären sie vom Himmel gefallen."(Marx/Engels, Ausgewählte Briefe (Brief Engels' an H. Starkenburg vom 25. 1. 1894), S. 559/560.)

Weiterhin erkannte Marx, daß in jeder Gesellschaftsordnung bis zu seiner eigenen Zeit die Theorien der Wissenschaft keineswegs absolute und ewige Ideen sind. Sie bilden einen wesentlichen Bestandteil der Ideologie der zur Zeit ihrer Entstehung herrschenden Klasse, und sie werden gemäß den Interessen dieser herrschenden Klasse aufrechterhalten und entwickelt:
=145=

"Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft. Die Individuen, welche die herrschende Klasse ausmachen, haben unter anderm auch Bewußtsein und denken daher; insofern sie also als Klasse herrschen und den ganzen Umfang einer Geschichtsepoche bestimmen, versteht es sich von selbst, daß sie dies in ihrer ganzen Ausdehnung tun, also unter andern auch als Denkende, als Produzenten von Gedanken herrschen, die Produktion und Distribution der Gedanken ihrer Zeit regeln; daß also ihre Gedanken die herrschenden Gedanken der Epoche sind."( Marx/ Engels, "Die deutsche Ideologie", S. 44.)

Insofern war im Mittelalter die Vorstellung von einer statischen Weltordnung, wie sie uns aus Dantes "Göttlicher Komödie" vertraut ist, mit ihren himmlischen, ewig von Engeln gedrehten Sphären und ihren Höllenzirkeln eine Widerspiegelung der Feudalordnung von Papst, Kaiser, Königen und Adligen, die alle von der Arbeit der Bauern und Leibeigenen lebten. Später, als die Gesellschaftsordnung sich änderte und das Geld zum Maß aller Dinge wurde, als das Schießpulver und die Schiffahrt dem Handel und der Ausbeutung die Welt erschlossen hatten, wurden eine dynamischere Physik und ein dynamischeres Weltbild erforderlich. Die Wissenschaft erhielt neuen Auftrieb und eine neue Richtung, die in erster Linie zur Astronomie und Gravitationslehre von Kopernikus, Galilei und Newton führten.

8. Das Jahr der Revolutionen und das Kommunistische Manifest

Bisher habe ich mich nur mit der Leistung des jungen Marx beschäftigt, den Hauptteil seines politischen und ökonomischen Lebenswerks also noch nicht berührt. Doch sogar dieser kurze Zeitabschnitt ermöglicht es, einen Eindruck von dem Reichtum und der logischen Geschlossenheit seiner Gedanken zu ver=146= mitteln. Trotzdem hätten sie sicherlich nicht den überwältigenden Einfluß gehabt, der tatsächlich von ihnen ausging, wenn nicht Marx eine Zeitlang sein theoretisches Wirken aufgeben und sich während der erregenden Ereignisse des Jahres 1848 in die Welt der Aktion hätte stürzen müssen.

Damals zeigte eine bürgerliche Revolution in ihrem ersten Erfolg und in ihrem noch rascheren Versagen und Verrat, wie die kapitalistische Klasse aus der fortschrittlichen und befreienden historischen Rolle des Angreifers auf die überbleibsel des Feudalismus in eine andere Rolle übergewechselt war und sich mit den reaktionären Kräften verband, um die neu emporsteigende Klasse der Industriearbeiter niederzuhalten. Dieser Klasse, dem Proletariat, dessen Aufgaben er als erster klar erkannt hatte, schenkte Marx seine ganze Ergebenheit. In dieser Zeit, dem Höhepunkt der revolutionären Bewegung, veröffentlichten er und Engels das "Manifest der Kommunistischen Partei". In dieses unsterbliche Dokument ließen sie in einer Sprache, die sogar ihre Feinde allzugut verstanden, die Frucht aller ihrer Theorie und Erfahrung eingehen. Es ist noch immer das präziseste und klarste Dokument des Marxismus, wie diese Lehre und dieses Programm von da an genannt wurden.

In jenen Tagen kehrten Marx und Engels in ihre rheinische Heimat zurück, um persönlich am Kampfe teilzunehmen - Marx als Herausgeber der feurigen und eine Zeitlang unbehinderten "Neuen Rheinischen Zeitung", Engels als Offizier der republikanischen Freiwilligen. Die Episode war kurz, aber sie war ein Wendepunkt in ihrer beider Leben. Sie endete mit dem Dauerexil in England und leitete einen zermürbenden und anscheinend hoffnungslosen Kampf mit Hilfe des geschriebenen und gesprochenen Wortes gegen eine kapitalistische Ordnung ein, die triumphierte und übermütig war wie nie zuvor.

Und doch wurde dieser Kampf im Exil schließlich das fruchtbarste aller ihrer Unternehmungen. Gerade ihre begrenzte äußere Wirkungsmöglichkeit als Verbannte befähigte sie, sich mit einer Gründlichkeit, zu der sie vorher nie Zeit gehabt, auf die eingehende Analyse des Kapitalismus in seiner charakteristischsten Erscheinung zu konzentrieren - auf die Analyse seiner ökonomischen Struktur.

(...)

erschienen im Heft

Streitbarer Materialismus Nr. 11
Verlag zur Förderung der wissenschaftlichen Weltanschauung
- Stefan Eggerdinger Verlag

München Juni 2009

Zur Frage der Arbeit im Kapitalismus
sowie im Sozialismus resp. Kommunismus
siehe auch:

M. Seiler: Thesen zur Mikroelektronik und zur industriellen Revolution


 

W.I.Lenin "Die große Initiative"


 

W.I. Lenin "Von der Zerstörung einer jahrhundertealten Ordnung zur Schaffung einer neuen"


 

E. Rozsnyai: Warum muß man es beim rechten Namen nennen?


 

Erich Köhler "Kulturpolitik"

zur Eingangsseite

Biografisches

Werke

.. und Texte

Rezensionen

Sekundärliteratur

P.E.N.-Ausschluss

Das Kleine Blatt

Zur Poetik
anderer Autoren

Impressum



Sitemap

 

 

Stichwortsuche:


powered by FreeFind