Arbeit und Poesie

Redemanuskript seines Beitrags
auf dem Symposion
»Poesie und Arbeit«
des Schriftstellerverbands der DDR /1986 (?)

Etymologen leiten das Wort Arbeit aus indogermanisch arbho, das ist 'zu großer Mühsal verdammt' her. Das altgermanische arbejthiz bedeutet Not und Bedrängnis. Im Altslawischen geht es der Arbeit nicht besser. Rabota, rabhu, rob meint eine knech­tisch unehrenhafte Tätigkeit. Arbeit, darin sind sich unsere sprachprägenden Vorfahren einig, ist das, was man andere tun läßt.

Über den Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen bestehen kaum noch Zweifel. Wäre dieser Prozeß abgeschlossen, so hätten wir keine Möglichkeit, die Rolle des Poetischen daran zu untersuchen.

Das Gegenteil von Arbeit ist der Müßiggang. Süßes Nichtstun, so belehren uns die alten Griechen, ist die Voraussetzung für den Umgang mit schöneren Dingen.

Ohne Sklaven keine Aristokratie. Ohne Aristokratie keine Verfeinerung. Ohne Verfeinerung kein Wegkommen aus dem Tierreich. Ohne dieses Wegkommen keine Auflehnung gegen die Aristokratie. Ohne Auflehnung gegen die Aristokratie keine allgemeine Verfei­nerung.

Poesie war einmal nicht dort, wo die Arbeit war, konnte aber ohne Arbeit nicht gedeihen, ganz in dem Sinne, wie J. W. GOETHE beschrieb:
Denn wirkten Grobe
nicht auch im Lande
wie käme anders
das Feine zustande

Als die Theologen Gott nicht wissenschaftlich nachweisen konnten, erfanden sie den negativen Gottbeweis: Gott ist das Gegenteil von dem, was Gott  nicht   ist. Das Gegenteil von Gott ist Beelzebub. Gott ist nicht dort, wo Beelzebub ist, sondern dort, wo Beelzebub  nicht   ist. Also ist Gott ohne Beelzebub nicht zu identifizieren.

Poeten, von HOMER über WALTHER von der Vogelweide, VILLON, Torquato TASSO bis zum bürgerlichen Romanzier, der seinem Ver­leger um Vorschuß in den Ohren liegt, hatten an den Segnungen der Arbeitsteilung zumeist nur bettelnder­weise Anteil.

Poesie ist dort, wo Geld, also Macht  nicht  ist. Noch heute bewirkt ein ausgereiftes System von Arbeits- und Besitz­teilung phantastische Milch- und Weinseen, Fleisch- und Butter­berge, dieweil die Gipfel an Poesie nicht in den Himmel wachsen. Alles fließt, befand der weise HERAKLIT, aber nur dort, wo es Ufer gibt. Die Ufer, zwischen denen sich die kapitalistisch verursachte Überproduktion dahinwälzt, das sind die Halden zur Unproduktivität verurteilter Menschenmassen.

Es gibt nämlich neben dem süßen auch ein bitteres Nichtstun. Um das bittere Nichtstun abzuschaffen, dazu sind weltweit andere Produktionsverhältnisse notwendig. Doch das Dilemma mit den überschüssigen, zur faden Gammelei verdammten Leuten ist auch im Sozialismus latent, wenn die Teilung zwischen geistiger und mechanischer Arbeit nicht in dem Maße schwindet, wie die Rationalisierung vorankommt.

Menschwerdung ist ein Kontinuum unzulänglicher Entsprechungen. Reaktionäre Kräfte können sich auf Dauer nicht behaupten; prog­ressive Kräfte setzen sich stets nur zum Teil durch. Letztere siegen unter größten Opfern auf dem langen Marsch, während die bösen Buben über den kurzen Weg einander ablösen, und so eben­falls kontinuierlich am Weltgeschehen mitmischen.

Das Wesen Gesamtmensch steht den Anforderungen seinerzeit stets mit unzureichendem, an der Erfahrung bedürftigem geistigem Rüstzeug gegenüber. Wer sich dabei mit größerem Geschick der poetischen Künste versichert, erschließt sich starke Verbündete. Eine Sache in der Phrase anerkennen, ihr in der Praxis Rechnung tragen, das sind zweierlei. Spitzensportler kann man ausbilden, wahrscheinlich könnte man sie sogar züchten, Poeten kann man auf keinerlei Weise künstlich erzeugen.

Was ist Poesie?

Jede Definition wäre ein aufgespießter Falter. Der Satz: "Das Gegenteil von Weiß ist Rot." stellt das Vexierbild blutiger Klassenkämpfe aus, worin die Farbsymbolik konkrete Ursachen hat. Sein poetischer Gehalt ist nichts Erfundenes, sondern dem Tun der Menschen Anhängiges.

Bei Karl MARX las ich eine Replik, daß die Massilianer im Jahre 102 vor Christi ihre Weinberge mit den Leichen der Teu­tonen düngten. Der Wein habe daraufhin einen besonders blumigen Jahrgang hervorgebracht. In Abwandlung darf ich sagen: Geile Rosen brauchen einen fetten Dünger. So gesehen liegt in jedem Misthaufen Poesie; der Dichter produziert diese nicht, er macht sie sinnfällig. Was für Blüten an Poesie hat das widerwärtige Phänomen der Pest in Wort, Bild, Ton und Tanz hervorgebracht!

Das Poetische ist ein Akzidens der Materie Mensch / Gesell­schaft. Farbe ist reflektiertes Licht. Das Augentier, von dem wir abstammen, wäre ohne Farben niemals Mensch geworden.

Poesie ist also keine reine Erdichtung, Dichtung ist nicht gleich Fantasie. Manch nüchterner Konstrukteur beweist bei der Entwicklung von Tötungsmaschinen eine Phantasie, die jeden Apokalyptiker in den Schatten stellt. Poesie ist am allerwenig­sten Schein, mit dem man eine unbefriedigende Wirklichkeit schönt. Poesie ist nicht Wirksamkeit an sich, sie braucht einen Reso­nanzboden und ist gegeben durch Absicht und Einflußnahme ihres Ent­deckers. Aphrodite ist das entdeckte Prinzip der Liebe. Hödur ist das entdeckte Prinzip des blinden, tumben Totschlags.

Wenn Gottfried BENN in einem Gedicht das ganz gewisse Akzi­dens aus der aufgeschwemmten Leiche eines Bierkutschers und einer wackelnden Aster zwischen dessen Totenlippen gewinnt, so wird das Zusammenwirken von Absicht, Sujetwahl und Weltstimmung gewisser Resonanzgruppen deutlich. Resonanzfelder, die ihre Poesie hervorgebracht haben, fallen mit den Begriffen 'Sturm und Drang', 'Vormärz', 'Romantik' in eins.

Alle Poesie wirkt auf dem Acker der Gesellschaft und greift dort über Verstand  und   Gefühl gleichermaßen ein. Was die in Gottesfurcht Lebenden heute noch in die Seele trifft, das er­reicht den Epikuräer keineswegs. Den schönsten Beweis lieferte DANTE alighieri, "Göttliche Komödie", zehnter Gesang:
...Nach dieser Seite hin erstreckt sich der Kirchhof des EPIKUR und der ihm Gleichgesinnten, die mit dem Leib die Seele sterben lassen...

Hier hat das Fegefeuer nichts zu fegen. Wer keine Seele hin­terläßt, ist ideologisch nicht folterbar, weder im Diesseits noch durch Androhung transzendenter Qualen.

So lebt denn Poesie, mit HERAKLIT zu reden, ..."der verhältnisse Tod"...überlebt diese in unserer Erinnerung und wird zum Kommunikator unserer Befindlichkeit. Wir vernehmen DANTEs Schil­derung der Höllenstadt DIS, die ja durchaus im Dienste der Inquisition stand, oder BENNs poetische Ekelpaketchen mit dem Schauder von Leuten, die ausziehen, das Gruseln zu lernen, die­weil das Gruselige unserer Zeit noch gar nicht wahrgenommen, poetisch unbewältigt ist.

Sind denn so reale Ungeheuer­lichkeiten wie Auschwitz poetisch reflektierlich? Das kommt auf die Überwindung des Gartenlauben­patschulis an, das immer noch wie Patina an dem schönen Worte Poesie haftet.

Im DUDEN wird Poetik mit 'gehobene Sprache' übersetzt. Für die frühe STOA war Gott, er stehe hier für Poesie, in der Lilie wie im Leichnam, im Ambrosia wie im Kakos gleichermassen. Die mittlere STOA wollte ihrem Weltgotte so Widersprüchliches nicht antun. Sie reinigte ihn von allem Übel und vermachte allen Un­flat den Dämonen. Der so geläuterte Gott zog die Vorstellung des Poetischen zu sich hinan. Seither überlegt sich selbst so mancher Übersetzer, ob er aus VILLONs 'Arsch' nicht lieber 'Podex' machen solle.

Materie kommt im menschlichen Denken zu dem Bewußtsein ihrer selbst. Damit verliert Poesie jenen rein ästhetischen Stellen­wert, der ihr bislang zugebilligt wurde. Sie rückt als Ausdruck sittlichen Empfindens zu dem Höchsten auf, was diese Selbster­kenntnis hervorzubringen im Begriffe ist. Drohende Welt­vernichtung mobilisiert den sittlichen Willen zur Welterhaltung, wenn dieser gleich als schnöder Lebenserhaltungstrieb auftritt. Als solcher ist er der mächtigste Verbündete unserer Partei von Weltver­bes­serern. Böses wird zum Ufer des Guten, das Gute zur Klippe des Bösen. Traum ist das Ufer der Wirklichkeit und umgekehrt. Der Kapitalismus ist ein Ufer zum Sozialismus und auch der Kommunismus wird Strände haben, an denen nicht nur angenehm zu liegen sein wird. All das bündig in Form zu bringen, ist Auftrag der Poesie. Der Poet entdeckt die Zusammenhänge und macht sie nach dem Maße seines Wunsches nach Einflussnahme mit Mitteln wie Wort, Klang, Farbe, Form, Mimik, Tanz explizit.

Diese Mittel lagern an das Ufer des Herkömmlichen mit Blick auf das Meer des noch Ungewesenen. Einzige Bedingung, der sie unterliegen, ist die Wirksamkeit. Ernst BLOCH nennt die Ästhe­tik den Vorschein einer Ethik. BENN'scher Weltekel, LIEB­KNECHT'sches "Trotzalledem", LUTHERisches "Laßt fahren dahin", MÜNTZERisches "Himmelreich auf Erden" bekommen von da her Ein­ordnung und Wertigkeit.

Wie könnte nun das Wirkungspaar: Arbeit / Poesie ins Werk ge­setzt werden? Der bürgerlichen Marktwirtschaft habe ich nichts zu raten, dort herrschen andere Gesetze. Jedes höhere System ist zugleich komplizierter und erfordert eine höhere Entsprechungs­intelligenz. Für hochkulturelle Prozesse reicht die Profitmaxime nicht aus, sie hemmt diese schon wieder. Im Sozialismus sind für alle Lebensbereiche hochgebildete Funktionäre notwendig, die über den profanen Tellerrand hinausschauen. Kommunismus gar, das wird keine Schlaraffiade sondern eine Genugsamkeit: genug Arbeit, genug süßes Nichtstun. Das geht nur gut, wenn jedermann mehr geistige als vulgäre Interessen hat, wenn er/sie Bücher mehr ent­behrt als Bananen. Menschen das Bewußtsein solcher Genugsamkeit zu erschließen, das ist Arbeit von Ökonomie und Poesie zusammen.

Übers Ökonomische werden wir täglich belehrt, durchwirkt, angeplärrt, zur Rechenschaft gezogen. Sollen aus dermaßen zu Rechenbiomaten Getrimmten wahre Menschen werden, so  muß   den geistigen Dingen zumindest ebenso viel Platz eingeräumt werden, wie den Faktoren Lebenserhaltung, Fortpflanzung, Schutz.

Der Satz, daß Menschen erst essen, sich kleiden, wohnen müssen, ehe sie sich einer Kultur bewußt werden können, wird heutzutage von Leuten strapaziert, die gar keine Kulturkonzeption haben.

Der Proletarier, der in seinem Kellerloche vom Sozialismus träumte, für geringste Verbesserungen seiner Lebenslage auf die Straße ging, zeugte mehr kulturelle Triebkraft als der Bürger, der zu berstenden Kleiderschränken, Stadtwohnung und Dienstleistung erst noch ein Wochenendhaus mit Garten braucht, ein Auto, um dieses zu erreichen, einen Hund, der es bewacht, ehe er die Anschaffung eines Kindes plant.

Ich meine, daß zumindest in jedem sozialistischen Großbetrieb ein  Priester   der Poesie vorkommen muß, er/sie nenne sich Dichter, Maler, Musiker, Bildhauer, Choreograf, wenn er nur zwi­schen Mist und Rose seine Sujets zu entdecken weiß und sich nicht scheut, alle Spielarten und Bedingtheiten eindringlich zu machen. Man schabe sich nicht an der Sakralbezeichnung. Die arbeits­teilige Gesellschaft bringt ja Priester aller Art hervor, des Staates, der Ordnung, das Rechts, der Finanzen, des Brandschutzes, der Steuern...warum nicht auch der Poesie? Wichtig ist, daß seine Existenz nicht vom Kunstmarkt abhängt, daß er sein Geld vom Ar­beiter­betrieb bekommt.

Die Pervertierung der Kunst zur Ware ist ein schleichendes Gift. Der Gegensatz zur Poesie ist nicht die Arbeitswelt, sondern die Einvernahme des Poeten durch den Kommerz, der sowieso mani­pulierbare Preis, die materielle Korruption, die Abhängigkeit vom Basar.

Noch verschliessen sich die meisten Künstler solcher Konse­quenz, wiewohl sie mit ihrer Kunst um fortschrittliche Inhalte ringen. Wo es für lukrativ gilt, am Verkauf von Poesie Geld zu erdienen, wo den Funktionären im Arbeiterstaat nichts besseres einfällt, als Künstler für sogenannte  frei   Schaffende zu halten, bleibt Letzteren nichts weiter übrig als die kleine Waren­produktion.

"Für uns ist alles, was die Revolution hervorgebracht hat, Kultur, und Kultur heißt bei uns Revolution.", sagte Ernesto CARDENAL, als die Revolution in Nicaragua noch nicht in ihrem Blute erstickt worden war.

Erich Köhlers Redemanuskript
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des Schriftstellerverbands der DDR /1986(?)

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