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Rufmord an Erich Köhler
(Frühj. 2005)
(2. April 2002)
(Dez. 1993)
(Mai 2001)
(April 2002)
(April 2003)
(Sept. 2002)
(Mai 2003)
(Okt. 2003)
- Erich Köhler
- Das Zeitloch (1985)
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- Das wird von Deutschen angelegentlich sanft erzwungenen Nachdenkens gern als Stunde Null besehen, als Stunde des Erstaunens, Erschreckens, Erschauerns über sich und eine Welt, die sich trotz gewaltiger Unternehmungen und Überhebungen von diesem einen Volke nicht kleinkriegen ließ. Wer seither einen neuen Denkansatz versucht, wird, wenn er zu der einschlägigen Generation gehört, irgendwo in seinem Leben diesen Bruchpunkt finden, der sich aber mit Null nur unscharf umschreiben läßt. Oft fällt dieser Punkt mit dem Näherrücken der Roten Armee oder deren nachträglich nachdrücklichem Wirken in Deutschland zusammen. Mir wird ein solcher Punkt nicht erinnerlich. Ich wuchs unter Proletariern auf. In unserer Stube wurde immer politisiert. Bei uns logierten Emigranten aus dem REICH, bevor sie nach Spanien in die Schlacht weiterzogen. »Stalin bricht Hitler das Genick« war mir schon als Zehnjährigem Gesetz. Mein Spielhaus war das Heim der Arbeiterjugend in Karlsbad-Fischern. Der EINMARSCH war für mich schon ein Spuk, bevor ich wußte, was Spuk ist. Meine Umkleidung vom Blau- ins Braunhemd war Mimikry, zum Überleben eines durchaus absehbaren Zeitraums bestimmt, und das wurde von mir auch so empfunden. Wenn Stalin - Hitler, dann mußten irgendwann mit Sicherheit die Russen kommen. Inzwischen wähnte ich, daß zum Beispiel ein Volksgerichtshof, der meinen Vater verurteilte, kein Volksgerichtshof sein konnte. Andere, ältere, klügere Leute hatten da ganz andere, größere Wahnvorstellungen. Die meisten meiner Altersgenossen mußten noch in letzter Stunde einrücken, viele von ihnen kehrten nicht mehr zurück. Ich wurde bei der Musterung zurückgestellt. Das Bedauern, das ich dabei allerdings empfand, entsprang dem verletzten Selbstwertgefühl des physisch abqualifizierten Jugendlichen. Vom Bombenhagel im Hinterland blieb ich verschont. Alle, die es härter traf, sie mögen mir verzeihen. Den Sowjetsoldaten verdanke ich die Befreiung meines Vaters aus dem Zuchthaus. Der Zwang zum Umdenken vom Undenken entfiel bei mir. Die Russen verdanken mir mindestens fünf Kisten reine Uranpechblende, Gütetalon I, aus freiem Entschluß gefördert. Sobald ich von der Atombombe in den Arsenalen der US-Amerikaner wußte, stand für mich, unabhängig von Hiroshima, fest, daß auch die Sowjetunion diese Waffe brauchte. Mir schlug sie nicht, die Stunde Null; indes ich hatte kein eigenes Verdienen darum. Alles entsprang selten glücklichen Umständen. Alles um mich her war und ist Romantik. Meine Landsleute mit dem spezifisch deutschen Zeitsyndrom bitte ich um Verständnis. Staunen und Erschauern empfinde ich nur darüber, daß es Rassen und Nationen und Konfessionen geben soll. Per Zufall und sehr spät stieß ich auf ein paar wahrhaft lapidare Sätze, geprägt von einem Zyprer namens Zenon, genannt der Jüngere, vor rund zweitausendzweihundert Jahren in der Säulenhalle zu Athen: »Es gibt die Rechtschaffenen und die Nichtrechtschaffenen. Die Nichtrechtschaffenen sind einander Feind selbst unter Eltern und Geschwistern, Reichen und Sklaven. Nur die Rechtschaffenen sind füreinander Brüder.« Für die Wörtlichkeit des Zitates kann ich aus technischen Gründen hier nicht einstehen. Für mich sind diese Worte der Boden des Fasses, in dem die Menschheit wohnt. Seither lebe ich nicht in einem Zeitloch. Es gibt keinen Grund, die Menschheit in Gruppen, Rassen, Konfessionen, Staaten zu zerreißen. Selbst unter geweihten Priestern gibt es Rechtschaffene und solche, die es nicht sind. Alle Rechtschaffenen sind die einzig wahre menschliche Nation. Zu Zeiten aber, unter bestimmten Produktions- und Eigentumsverhältnissen, konstituiert sich die Nichtrechtschaffenheit, von Zenon lediglich als subjektiv charakterliches Phänomen gefaßt, zu gewalttätigen Mechanismen, deren Zweck die Niederhaltung besitzloser Menschenmassen zur Wahrung der Ausbeutermöglichkeiten einiger weniger Besitzender ist. Die Nichtrechtschaffenheit konstituiert sich zur gesellschaftlichen Organisationsform. Das nennt sich dann Staat, das nennt sich Nation. Dann kommt einmal der Tag, an dem dieser Status zum Herrschaftsanspruch einer solchen Nation zumindest über alle Nachbarvölker pervertiert wird. Zuvor wird Nichtrechtschaffenheit philosophisch in ihr Gegenteil verfälscht und völkisch-rassisch geadelt. Alle anderen Völker werden für minderwertig erklärt, um deren Unterjochung zu rechtfertigen. Der Sieg der bedrohten Völker, allen voran des Sowjetvolkes, befreite die Deutschen von den Trommlern der Nichtrechtschaffenheit.
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Wahre Rechtschaffenheit jedoch kann niemals obsiegen, selbst wenn sie zu dem Zweck der Abwehr Nichtrechtschaffener organisiert wurde; sie kann nur vorankommen, indem sie Schritt für Schritt den Boden entgiftet, auf dem Unrecht gedeiht. Danach wird Nichtrechtschaffenheit wieder zu dem werden, was Zenon meinte, zu einer krankhaften, hin und wieder vorkommenden Erscheinung, als solche im Einzelnen therapeutisch heilbar. Zuvor aber muß in Kraft treten, was Zenon lange vor uns auf des Fasses Grund geprägt hat: »Man darf nicht annehmen, man müsse GELD wegen des Tauschverkehrs oder des Reisens halber herstellen ...« Dies ist die mindeste Voraussetzung. Ohne dem ist ein befreites Denken, wenn es gleich in weite Ferne weist, nicht zielklar. Die Deutschen haben auf ihrem geschichtlichen Kreuzzug gegen die Rechtschaffenen aller Länder und in ihren eigenen Reihen makabre Opfer angerichtet und selber entrichten müssen, aber dabei die Letzteren näher zusammengebracht. Nirgendwo stehen sich die beiden wahren Nationen der Menschheit jetzt sichtbarer gegenüber als auf dem alten stammesgeschichtlichen Siedlungsraum der Deutschen.
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Alt Zauche, Mai 1985