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Erich Köhler
Erzählungen und Buchauszüge
Erich Köhler ca. 1990

 

Buch-Einband

Höhlengleichnis

abgedruckt in

Mir scheint, der Kerl lasiert
– Dichter über Maler
Buchverlag Der Morgen Berlin 1978/1981
Siebenundzwanzig Autoren schreiben über dreißig bildende Künstler

Banause, mag die Cottbuser Malergilde schimpfen. Sie hatte ein ehemaliges Möbelhaus in der Spremberger Straße erobert und darin eine Ausstellung eröffnet. Mit der Uhr in der Hand raste ich an ungefähr fünfundfünf­zig Bildern vorüber. Jedes einzelne Werk hätte gut und gern eine Stunde ungeteilter Aufmerksamkeit verdient gehabt. In dreißig Minuten fuhr mein Bus. Gleichsam an bildender Kunst vorüber rannte ich zur Haltestelle. Was dabei in Erinnerung bleibt, ist einer Nachbetrach­tung wert. Allmählich formt sich aus dem Sinnesrauschen einander bedrängender, verdeckender, überlagernder Ein­drücke ein einzelnes Bild. Es ist ein großes Format, rechteckig, mit ovaler Bildfläche, wie bei alten Fotos. Vier große weiße Ecken mit konkavem Innenrist formen das Bildoval. In diesem Bildausschnitt steht vor geheim­nisbraunem Hintergrund ein einfacher Tisch. Auf dem Tisch liegt eine Kopfbedeckung, wie sie Berg-, Bau-, Hüt­ten- und andere Werkleute zum Schutze ihres Kopfes tragen. Neben der weißlich schimmernden Schutzkappe steht eine Thermosflasche. Im Hintergrund, an einem grauen Spind hängt, fast nur angedeutet, in den dunklen Bildgrund übergehend, eine Arbeitsjacke. Der Mensch, dem diese Dinge gehören, ist ausgespart, wenn­gleich nicht ausgelassen oder gar ausgeschlossen. Sein Geist umflattert in Form von großen weißen Bildecken mit parabolischen Schnittlinien das besinn­liche Arrangement.

Aha! Mal etwas anderes. Nostalgisches Format, vor­erst und hier noch einmalig, sogar umstritten, daher ein­prägsam. Verzicht zudem auf das ewige Brigadierporträt beim Thema Arbeiterklasse, Verzicht auch auf ein hun­dert­neun­undneunzigstes Brigadebild. Seit Rembrandts "Schützengilde" ist ja gruppenmäßig kaum noch etwas hinzukriegen, auch nicht mit Leuten in Arbeitsklamotten oder Laborkitteln. Seit die sogenannte Spatenforschung eine Wissenschaft ist, wissen wir zudem, daß Artefakte oft mehr und eindringlicher über ihre Hersteller und Be­nutzer aussagen, als manches Individuum über sich selbst zu sagen wüßte.

Schöpfer dieses wunderlichen Stillebens ist ein gewis­ser Rainer Mersiowski, wohnhaft in Cottbus, argloser Mensch, Typ des kleinen Mannes auf der Straße, der die Geselligkeit sucht, um der Einsamkeit zu entgehen, die ihn trotzdem immer wieder ereilt, der über sich selbst zu lachen weiß, aber unter dieser dünn-humorigen Kräu­selschicht ein zutiefst melancholisches Gemüt verbirgt.

Seine Kompositionen, soweit ich sie kenne, sind ein­fach, einprägsam, fast schulmäßig. Seine Themen, horizont­weite Neubauviertel, ausgekohlte Grubenlandschaften, romantisiert er mit Attributen wie Mondscheinschimmer, einsame Rose, Pfütze mit etwas Himmelsblau drin. Seine Kritiker halten diese subjektivische Romantisierung frag­würdiger Umweltmilieus für unangebracht. Er sagt dar­auf: Ich sehe das so. Ich male nur, was ich empfinde.

Mir scheint, der Kerl lasiert – Dichter über Maler
Buchverlag Der Morgen Berlin 1978/1981
Siebenundzwanzig Autoren schreiben über dreißig bildende Künstler, so unter anderem:
Rolf Schneider über Werner Tübke, Gerhard Wolf über Carlfriedrich Claus, Peter Hacks über Fritz Cremer, Walter Püschel über Albert Ebert, Eckart Krumbholz über Hans Ticha und Horst Hussel, Günther Rücker über Karl Her­mann Roehricht.

Topp ! Assoziationswütigen Betrachtern dürfen seine Gemälde besser nicht allzuoft unter die Lupe kommen. Wer keine Einfälle zuzusetzen hat, sieht freilich nur eben die schlicht empfundene Oberfläche der Dinge, Tisch und Helm und weiße Ecken.

Eine besinnliche Ausstellung des nur zu Alltäglichen? Schon die Bildform, dieses altväterlich feierliche Oval, schließt sogleich jede Alltagsstimmung aus. Die Farbe Umbra dröhnt geradezu vor feierlicher Tiefe. Die ge­spenstische Abwesenheit des Menschen läßt seine geistige Nähe in einem viel größeren Zusammenhange ahnen und heraufbeschwören als es die paar Gegenstände in einem anderen Rahmen bewirken könnten. Der Mensch, durch Eingebung eines schlichten Gemütes weggelassen, um­spannt das dürftige Ensemble nicht nur mit dem Geister­griff der vier weißen Ecken, er steigt soeben aus der Dämmerung. Das dunkle Bildoval wird zum Höhlen­eingang. Aus feierlichem Höhlenbraun raunt baßtief die Vergangenheit. Die verlängerte Vertikale der Thermos­flasche stützt gleichsam das Höhlengewölbe. Die Wölbung der weißlichen Schädelkappe unterstreicht den oberen Ovalbogen, wodurch der Höhlengestus verstärkt wird. Ist das noch ein kompositorischer Zufallstreffer? Ich halte es für den Ausdruck inliegenden Formempfindens mit dem ungewollten Doppeleffekt der Mystifikation. Dem Betrachter schwindet der Bezug zur Gegenwart, um spä­ter desto angereicherter zurückzukehren. Der Tisch im Höhlengrund wird zur Arbeitsplattform eines Paläanthro­pologen. Die Tischbeine übrigens unterhalb der Tisch­ebene verlieren sich wie Wurzeln im Urgrund. Die bleiche Kapsel auf dem Tisch, gemacht zum Schutz der Schädel­oberseite des Homo rezens, erscheint als das soeben glück­lich aufgefundene Schädeldach eines Neandertalers. Es kostet dem phantasiebegabten Bildbetrachter wenig Mühe, das schmale Schirmchen an der Vorderkappe, des­sen Funktion ja der Schutz der Augen ist, für den mäch­tigen knöchernen Überaugenwulst eines Vormenschen zu halten. Einmal so weit in die assoziative Spekulation hineingezogen, fallen weitere Schlußfolgerungen und zum Schluß das gewinnbeladene Auftauchen aus der Tiefe des Betrachtens nicht schwer. Die Schädelkappe ist leer. Das einstmals um und um geschlossene Knochengehäuse ist an der Basis zertrümmert worden. Nur das robuste Dach hat die Jahrtausende überdauert. Es ist bekannt, daß man vom Frühmenschen zumeist nur diese ganz spezifisch beschädigten Kopfstücke auffindet. In den Fundberichten einschlägig berufener Forscher heißt es nur allzuoft: »Die Unterseite des Schädels war in der Gegend des gro­ßen Hinterhauptloches aufgeschlagen!« Dr. Dr. Erhard Schoch, Neue Brehm-Bücher 450, Seite 74.) Oder ebenda, Seite 87: »Um das Gehirn herausnehmen zu können, wurde der Schädel von unten her aufgebrochen.« Oder: »Kein Zweifel, daß hier der Mensch die Schädel von un­ten her aufgeschlagen hatte, um das Gehirn zu verspei­sen !« Ebenda, Seite 131. Und weiter: »Überall (bei mindestens elf anderen Funden, der Autor) war die Schädelbasis aufgeschlagen . . .« Der genannte Verfasser stützt sich dabei auf mehr als zwanzig wissenschaftliche Kapazitäten. Die Fundberichte stammen von verschiede­nen, geographisch weit auseinanderliegenden Orten.

Es geht hier nicht um die billige Sensation. Daß unsere lieben Vorfahren Kannibalen waren, daß besonders Hirn ein Leckerbissen war, ist ja bekannt. Ihre Kulturstufe erklärt ihr Handeln. Die Oberschädel der Frühmenschen waren zu dickschalig, ihre Werkzeuge zu bescheiden, das Verfahren zu aufwendig, um frontal an den Fraß heran­zukommen. Es erwiesen sich bereits die allerersten Men­schen als Rationalisten. Dabei wurde das Oberdach im Handumdrehen zur Schale, zur Hirn-Schale im wahrsten Sinne des Wortes, zum ersten Stück Geschirr vermutlich, das der Mensch benutzte, zum Urbild jeglicher Schalen­form. Wer heutzutage aus kunstvoll gefertigtem Nipp­schälchen seinen Pudding stürzt, der möge das gelegent­lich bedenken. Schlecht braucht dabei niemandem zu wer­den. Des anderen Hirn zu verbrauchen gehörte damals zum guten Ton. Mersiowski malt nur, was er empfindet. Ich schreibe nur, was ich dabei nachempfinde. Kein Wort würde ich darüber verlieren, gäbe es nicht offensichtlich heute noch eine Klasse von Leuten, die zum eigenen Vor­teil von der Gehirnmasse anderer leben. Arbeiter, Inge­nieur, schütze deinen Schädel nicht nur dort, wo er ohne­hin am dicksten ist. Eingebrochen wurde allzeit an der dünnsten Stelle. Schütze dein Bewußtsein auch und vor allem durch eine starke und gesunde Basis. Dieses wäre bei der Betrachtung einer arglos hingemalten Plastekappe durchaus zu bedenken. Verlacht und ausgespottet will ich werden, wenn daran nicht wenigstens ein Körnchen Wahrheit ist.

Mir scheint, der Kerl lasiert – Dichter über Maler
Buchverlag Der Morgen Berlin 1978/1981
Siebenundzwanzig Autoren schreiben über dreißig bildende Künstler, so unter anderem:
Rolf Schneider über Werner Tübke, Gerhard Wolf über Carlfriedrich Claus, Peter Hacks über Fritz Cremer, Walter Püschel über Albert Ebert, Eckart Krumbholz über Hans Ticha und Horst Hussel, Günther Rücker über Karl Her­mann Roehricht. Außerdem bereichern ein Anhang mit Porträt­Fotos der bildenden Künstler von Christian Borchert sowie eine fragelustige Nachbemerkung des Herausgebers diesen Band.

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