Bericht aus einer Hutschachtel
(Neun Abschnitte über Lübbenau)
abgedruckt in
NDL - neue deutsche Literatur Heft 4 / 1969
in der Reihe: Städte und Stationen (5)
Erstens
Hier sitz ich, forme Bilder aus Lauten, Tönen und anderen Geräuschen.
Und ähnlich wie Platos Höhlengefangene, die sich aus den Schatten der
hinter ihnen am Höhleneingang Vorübereilenden Vorstellungen machen
mußten, versuche ich mir aus tongeborenen Bildern zusammenzureimen,
was ich nicht sehen kann.
Könnte ich laufen, würde ich vielleicht wie ein gefangener Hamster im
Geviert der Wände auf und nieder rennen. Kann aber nicht laufen, hab
mir den Fuß verstaucht. So etwas kommt vor, wenn auch selten.
Da stampfen die einen große Kraftwerke aus dem Boden, türmen Beton
zu wolkenkratzenden Schornsteinen auf, ziehen auf glühenden Rohrschlangen unter gewaltigem Drücken hektartonnenweise den flüchtigen
Dampf, spannen elektrische Ströme zu Hunderttausenden Volt über den
Leisten und jagen sie dünndrahtig ins Land hinaus - und es geht alles
gut. Ein anderer dreht sich auf dem Gehsteig nur nach 'nem Mädchen
um, was ihm vielleicht gar nicht mehr zukommt, würdehalber, schnappt
dabei unglücklich von der Bordsteinkante ab und - knacks. Nicht wahr?
Er kann von Glück reden, wenn SIE es nicht gemerkt hat oder wenigstens so tut oder ihm sogar ein nachsichtiges Lächeln schenkt. Der Fuß
aber schwillt und so weiter. Er muß das Quartier hüten, das einer Hutschachtel gleicht, Hartpappenwände ringsum, eine Hartpappendecke,
schmale fugendeckende Holzleisten, wie Verschnürungen um den Raum
greifend. Da darf er sich schon freuen, wenn ihm wenigstens dieses
Lächeln, sofern es ihm zuteil wird, als erster und vorerst letzter Gruß
der jungen bordsteinkantigen Stadt ins traurige Verlies folgt.
Alles weitere ist Temperamentsache. Er kann endlich einmal aus
schlafen, kann sich Bücher bringen lassen, oder er kann allerlei Vergleiche anstellen, insbesondere solche mit gefangenen Hamstern.
Setzt so ein armes Tier mitten in einen Getreidespeicher, ringsum nichts
als goldenes Korn. Das nenne ich Strafe für einen Hamster. Wo soll er
denn nun etwas ab- und wohin tragen? Er würde sich wahrscheinlich die
Backentaschen vollstopfen und sinnlos auf und nieder rennen, bis er im
Überfluß verhungert.
Hier sitz ich tief drinnen in einem Berg von Geräusch und Getön und
Gelärm. Von allen Seiten stürzt es herein, elementar oder auch artikuliert; die Pappwände, anstatt daß sie isolierten, wirken wie Trommeln,
wie Membrane. Flächenverstärkt bläht sich ein jeder Kieks hier drin
zum Riesen auf und steht nachts neben deinem Bett: Gib deine Nerven
her! In solchen Kartenbuden muß die Stereophonie erfunden worden
sein.
Wo soll ich hin? Ich habe nicht einmal Backentaschen. Der Fülle ausgesetzt, gleich welcher Art, obwohl kein Hamster, geht es einem doch
gegen den Strich, sie völlig ungegriffen vorüberrauschen zu lassen. So
sitz ich hier, schnitze aus Tönen grobklotzige Bilder und stopfe sie mangels entsprechender Hamstertaschen zwischen die Zeilen. Einmal komme
ich hier wieder heraus, dann wird sich zeigen, wie die so einseitig entstandenen Schemen neben der vollen
lebendigen Wirklichkeit bestehen.
Die Welt ist rund, doch hier drinnen ist sie nach Wänden geordnet. Laßt
hören, ihr Wände, ob sich vielleicht die draußen sich wölbende Fülle,
durch euch gefächert, trotzdem begreifen läßt.
Zweitens
Unter anderem läßt sich also die Wand zur Linken vernehmen:
Du kommst wieder eine Viertelstunde zu spät, Arthur!
Wegen der Eisenbahn, Wolfram. Immer wenn ich an die Schranken komme, sind die runter. Und dann bleiben sie eine Viertelstunde unten.
Dann steh doch fünf Minuten früher auf!
Soll vielleicht die ganze Altstadt fünf Minuten früher aufstehen, wenn sie um sieben in der Neustadt sein will? Zähl einmal die vielen fünf Minuten zusammen, was da an Stunden herauskommt, Stunden zu wenig Schlaf, Wolfram. Das mit der Bahn ist glatte Sabotage. - Wer hat denn überhaupt den Bus-Bahnhof so demoliert, heute nacht? Alle Scheiben sind eingeschlagen, sämtliche Lampen zersplittert, sogar die Kabel haben sie herausgerissen, die Bänke umgestürzt und zertrümmert, die Türen eingetreten und die Türklinken abgehauen. Die Fahrpläne sind heruntergefetzt. Mann, hast du denn nichts gehört? Du bist doch hier der Nachtwächter.
Was soll ich denn gehört haben? Ich gehöre zum Wohnlager und nicht zum Bus-Bahnhof oder zum Lehrlingsheim dort gegenüber.
Also, du hast etwas gehört, ja?
Und wenn, was hätte ich ausrichten können? Ich bin kriegsbeschädigt.
Die Polizei rufen, Mensch!
Was soll die Polizei machen? Reinknüppeln? Da stimmt doch etwas von Grund auf nicht, genau wie bei deinen fünf Minuten, aus denen jedesmal Viertelstunden werden.
Das ist mir zu hoch, Wolfram.
Ich glaub dir's schon. Aber als sie vor hundert Jahren die Bahn gebaut haben, konnten sie nicht wissen, daß hier mal 'ne Neustadt herkommt, sonst hätten sie bestimmt an eine Überführung gedacht. Und als sie den Plan für die Neustadt gemacht haben, hat niemand berücksichtigt, daß sich der Mensch erst ungefähr ab vierzig mit Rasenpflege und so begnügt. Jetzt lebt die Jugend in dieser Stadt. Zwei Hochhäuser stehn wie Hauptleute vor der Garnison. Die Wohnblöcke stehn habtacht, stehn richteuch, stehn in Reihe, in Linie, links gestaffelt, rechts gestaffelt, auf Vordermann, in Seitenrichtung, im Karree, alle in gleicher Montur bis in die installierten Eingeweide hinein. Nie kommt ein "Weggetreten!" Ich war Soldat, ich weiß, wie einem auf die Dauer dabei zumute ist.
Der Wächter Wolfram, vielmehr seine Stimme, wird schulmeisterhaft. Wahrscheinlich hebt er jetzt den Zeigefinger.
Die Philosophen, Arthur, hab ich gelesen, nennen einen solchen Zustand asyntropisch.
Was heißt das, Wolfram?
Das heißt soviel wie (er hebt die Stimme) ein Höchstmaß an Ordnung oder ein Mindestmaß an Entropie, was auf dasselbe hinauskommt. Nämlich: unwahrscheinlicher im Sinne des Naturzustandes geht's nimmer. Dagegen ist unser Wohnlager ein kleines Paradies, wenn unsere Durchgangsbelegschaft auch lange nicht von so feinen Eltern ist wie die Herren Lehrlinge drüben im Hochheim.
Wie das, Wolfram?
Weil einfach jeder weiß, daß diese alten Baracken einmal abgerissen werden. Dafür kann dann etwas Neues wachsen, was, ist gar nicht so wichtig. Hauptsache, der Mensch sieht Möglichkeiten. Dadurch wird ihm ein Fleckchen Erde erst teuer. Der Mensch ist nämlich ein Tatentier. Unordnung richtet seinen Sinn auf Ordnung, das Niedere auf Höheres. Er sieht ganz einfach, was er tun kann, und das beruhigt. Nur wenn der Mensch nicht sieht, was er tun kann, oder wenn er andauernd sieht, was er nicht tun kann, dann wird er kribblig, du. Ein sogenanntes Übermaß an Ordnung höhlt den Menschen aus. Die Alten kratzen und scherchen dann in den Anlagen herum und ärgern sich, wenn jemand übers Geharkte latscht, zum Beispiel die Kinder. Damit fängt's aber schon an. Wo sollen sie denn hin? Die jungen wollen nicht immer in abgesteckten Bahnen und vorgeschriebenen Winkeln laufen. Da staut sich etwas in ihnen.
Jetzt unterbricht ein markzersetzendes Bullern, Kreischen und Pfeifen die Unterhaltung. Minutenlang ist die Luft zerplatzt, als zwängten sich tausend Teufel auf einmal durch einen scharfrandigen Spalt ins Freie. Dann spricht wieder Wolfram, und es ist nach diesem Krach fast totenstill.
Das ist wie mit dem Dampf, Arthur. Der Überdruck muß raus, oder er sprengt den Kessel. Sport hilft da nicht immer. Es gibt doch nirgends so viele Regeln wie beim Sport.
Ja, wenn es so ist, was wollen wir dann überhaupt?
Nichts. Den Bus-Bahnhof immer wieder neu instand setzen und frisch verglasen, damit die Kerle von Zeit zu Zeit etwas zum Austoben haben.
Du bist ein Philosoph, Wolfram.
Das nicht, aber ich bin seit zehn Jahren Nachtwächter.
Wenn es aber nun doch nicht die Lehrlinge von der Berufsschule waren?
Die müssen es gewesen sein, sonst läßt sich der Unfug überhaupt nicht erklären.
Die Lagerwachenwand tönt immer, selbst nachts, und wenn sie nur das Schnarchen des Wächters verstärkt. Freilich, wenn nach Tanzveranstaltungen sich etwa ein Bursche heimlich mit seinem Mädchen in die Baracke schleichen will, dann schläft Wolfram nicht. Er kennt seine Zeiten, wo er Erzengel Gabriel spielen muß, ganz genau. Das klingt dann so:
Fangt hier nicht auch noch an! Genug, daß es in jedem Wohnblock in der Neustadt vierzich, fuffzich Kinder gibt. Wo soll's denn hinführen? Wir bauen und bauen und bauen noch das ganze Land zu wegen euch, und anstatt daß wir euch endlich alle unterbringen, werdet ihr immer mehr.
Wolfram schildert den Kinderreichtum Lübbenaus, das demzufolge
eigentlich Liebenau heißen müßte, mit Worten, daß mich nachts Alpträume
drücken. Die Großblockwände in der Neustadt gehen aus den
Fugen. Durch alle Ritzen quillt und quirlt neues Leben.
Drittens
Die Wand zur Rechten, an der mein Bett steht, erwacht nur tagsüber zum
Leben. Dahinter muß sich ein größerer, vielseitig nutzbarer Raum befinden,
denn vielfach sind die Belange, die dem Vernehmen nach dort von
den verschiedensten Gruppen vorgebracht und abgehandelt werden. Just
nachdem Wolfram nachts wieder einmal zwei arme Sünder aus dem Paradies
vertrieben hat, spricht rechts nebenan jemand über ein Buch mit dem
Titel "Zeit der Störche".
Ich weiß nicht, wie es kommt: nach und nach beginne ich alles, was von
links, rechts, hüben und drüben durch die Wände tönt und in meinen
Gehörgang aufeinanderstößt, vom Sündenfall her zu betrachten. Selbst
der Knall, der hereindringt, wenn die Überschalljäger über den Himmel
jagen, scheint irgendwie damit zusammenzuhängen. Die Literaturfreunde werden rechts nebenan von Lebewesen abgelöst, die eine ganz
andere Sprache sprechen. Die klingt so:
Unter Berücksichtigung der Zielfunktion über unsere Aufgabenstellung, der bedarfsgerechten Bereitstellung von elektrischer Arbeit und Leistung bei minimalstem gesellschaftlichem Aufwand, haben wir dasjenige Teilsystem vordringlich zu projektieren, welches uns bei vorfristiger Einführung in die Praxis noch vor der Fertigstellung des Gesamtmodells nachweisbare Effektivität verspricht.
Dennoch muß diese Sprache irgendwie verständlich sein, denn es wird drüben sofort widersprochen:
Wenn wir diesen lukrativen Praktizismus unserer kurzfristigen Jahresbilanz zuliebe von vornherein postulieren, bleibt uns keinerlei schöpferische Alternative. Das negiere ich! Schließlich geht es darum, ein, nein das ökonomische System des Sozialismus für unser Kraftwerk auf der Grundlage einer wissenschaftlichen Prognostik auszuarbeiten.
Daß es sich hierbei um Widerspruch handelt, ist weniger dem Kontext
zu entnehmen als vielmehr dem Ton und Klang der Stimme. Es ist ja
so, daß ich wohl nie erfahren werde, wer die einzelnen Sprecher sind,
noch wie sie aussehen. Alles Zufällige, Nebensächliche, wie es die äußere
Erscheinung bietet, wird ja von der Wand zurückgehalten wie die
Alpha- und Betateilchen beim Zerfall von Radium hinter einem Schirm.
Pappe, finde ich, filtert und absorbiert hierbei besonders gut. Nur die
Rede dringt durch wie die härtere Gammastrahlung. Dabei unterscheiden sich deutlich zwei Arten von Stimmen. Die eine Art klingt etwas
höher, heller, härter, lauter, so, als würde dort jemand ständig etwas
vertreten, bedingungslos, jedoch ohne es zu verfechten.
Die andere Art von Stimmen hat von allem Genannten eine Nuance
weniger. Ihr Spektrum weist eine eigenartige Rotverschiebung auf. Charakteristisch dafür scheint mir ein besonderer Schmelz aus disziplinierter
Ungeduld und sanfter Gereiztheit, so als würde einer damit etwas verfechten, ohne Hoffnung, dafür jemals Vertreter zu finden.
Ich nehme an, es geht ums Vorwärtskommen. Die einen, die "LukrativEffektivisten" mit den Vertreterstimmen, wollen so etwas wie einen alten
Wagen mit einem neuen, stärkeren Motor versehen, damit es augenblicklich schneller geht, und die übrigen Systemteile nach und nach auswechseln. Die anderen, die "Alternativ-Prognostizisten", verfechten den Bau
eines völlig neuen Modells ab Reißbrett, unter Berücksichtigung der Erfahrungen mit dem alten Wagen bei entsprechender Entwicklungsdauer.
Ich habe den Verdacht, daß die ersteren zwar auch gern so verfahren
möchten, aber leider nicht losgelöst von der bisherigen Wirtschaft han
deln können, deren ökonomische Möglichkeiten sie vertreten müssen. Deshalb kämpfen sie die eigene Vorfreude auf den schöpferischen Genuß
tapfer in sich nieder, wodurch ihre Stimmen nur lauter und kategorischer
werden.
Gern möchte ich von der Wand, dahinter das Aktiv lautstark zerfällt,
abrücken. Denn, wie gesagt, ich stehe, vielmehr liege, unterliege längst
schon jenem Trauma, an dem Paradieswächter Wolfram schuld ist. Es
tut mir leid, die Aktivität der Planer und Leiter nebenan lediglich als
Funktion einer kausalen Entwicklungsreihe ansehen zu müssen, die in der
vergleichsweise banalen, noch dazu heimlichen Tätigkeit von Liebespärchen ihren Ursprung hat und durch die Optimierung der Lebensbedingungen nur beschleunigt und beschleunigend so weitergeht. Schon
drängt sich, verzeiht, honorige Experten, dem unfreiwillig einkartonierten Tonpräparator (um nicht zu sagen: Bildausstopfer) diesbezüglich der
erste Blasphemismus auf: Handlanger der Liebe. Alles in mir sträubt sich
dagegen. Möchte wenigstens nicht mehr Lauscher an der Wand sein, aber
der Fuß, der Fuß!
Viertens
Zum Glück hat meine Welt ja vier Wände. Mal hören, was von der Tür
her kommt. Dahinter befindet sich ein langer Korridor, von dem aus Zugänge zu all den übrigen leichtwandigen Gelassen der Baracke abgehen.
Allmählich lernt einer nach den Schritten recht gut zu unterscheiden, wer
draußen vorbeigeht. Wenn zum Beispiel die Optimierer den Gang herunterkommen,
um nebenan im Streit über das gemeinsame Rationalisierungsmodell wieder einmal in zwei Gruppen zu zerfallen, dann wackelt
der ganze Bau mitnichten. Sie tragen ausnahmslos alle Verantwortung,
und das macht elastisch. Auch zeichnet sich diese Planergruppe dadurch
aus, daß nicht eine einzige Frau dabei ist. Diesen Vorzug weiß nur derjenige voll zu schätzen, der tagelang bei erzwungener Ruhe und durchaus
guter Verpflegung sein Dasein fristet. Zu allem Überfluß ist die Decke
meiner Hutschachtel mit einer ganz hundsgemein rosa Pastellfarbe getönt.
Jeden Tag sinkt der rosa Himmel ein Stückchen tiefer und senkt sich
drückend herab. Das fehlte noch, daß nebenan eine - womöglich temperamentvolle - Frauenstimme mitmischte, wenn über Fortbestand und Begünstigung des Storchenzeitalters beraten wird. Ohnehin kommen mir
alle Stöckelschuhschritte draußen auf dem Gang verteufelt flott vor.
Frauen sind das einzige Phänomen, das sich nicht durch Wände differenzieren oder abstrahieren läßt. Gegen das Ewigweibliche hilft anscheinend nicht einmal Pappe.
Alles übrige ist erklärbar. Nichtverantwortungsträger treten zum Beispiel
fest und unbekümmert mit den Absätzen auf. Das dröhnt und poltert
durch den hohldieligen Gang, daß ich nur wünsche, die Planer und Leiter
nebenan möchten in ihrem Modell des ökonomischen Systems des Sozialismus einen praktischen Weg finden, die Verantwortung auf breite Schultern zu verteilen, damit die Bude nicht immer so wackelt.
Die Eingangstür zu dem Gang, weit vorn, steht Tag und Nacht angelweit offen. Der Gang ist mehr als ein langer, schmaler Verbindungsraum,
er ist ein Instrument. Die dünnwandigen Räume, die ihn beiderseits umgeben, wirken wie Resonanzkörper. Die Luft im Gang wird zur schwingenden Tonsäule. Das ist mein Gehörgang zur Außenwelt. Alles, was auf
zwei- bis dreimal hundert Meter vor dem Eingang lärmt und lautet, das
moduliert und modelliert sich hier zu ungeahnt plastisch wirkenden Vorgängen.
Was ist zum Beispiel das für ein Schrei aus hundert Kehlen? Vielfach
gebündelt, deutlich wahrnehmbar staut sich im Gang von irgendwoher
ein "Hoooch!", dem enthusiasmierten Fußballtooorschrei völlig unverleichbar. Ein Tor wirkt viel zu spontan. Man kann es höchstens lauthals
konstatieren, wenn es schon erzielt ist. Und doch kommt dieses "Hoch!"
von einer begeisterten Menge. Wird wer gefeiert? Oder was?
Sekundenlang folgt atemlose Spannung. Jetzt ein "Jaaa!". Geschafft! Erleichterung, Triumph. Was, wenn's nicht Fußball ist, erweckt im Menschen solche Teilnahme? Jetzt ein Poltern wie von Zentnergewichten, im
Gang noch nachdröhnend. Nun ist selbst mir, als fielen Gewichte von der
Seele. Befreites Beifallsrauschen dort. - Welcher Vorgang löst, obwohl
er nur ein angespanntes "Hoch!" lang dauert, Teilnahme, Triumph und
Erleichterung, gleich dreifache Emotion aus? Steckt da nicht, warte,
warte, die Formel Kraft mal Weg durch Zeit dahinter?
Was kann den Menschen wohl am ehesten begeistern außer Schönheit?
Leistung natürlich. Und angesteckt von deni unbekannten Vorgang sowie
des Wächters Wolfram ständig träufelnder Philosophiererei, versinke ich
in Betrachtungen. Ich stelle mir vor und sehe, wie ein Mensch vor ein
Problem hintritt, wie er sich konzentriert und gleichsam ein Modell bei
sich entwirft, das Modell vom gemeisterten Problem. Er spricht in sich
hinein: Da bist du also, Problem, und hier bin ich. Kann sein, daß meine
Kraft dir nicht gewachsen ist, noch nicht. Noch nicht? Immerhin ist sie
mir aber eine gut bekannte Größe, während du mit hundert Tücken
schweigst. Gerade das solltest du nicht, schweigen, denn das reizt mich.
Du sollst mich aber nicht reizen! Dein stummes, skeptisches Verharren
stachelt mich an. Es könnte sein, der Stachel reizt in mir ein bisher unbekanntes Quentchen Kraft herzu, vielleicht gerade so viel, daß ich dich
bewältige, Problem. Da ist es schon passiert. Nun will ich wissen, wie
groß dies Kräftezuwachsquentchen aus deiner Reizgröße sein könnte. Ich
pack dich an! Da gibt es nur uns beide. Du ziehst hinab, ich stemme mich
dagegen. Wer wen? Wir sind zusammen eins statt zwei. So steht jetzt die
Mathematik auf dem Kopf. Verdammt, will's werden? Aaah, die Kräfte
halten sich die Waage. Du mußt! Mußt! Mußt nicht? Ich will! Da, was
ist das? Ein hundertfältiges "Hoooch!". So wirst du aufgehoben und ein
"Eins hoch zwei" geboren. Ich bin die Grundzahl Mensch, im Exponenten
eine Summe aus dem aufgehobenen Problem plus dem neugewonnenen,
hooochwohlgeborenen Quentchen Zuwachskraft. Allein hätte ich das
kaum bewältigt, wenn nicht mein Handeln so begeistert hätte, daß hundertfältig die Bekräftigung zurückgekommen ist. Und so bestätigt nun
das hochzufriedene "Jaaa!" der Menge: Geschafft! Halb knirschend, unter
ungeheurer Berufung auf die eigene Kraft hinaufgestemmt, halb schwebend auf dem Schwung des Zuspruches, der sich also immer dann einstellt, wo einer sich getraut, eine gute Leistung vorzutragen, ist das Problem geschafft.
Es poltert. Wieder hat dort ein ähnliches Ereignis stattgefunden. Später
bestätigt meine "Alma Mater", die Raumpflegerin, welche die nährende
Verbindung zur Außenwelt aufrechterhält: In der "Holzoper" war
Gewichtheben. Wer hat gewonnen? Ich vermute, nicht nur die Sieger.
Fünftens
Der einzig neue Begriff, der ungeklärt bleibt, ist die "Holzoper". Normalerweise würde es mir keine Ruhe lassen, ehe ich nicht wüßte, was
dahintersteckt. Aber was ist hier, unterm rosa Hutschachtelhimmel, im
Ausgeliefertsein an Philosophen mit Paradieswächtererfahrung, noch normal? Schon läßt Wolfram seinen Schüler in der Resonanzhöhle ahnen,
was für ein trauriges Los ein Kraftwerker hat.
Nimm doch 'nen Maurer, Bäcker, Schneider, Landwirt, Wagenbauer oder einen der berühmten Lübbenauer Gurkensieder. Aus dem Material, das sie behandeln, wird wiederum etwas, das sie mit Händen greifen, sehen, hören, riechen, schmecken, das man anziehen, darin man wohnen oder darauf einer fahren kann. Stets bekommt ihre Arbeit in einer bestimmten Form, bestimmten Farbe auch ein bestimmtes Maß, und Masse und Gewicht. Ein neues Ding entsteht, und wenn es gut geraten ist, verschafft es seinem Schöpfer Befriedigung, auch Stolz. Nichts geht verloren. Aus Stoff wird neuer, höher organisierter Stoff. Die Arbeit, sonst was Unbestimmtes, angewandte Energie, kommt so zuhanden.
Im Kraftwerk ist es dagegen umgekehrt. Riesige Mengen Kohle, Öl, Wasser, technische Anlagen werden mit viel Wissenschaft und Arbeitskraft in Bewegung gesetzt. Und was kommt am Ende heraus? "Verfügbarkeit", nichts als "Verfügbarkeit". Der Stoff löst sich in Rauch und Asche auf, die Maschinen nutzen sich ab, der Verschleiß an technischem Material ist groß. Und wo bleibt das Ergebnis? Ein paar dünne Drähte, in denen der Wind säuselt, schwingen sich über Land. Auf der Tafel stehen Prozentzahlen, und der Direktor wird unausstehlich, wenn die nicht stimmen. Das ist alles. So kommt die Arbeit ganz und gar abhanden.Es ist aber etwas drin in den Drähten, Wolfram, etwas Elektrisches.
Kann er das anfassen, kann er das streicheln, der Kraftwerker?
Arthur war nämlich wieder eine Viertelstunde zu spät gekommen, wegen der Bahn. Da ist Wolfram immer besonders gereizt und bleibt mindestens fünf Viertelstunden länger.
Der Mensch, Arthur, schafft doch nicht ums liebe Geld allein. Er will seine Arbeit auch erleben. Und er erlebt nun einmal mit dem Auge und so weiter, und am besten immer noch mit der Hand. Er will am Ende einmal wie ein kleines Kind, und wenn auch nur verstohlen, über seine Arbeit hinstreicheln. Einmal anfassen, was er da gemacht hat, davon hängt sein Befinden ab als Mensch. Du aber sagst ihm, es sei Saft auf der Leitung. Das kann er glauben und auch nicht. Oder ein Zeiger schlägt aus. Was ist das schon?
Jawohl, was ist das schon? Wolfram hat immer recht. Das wäre ein Anblick, wollte ein Kraftwerker zärtlich sein Produkt berühren, etwa am
Hochspannungsdraht einer 380 000-Volt-Freileitung, so wie der Fahrzeugbauer dem nächsttausenden Trabant auf die Motorhaube klopft, ehe
er ihn in den Verkehr entläßt.
Nein, nicht die sogenannte "Holzoper", sondern die Gewichtheber beherrschen nach wie vor das Feld meiner Einbildung. Und daran ist Wolfram schuld mit seiner verdammten Betrachtungsweise. Eingepfercht in
ein Gewirr von Tönen - es gibt ja noch mehr Räume rings um den Gang,
der alle Geräusche heranflößt wie ein Strom das Treibgut -, also eingepfercht, sehnt sich der Mensch einmal nach wirklichen Bildern. Der
Schlaf zaubert sie herbei. Der Traum schlägt aus den Tonaufzeichnungen
das Sichtbare. Und ich sehe den Gewichtheber. Unter dem Einsatz seiner
ganzen Person und Persönlichkeit, mit mächtig gewölbtem Brustkasten,
das Rückgrat bis zum Krachen gesteift, im bis zum Platzen plastisch hervortretenden Spiel und Gegenspiel sämtlicher Muskelstränge und -pakete,
das über Fuß, Waden, Schenkel, Rücken, Rippen, Schultern, Nacken,
Arme und Hals bis in das Angesicht hinein sich aufbaut, stemmt der
Athlet die Last, die ihn gereizt hat, empor. So tritt er einen Augenblick
lang zwischen die Erde und das Ihrige, trotzig als der nackte Mensch. So
macht er allen die Spannung zwischen Erde und Gewichten sichtbar, indem er Kraft dranwendet, und induziert damit dem Publikum jenes progressive Verhältnis zum Problem, das wieder ihn selber bekräftigt. Das
nenne ich eine Wechselwirkung. Doch wehe, wenn der Heber als ein
Mensch, der vielleicht gerade unter solchen Bedingungen seine bisherige
persönliche Bestleistung überboten hat, in diesem Augenblick sein Werk
begreifen wollte. Die Gewichte polterten augenblicklich herab, genauso
wie die Spannung, mühevoll erzeugt, durch den unmittelbar begreifen
wollenden Kraftwerker, Hand am Draht, hindurch zur Erde abhanden
käme. Letzterer könnte hinausgehen ins "Braunkohlenkombinat Jugend",
südlich von Lübbenau, und dort die lagernden Megatonnen Kohle berühren. Es wäre das gleiche, als wenn der Sportler seine Gewichte tätschelte, solange diese am Boden liegen. Wie aber kommen beide nun zu
einem befriedigenden Erlebnis ihrer Arbeit, die sich nicht in etwas
Festem, Stofflichem, sondern in Spannung, in einem Zustand ausdrückt?
Sechstens
Inzwischen hat sich von irgendwo her eine kleine schwarze Ameise in
meinem Gemach eingefunden. Entweder hat sie sich hierher verirrt, oder
sie absolviert einen Routinestreifzug durch ihr Revier. Sicher ist nur, daß
die sich nicht eines ihrer sechs Beinchen beim Umsehen nach dem anderen
Ameisengeschlecht verknackst hat und deshalb hier hineingehört. Ich
kleckse ein Klümpchen Honig auf den Fußboden. Nach einer Stunde
oder dreien ist ein ganzer Trupp um das Nektartröpfchen versammelt.
Warum sollte ich sie vertreiben? Hier gibt es doch sonst nichts zu sehen.
Schließlich verursachen sie ja keinen Lärm.
Rechts nebenan wird inzwischen weiter am Modell des ÖKSYSOZ des
Kraftwerkes Lübbenau und Vetschau gearbeitet. Wir wissen, daß es hochgebildete Experten sind. Der Titel, den sie sich selbst gegeben haben, ist
lang. Die Funktion, die ihnen andere ohne weiteres beimessen, ist verblüffend einfach. Ich nenne sie deshalb schlicht und einfach Storchzeitoptimierer, wenngleich vermutlich mancher manches dagegen einzuwenden haben dürfte. Doch was immer sie entwerfen, vorbereiten und ins
Werk setzen mögen, es läuft doch letzten Endes immer, sofern es gut gerät, auf die erweiterte Reproduktion des Menschlichen hinaus. Ich stelle
mir vor: Unberührte Heide, kümmerliche Kiefern, Sand. Lübbenau
träumt mit seinen siebentausend Einwohnern, spreewärts gewandt, von
sauren Gurken und recht viel Ausflüglern. Da kommt ein Wahrsager des
Wegs und entwirft das Bild von sieben (ausgerechnet sieben) berghohen
Schornsteinen, dampfenden Kühltürmen, Förderbrücken, einen Gespensterwald von Gittermasten mit fernhinleitenden Drahthaarmähnen. In
den Spreewaldkaupen, dort, wo der Nebel wie ein Konservendeckel
wirkt, wiegt man die Köpfe, billigt dem Wahrsager Phantasie zu, mehr
Phantasie als für ihn gut sei, und glaubt ihm kein Wort.
Nun hat es aber nicht einer prophezeit, sondern ein ganzer Staat. Am Anfang war das Bedürfnis nach mehr Energie, dann waren die Planer an
der Reihe, schließlich die Tat der Arbeiter und Ingenieure. Nun sind die
Schornsteine da, rauchen und stützen den Himmel, darunter sich die
Städte verdoppelt haben. Lübbenau gar hat um das Zweieinhalbfache
zugenommen, wie mir von nebenan ganz, nebenbei vermittelt wird. Und
wenn es gleich stimmen sollte, daß diese Stadt von neunzehntausend Einwohnern, wie man hört, mit nur einem einzigen, noch dazu recht kleinen
Buchladen auskommt, so ist doch wenigstens der Strombedarf erheblich
gestiegen. Im Geiste sehe ich, wie jeder neugeborene Fax, noch ehe er
nach der Mutterbrust verlangt, zuerst wie aus einem Primärreflex heraus
nach dem Stromschalter grapscht. Schon genügt es nicht mehr, daß im
Kraftwerk Elektronen mit einem Aufwand von rund dreieinhalb Arbeitskräften pro Million Watt in Umlauf gebracht werden. Das muß, muß
rationeller, billiger geschehen. So schließt sich nebenan der Kreislauf und
beginnt von neuem: mehr Strom, mehr Leben, größerer Bedarf.
Siebentens
Inzwischen will man doch nicht bloß mit einem neuen Motor im alten
Gestell fahren. Es soll ein neues Modell geschaffen werden, wie es
die einen verfochten haben, ein Modell, das dann aber als Vorbild für
alle einschlägigen Betriebszweige geeignet sein soll. Die Entscheidung
darüber ist nicht nebenan gefallen, das nicht. Irgendwo haben wohl die
mit den Vertreterstimmen ihrerseits die Ansichten der Verfechter weiterverfochten. Dafür gibt es jetzt nebenan kaum noch Hindernisse. Uneingeschränktes, wenn nicht gar schrankenloses Systemdenken bricht wie aus
Urbehältern durch die Wand. Man unterscheidet grundsätzlich zwischen
ultrastabilen und multistabilen Systemen erster bis höchster Ordnung.
Das Kraftwerk ist ein multistabiles System fünfter Ordnung geworden.
Jedes Teilsystem soll für sich ultrastabil sein und ist als solches zugleich
Bestandteil eines übergeordneten multistabilen Systems, ein Prinzip, das
bis in die gesamte Volkswirtschaft als höchstes multi- und gleichzeitig
ultrastabiles System Geltung bekommen soll.
Etwas schrappt dazu drüben über die Wand. Ein längst verloren geglaubter Schulbubeninstinkt signalisiert sofort: Kreide. Sie nehmen die Wand,
dahinter mein Bett steht, als Tafel und entwerfen kybernetische Kreise.
Von der anderen Seite gesehen, liege ich nun keineswegs nur in der Horizontalen und mache kalte Umschläge, sondern ich liege zugleich in Höhe
der Ebene aller Systeme erster Ordnung. Das bedeutet, daß ich zumindest
im ökonomischen Sinn ultrastabil sein soll. Im Augenblick zähle ich jedoch
zur Systemreserve, da ich mir ja unter dem Einfluß einer Lübbenauer
Schönheit zum Glück nur den Fuß und nicht den Halswirbel verrenkt
habe.
So türmt sich drüben, vorerst nur kreiden an der Pappwand, das Modell
des integrierten Leitungs- und Informationssystems, ILIS, bis unter die
Decke. Dabei webert das Kreideschifflein so eifrig hin und her, auf und
ab, in die und aus der Ebene, daß mir allmählich schwant, wieviel unübersichtlicher und komplizierter das bisherige Leitungssystem gewesen
sein muß, wenn solche strukturellen Webernetze erforderlich sind, um es
zu vereinfachen. Das geht freilich auch dort drüben nicht ohne Kopfzerbrechen. Aber zum Glück kennen sich die Experten hierin aus. Sie
operieren mit Führungsgrößen, Stellgrößen, Störgrößen, Regelgrößen und
-strecken, Wirkungsabläufen, Leistungsparametern, Aufgabenabgrenzungen, Entscheidungsfeldern, Verantwortungstrichtern, Informationskegeln,
Freiheitsgraden, Toleranzbereichen und allerlei mittels ökonomischer
Hebel zu stimulierenden Faktoren, daß sich der Laie wundert, wie dabei
überhaupt noch Strom aus der Bude herauskommt.
Es gibt fast keine Sekunde bedächtigen Schweigens. Kaum hat der eine
Planer seinen Standpunkt oder das Arbeitsergebnis einer ganzen Facharbeitsgruppe vorgetragen, so versuchen die anderen sachkundig daran zu
rütteln, bis die ganze schöne Zuarbeit in sich zusammenfällt oder aber
erfolgreich verteidigt ist. Nur eine einzige Frage bereitet immer wieder
Schwierigkeiten und Kummer: Wie kann man die Werktätigen für die
Mitarbeit am Modell gewinnen, so daß sie einen aktiven Anteil daran
haben, ohne etwas zu verzögern oder gar zu verderben? Es kann natürlich nicht sein, daß bei der sozialistischen Rationalisierung ein paar Beauftragte den Braten allein drehen und wenden, so daß das Gerücht davon durch alle Straßen zieht, aber niemand das Gericht vor Tisch zu
sehen bekommt. Der Raum nebenan ist schließlich keine Gar- oder gar
Alchimistenküche. Aber soll ein jeder an dem Braten herumstochern
können, ob er etwas vom Grillen versteht oder nicht? Braucht es vielleicht für die Mitarbeit der Werktätigen am Modell selbst wieder ein zusätzliches Regelschema? Immer, wenn die Frage nach der Mitarbeit der
Werktätigen gestellt wird, sinken die Stimmfrequenzen merklich ab, die
Vokale werden dumpfer, der Redefluß gehemmt. Ähnliches hab ich vom
Tonband in Erinnerung, wenn die Tourenzahl gemindert wird.
Freilich, solange der aus Fachleuten kombinierte Prometheus dort drüben
für sich im geschlossenen Raum murmelt und mit Kreide Strukturen der
Selbstverständigung an die Wand projiziert, kommt dieser Vorgang höchstens dem inneren Monolog eines Gewichthebers gleich, ehe dieser an
die Stange tritt. Die Mitwelt ahnt zwar etwas von der für ein solches
Vorhaben notwendigen inneren Kultur, doch kann sie nicht aktiv dazu in
Beziehung treten. Erst wenn das Vorhaben zum Ereignis wird, hier deutlich an der Anspannung aller Muskeln, dort am Zustrom der Genossen,
Parteifreunde, Hausfrauen, Gewerkschafter, Lehrlinge und auch der sonst
sich selbst genügenden Liebespärchen, dann erst stellt sich das große
induzierende und kommunizierende "Hoooch!" der Mitwelt ein.
Zum Augenblicke könnt ich sagen: Lange genug im Resonanzkasten, voll
der vierwändigen Impulse bis unter die Haarwurzeln, frei von jeglicher
Fachdezerniertheit, wäre ich wohl ein ganz brauchbarer Halbleiter. Man
könnte mich an einen Stromkreis anschließen, einen Lautsprecher dazwischenhalten und den ganzen Schwingungssalat ohne jeden Kommentar
über Betriebsfunk oder in der "Holzoper" ausstrahlen. Vielleicht wäre das
ein Weg, gar bald das lebhafteste Interesse und die Teilnahme der Massen am Modellgeschehen zu erreichen.
Achtens
Die "Holzoper" ist, wie könnte es anders sein, ein Kulturhaus aus der
Aufbauzeit. In Lübbenau jedoch beginnt das Robotronzeitalter. Unweit
vom Bus-Bahnhof, der einmal so schön verglast war, hör ich, gleich vor
dem noblen Lehrlingsheim, wo der Nachwuchs für den größten Teil
unserer volkseigenen Energiebetriebe herangebildet wird, sollen bereits
die ersten Grundbohrungen niedergebracht worden sein. Jenes tonnenschwere Elektronengehirn, das die unschöpferische Routinearbeit, wie sie
bei der Steuerung, Regelung, Leitung und Verwaltung des Kraftwerkprozesses anfällt, übernehmen muß, braucht natürlich sichere Fundamente. Doch meine ich, wo schon die Bauarbeiter in dem Wust von Gräben und Gerüsten, umgeben vom Lärm der Preßluftaggregate, nicht ohne
eine Heimstatt der Kultur und Kunst leben mochten, dort werden sich
Herren über Elektronenhirne nicht auf die Dauer mit einer Bretterbude
zur Befriedigung kultureller Bedürfnisse zufriedengeben. Schon den
Oberbau, in dem die Rechenmaschine untergebracht sein wird, einen
Arbeitsplatz mithin, kann sich meine Phantasie nur als vollverglasten
Rundbau vorstellen. Man wird das teure Ding wohl nicht in einer Baracke
unterbringen. Doch was für die Maschinen gilt, gilt um so mehr auch für
die Unterbringung der Kultur.
Nun war zuvor bei der Beschreibung dieser Gegend viel von zerbrochenem Glas die Rede. Der Elektronenroboter ist doch eine Art Ordnungsriese, der eine Riesenordnung für sein Funktionieren zur Voraussetzung
hat.
Wenn Wolfram nun mit seiner Theorie vom Energiestau, besonders
bei jungen Leuten, in einer Umwelt größter Ordnung recht behält? Der
Bus-Bahnhof, immer wieder runderneuert, dürfte seiner Funktion als
Steuerungsventil bald nicht mehr gerecht werden, es sei denn, die jungen
Leute ließen sich noch mehr, vor allem aktiv, fürs Gewichtheben begeistern. Sonst könnte fürs zerbrechliche Robotrongehäuse kein Nachtwächter geradestehen.
Kraftwerker sind zum Glück Spezialisten auf dem Gebiet der Energieveredelung. Darum sind sie bald auf die Idee gekommen, daß Aufbau
und Betrieb der elektronischen Datenverarbeitungsanlage (EDVA) ein
rechtes Objekt für die Jugend ist. Der gute Vorsatz wird von der Entwicklung selbst gefordert und gefördert. So kam nach dem Naturzustand
das Wohnlager, dann das Kraftwerk, dann die neue Stadt, und schließlich wird das hochempfindliche gläserne Jugendobjekt folgen. Es ist zu
hoffen, daß dann die "Holzoper" nicht als letztes Zeugnis aller Behelfsbauten in der Gegend steht. Ständige Abnahme eines Naturzustandes bei
arbeitsbedingter Zunahme eines Kulturzustandes bedingt ein neues Kulturzentrum, so meint der Laie.
Allmählich, ohne daß ich selbst einen Blick darauf geworfen habe, außer
auf eines ihrer Mädchen, formt sich mir das Bild der ganzen Stadt. Sie
wärmt sich wie ein merkwürdiger Schmetterling mit weitgespreizten Flügeln in der Sonne. Der Nordflügel trägt ein grünes Band, den Spreewald;
der Südflügel aber hat ein schwarzes Band, die Kohlengruben.
Der eine Flügel ist naturgeformt, naturgeädert und naturgesprenkelt. Der
andere Flügel scheint von einem Künstler, der seine Anleihe beim Kubismus nur schlecht verhehlen kann, mutwillig anmontiert, ist kantig, spantig, kunstgegliedert und kunstgefeldert. Der Bahnhof mit der Eisenbahn,
ein rostbrauner, rauchbepelzter Rumpf, trennt beide Flügel mehr, als daß
er sie zu einem flugtüchtigen Ganzen vereint. Und doch ist eine höhere
Funktion vorhanden, indem vom schwarzen Flügelband die Helle und
vom grünen Flügelband ein Dunkel ausgeht und beides sich im Wechselspiel ergänzt. Hier auf der einen Seite produziert der Mensch die belebende Spannung, dort auf der anderen Seite liefert die Natur entspannende Belebung. Dadurch erst wird die Stadt in unserer Zeit vollendet.
Neuntens
Noch ist die vierte Wand, die mit dem Fenster, nicht beschrieben. Sie lag
bisher stets hinter meinem Rücken. Wieder beweglicher geworden, zieht
es den Menschen mit Macht ans Licht. Das Fenster muß aufgestoßen
werden. Dort steht das Kraftwerk, nein, es fährt, ein mächtig mastbespanntes Schiff mit sieben Schornsteinen zieht geruhsam übers Land.
Fachleute mögen's nüchterner betrachten. Ein ahnungsloser Laie ist jedoch ganz dem Eindruck, der Erscheinung ausgesetzt. Die Filterpappe
reinen Sachverstandes scheint hier auch fehl am Platze. Früh genug, so
fürchte ich, wird unterm Licht des Einblicks in die technologischen Zusammenhänge auch das Pathos schwinden. Durch Wissen wird uns Ungewöhnliches ja allzuleicht zum Alltäglichen. Der Mensch erkauft sich
Kenntnis viel zu oft für den Verlust des Schauderns. Darum ist zu wiederholen: ein mächtig Schiff mit stolzen Masten zieht dahin; oder: ein Hochgebirge menschlicher Schöpfungskraft türmt sich über des Vulkanos feuriger Werkstatt- und derlei Größe andeutende Worte mehr. Nur wo der
Mensch in dem Gewirr der Schluchten den Ausblick auf die selbstgeschaffenen Gipfel verliert, kommt auch die Ehrfurcht vor sich selbst abhanden.
Dort, die kleine Bretterbude, wie ein morscher Kahn im Schlepp des
großen Dampfers, das ist die Holzoper. Wie ganz naturgemäß sich das
ergibt, das Kleine, Unscheinbare im Gefolg des Großen, Stolzen. Und
doch können an Bord des unscheinbaren Bretterhauses nicht geringere
Kräfte wirksam werden als dort in den Maschinensälen. Und manchmal,
häufig, ja fast immer erscheint das sichtlich Große nur umgewandelt als
Produkt des scheinbar Kleinen.
Ich weiß nicht, warum ich immer wieder auf diesem einen Punkt herumreite. Vielleicht deshalb, weil Wolfram mich, was das Arbeitserlebnis des
Kraftwerkers betrifft, schnöde im Stich gelassen hat. Alles andere ist
ersichtlich.
Haubenlerchen trippeln emsig wie kleine Hühnchen über das Baugelände.
Ihre Stimmchen steigen zwischen den Baracken auf, als wären es tönende
Sonnenkringel. Aber viele Menschen achten nicht darauf. Sie haben, kann
ich mich erinnern, auf dem "Roten Platz" in der Neustadt in sauberen
Glasvitrinen eingeschreint, was ihnen lieb und teuer ist: Kristall und
Silber, Dederon und Plast und Porzellan. Von diesen an Reliquienschreine erinnernden Behältern geht ein mächtiger äußerer Anreiz zum
Mandeln aus, jedoch nicht allein für Kraftwerker. Was kann jene tiefer
noch bewegen?
Die schwarzen Ameisen auf der Stubendiele haben ihr Honigklümpchen
aufgezehrt. Andere Artgenossen kommen, finden nichts mehr vor. Sie
werden von jenen gespeist, die sich vollgepumpt haben. Das ist ein Tasten
mit den Fühlern, ein Suchen und Betteln, ein Geben und Beschwichtigen,
ein Rüsseln und Erzählen, ein südländisch aufgeregtes Gestikulieren dort
unten, ich hör es richtig trillern.
Es ist ganz offensichtlich: den winzigen Geschöpfen bereitet das Abgeben
der Labung an die anderen Stammesglieder ebensolche Befriedigung wie
deren Entgegennahme. Vielleicht weist diese zufällige Beobachtung einen
Weg. Nie kann der Kraftwerker Gegenständliches allein als sein Produkt
erleben, und wäre es nur ein Halbfabrikat. Stets muß er den Erzeugerstolz mit anderen teilen. Doch macht ihn dieses treue EINSPEISEN von
Energie ins Wirtschaftsnetz an allem, was entsteht, beteiligt. Und in dem
mittelbaren höheren Erlebnis des Beteiligtseins gelangt er zu sich selbst.
abgedruckt in
NDL - neue deutsche Literatur
17.Jahrgang Heft 4 April 1969
Antiquarisch zu finden:
Städte und Stationen in der DDR
Hrsg. von Elli Schmidt. Frankfurt, S. Fischer, 1970.
Mit Texten von Günter de Bruyn (Berlin), Egon Richter (Usedom), Eduard Klein (Güstrow), Hermann Kant (Parchim), Erich Köhler (Lübbenau), Günter u. Johanna Braun (Magdeburg), Rolf Schneider (Wernigerode), Günter Kunert (Buchenwald), Werner Neubert (Meißen), Juri Brezan (Bautzen) u.a.
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