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Erich Köhler
Erzählungen und Buchauszüge
Erich Köhler ca. 1990


Bericht aus einer Hutschachtel
(Neun Abschnitte über Lübbenau)

abgedruckt in
NDL - neue deutsche Literatur  Heft 4 / 1969
in der Reihe: Städte und Stationen (5)

Erstens
 
Hier sitz ich, forme Bilder aus Lauten, Tönen und anderen Geräuschen. Und ähnlich wie Platos Höhlengefangene, die sich aus den Schatten der hinter ihnen am Höhleneingang Vorübereilenden Vorstellungen machen mußten, versuche ich mir aus tongeborenen Bildern zusammenzureimen, was ich nicht sehen kann.
Könnte ich laufen, würde ich vielleicht wie ein gefangener Hamster im Geviert der Wände auf und nieder rennen. Kann aber nicht laufen, hab mir den Fuß verstaucht. So etwas kommt vor, wenn auch selten.

Da stampfen die einen große Kraftwerke aus dem Boden, türmen Beton zu wolkenkratzenden Schornsteinen auf, ziehen auf glühenden Rohr­schlangen unter gewaltigem Drücken hektartonnenweise den flüchtigen Dampf, spannen elektrische Ströme zu Hunderttausenden Volt über den Leisten und jagen sie dünndrahtig ins Land hinaus - und es geht alles gut. Ein anderer dreht sich auf dem Gehsteig nur nach 'nem Mädchen um, was ihm vielleicht gar nicht mehr zukommt, würdehalber, schnappt dabei unglücklich von der Bordsteinkante ab und - knacks. Nicht wahr?
Er kann von Glück reden, wenn SIE es nicht gemerkt hat oder wenig­stens so tut oder ihm sogar ein nachsichtiges Lächeln schenkt. Der Fuß aber schwillt und so weiter. Er muß das Quartier hüten, das einer Hut­schachtel gleicht, Hartpappenwände ringsum, eine Hartpappendecke, schmale fugendeckende Holzleisten, wie Verschnürungen um den Raum greifend. Da darf er sich schon freuen, wenn ihm wenigstens dieses Lächeln, sofern es ihm zuteil wird, als erster und vorerst letzter Gruß der jungen bordsteinkantigen Stadt ins traurige Verlies folgt.
Alles weitere ist Temperamentsache. Er kann endlich einmal aus­ schlafen, kann sich Bücher bringen lassen, oder er kann allerlei Ver­gleiche anstellen, insbesondere solche mit gefangenen Hamstern. Setzt so ein armes Tier mitten in einen Getreidespeicher, ringsum nichts als goldenes Korn. Das nenne ich Strafe für einen Hamster. Wo soll er denn nun etwas ab- und wohin tragen? Er würde sich wahrscheinlich die Backentaschen vollstopfen und sinnlos auf und nieder rennen, bis er im Überfluß verhungert.
Hier sitz ich tief drinnen in einem Berg von Geräusch und Getön und Gelärm. Von allen Seiten stürzt es herein, elementar oder auch artiku­liert; die Pappwände, anstatt daß sie isolierten, wirken wie Trommeln, wie Membrane. Flächenverstärkt bläht sich ein jeder Kieks hier drin zum Riesen auf und steht nachts neben deinem Bett: Gib deine Nerven her! In solchen Kartenbuden muß die Stereophonie erfunden worden sein.
Wo soll ich hin? Ich habe nicht einmal Backentaschen. Der Fülle aus­gesetzt, gleich welcher Art, obwohl kein Hamster, geht es einem doch gegen den Strich, sie völlig ungegriffen vorüberrauschen zu lassen. So sitz ich hier, schnitze aus Tönen grobklotzige Bilder und stopfe sie man­gels entsprechender Hamstertaschen zwischen die Zeilen. Einmal komme ich hier wieder heraus, dann wird sich zeigen, wie die so einseitig ent­standenen Schemen neben der vollen lebendigen Wirklichkeit bestehen. Die Welt ist rund, doch hier drinnen ist sie nach Wänden geordnet. Laßt hören, ihr Wände, ob sich vielleicht die draußen sich wölbende Fülle, durch euch gefächert, trotzdem begreifen läßt.

Zweitens
 
Unter anderem läßt sich also die Wand zur Linken vernehmen:

Du kommst wieder eine Viertelstunde zu spät, Arthur!

Wegen der Eisenbahn, Wolfram. Immer wenn ich an die Schranken komme, sind die runter. Und dann bleiben sie eine Viertelstunde unten.

Dann steh doch fünf Minuten früher auf!

Soll vielleicht die ganze Altstadt fünf Minuten früher aufstehen, wenn sie um sieben in der Neustadt sein will? Zähl einmal die vielen fünf Minuten zusammen, was da an Stunden herauskommt, Stunden zu wenig Schlaf, Wolfram. Das mit der Bahn ist glatte Sabotage. - Wer hat denn überhaupt den Bus-Bahnhof so demoliert, heute nacht? Alle Scheiben sind eingeschlagen, sämtliche Lampen zersplittert, sogar die Kabel haben sie herausgerissen, die Bänke umgestürzt und zertrüm­mert, die Türen eingetreten und die Türklinken abgehauen. Die Fahr­pläne sind heruntergefetzt. Mann, hast du denn nichts gehört? Du bist doch hier der Nachtwächter.

Was soll ich denn gehört haben? Ich gehöre zum Wohnlager und nicht zum Bus-Bahnhof oder zum Lehrlingsheim dort gegenüber.

Also, du hast etwas gehört, ja?

Und wenn, was hätte ich ausrichten können? Ich bin kriegsbeschädigt.

Die Polizei rufen, Mensch!

Was soll die Polizei machen? Reinknüppeln? Da stimmt doch etwas von Grund auf nicht, genau wie bei deinen fünf Minuten, aus denen jedesmal Viertelstunden werden.

Das ist mir zu hoch, Wolfram.

Ich glaub dir's schon. Aber als sie vor hundert Jahren die Bahn gebaut haben, konnten sie nicht wissen, daß hier mal 'ne Neustadt herkommt, sonst hätten sie bestimmt an eine Überführung gedacht. Und als sie den Plan für die Neustadt gemacht haben, hat niemand berücksichtigt, daß sich der Mensch erst ungefähr ab vierzig mit Rasenpflege und so begnügt. Jetzt lebt die Jugend in dieser Stadt. Zwei Hochhäuser stehn wie Hauptleute vor der Garnison. Die Wohnblöcke stehn habtacht, stehn richteuch, stehn in Reihe, in Linie, links gestaffelt, rechts ge­staffelt, auf Vordermann, in Seitenrichtung, im Karree, alle in gleicher Montur bis in die installierten Eingeweide hinein. Nie kommt ein "Weggetreten!" Ich war Soldat, ich weiß, wie einem auf die Dauer dabei zumute ist.

Der Wächter Wolfram, vielmehr seine Stimme, wird schulmeisterhaft. Wahrscheinlich hebt er jetzt den Zeigefinger.

Die Philosophen, Arthur, hab ich gelesen, nennen einen solchen Zu­stand asyntropisch.

Was heißt das, Wolfram?

Das heißt soviel wie (er hebt die Stimme) ein Höchstmaß an Ord­nung oder ein Mindestmaß an Entropie, was auf dasselbe hinaus­kommt. Nämlich: unwahrscheinlicher im Sinne des Naturzustandes geht's nimmer. Dagegen ist unser Wohnlager ein kleines Paradies, wenn unsere Durchgangsbelegschaft auch lange nicht von so feinen Eltern ist wie die Herren Lehrlinge drüben im Hochheim.

Wie das, Wolfram?

Weil einfach jeder weiß, daß diese alten Baracken einmal abgerissen werden. Dafür kann dann etwas Neues wachsen, was, ist gar nicht so wichtig. Hauptsache, der Mensch sieht Möglichkeiten. Dadurch wird ihm ein Fleckchen Erde erst teuer. Der Mensch ist nämlich ein Taten­tier. Unordnung richtet seinen Sinn auf Ordnung, das Niedere auf Höheres. Er sieht ganz einfach, was er tun kann, und das beruhigt. Nur wenn der Mensch nicht sieht, was er tun kann, oder wenn er andauernd sieht, was er nicht tun kann, dann wird er kribblig, du. Ein sogenanntes Übermaß an Ordnung höhlt den Menschen aus. Die Alten kratzen und scherchen dann in den Anlagen herum und ärgern sich, wenn jemand übers Geharkte latscht, zum Beispiel die Kinder. Damit fängt's aber schon an. Wo sollen sie denn hin? Die jungen wollen nicht immer in abgesteckten Bahnen und vorgeschriebenen Winkeln laufen. Da staut sich etwas in ihnen.

Jetzt unterbricht ein markzersetzendes Bullern, Kreischen und Pfeifen die Unterhaltung. Minutenlang ist die Luft zerplatzt, als zwängten sich tausend Teufel auf einmal durch einen scharfrandigen Spalt ins Freie. Dann spricht wieder Wolfram, und es ist nach diesem Krach fast toten­still.

Das ist wie mit dem Dampf, Arthur. Der Überdruck muß raus, oder er sprengt den Kessel. Sport hilft da nicht immer. Es gibt doch nirgends so viele Regeln wie beim Sport.

Ja, wenn es so ist, was wollen wir dann überhaupt?

Nichts. Den Bus-Bahnhof immer wieder neu instand setzen und frisch verglasen, damit die Kerle von Zeit zu Zeit etwas zum Austoben haben.

Du bist ein Philosoph, Wolfram.

Das nicht, aber ich bin seit zehn Jahren Nachtwächter.

Wenn es aber nun doch nicht die Lehrlinge von der Berufsschule waren?

Die müssen es gewesen sein, sonst läßt sich der Unfug überhaupt nicht erklären.

Die Lagerwachenwand tönt immer, selbst nachts, und wenn sie nur das Schnarchen des Wächters verstärkt. Freilich, wenn nach Tanz­veranstal­tungen sich etwa ein Bursche heimlich mit seinem Mädchen in die Baracke schleichen will, dann schläft Wolfram nicht. Er kennt seine Zeiten, wo er Erzengel Gabriel spielen muß, ganz genau. Das klingt dann so:

Fangt hier nicht auch noch an! Genug, daß es in jedem Wohnblock in der Neustadt vierzich, fuffzich Kinder gibt. Wo soll's denn hin­führen? Wir bauen und bauen und bauen noch das ganze Land zu wegen euch, und anstatt daß wir euch endlich alle unterbringen, werdet ihr immer mehr.

Wolfram schildert den Kinderreichtum Lübbenaus, das demzufolge eigentlich Liebenau heißen müßte, mit Worten, daß mich nachts Alp­träume drücken. Die Großblockwände in der Neustadt gehen aus den Fugen. Durch alle Ritzen quillt und quirlt neues Leben.

Drittens
 
Die Wand zur Rechten, an der mein Bett steht, erwacht nur tagsüber zum Leben. Dahinter muß sich ein größerer, vielseitig nutzbarer Raum befin­den, denn vielfach sind die Belange, die dem Vernehmen nach dort von den verschiedensten Gruppen vorgebracht und abgehandelt werden. Just nachdem Wolfram nachts wieder einmal zwei arme Sünder aus dem Paradies vertrieben hat, spricht rechts nebenan jemand über ein Buch mit dem Titel "Zeit der Störche".
Ich weiß nicht, wie es kommt: nach und nach beginne ich alles, was von links, rechts, hüben und drüben durch die Wände tönt und in meinen Gehörgang aufeinanderstößt, vom Sündenfall her zu betrachten. Selbst der Knall, der hereindringt, wenn die Überschalljäger über den Himmel jagen, scheint irgendwie damit zusammenzuhängen. Die Literatur­freunde werden rechts nebenan von Lebewesen abgelöst, die eine ganz andere Sprache sprechen. Die klingt so:

Unter Berücksichtigung der Zielfunktion über unsere Aufgabenstellung, der bedarfsgerechten Bereitstellung von elektrischer Arbeit und Lei­stung bei minimalstem gesellschaftlichem Aufwand, haben wir das­jenige Teilsystem vordringlich zu projektieren, welches uns bei vor­fristiger Einführung in die Praxis noch vor der Fertigstellung des Ge­samtmodells nachweisbare Effektivität verspricht.

Dennoch muß diese Sprache irgendwie verständlich sein, denn es wird drüben sofort widersprochen:

Wenn wir diesen lukrativen Praktizismus unserer kurzfristigen Jahres­bilanz zuliebe von vornherein postulieren, bleibt uns keinerlei schöp­ferische Alternative. Das negiere ich! Schließlich geht es darum, ein, nein das ökonomische System des Sozialismus für unser Kraftwerk auf der Grundlage einer wissenschaftlichen Prognostik auszuarbeiten.

Daß es sich hierbei um Widerspruch handelt, ist weniger dem Kontext zu entnehmen als vielmehr dem Ton und Klang der Stimme. Es ist ja so, daß ich wohl nie erfahren werde, wer die einzelnen Sprecher sind, noch wie sie aussehen. Alles Zufällige, Nebensächliche, wie es die äußere Erscheinung bietet, wird ja von der Wand zurückgehalten wie die Alpha- und Betateilchen beim Zerfall von Radium hinter einem Schirm. Pappe, finde ich, filtert und absorbiert hierbei besonders gut. Nur die Rede dringt durch wie die härtere Gammastrahlung. Dabei unterschei­den sich deutlich zwei Arten von Stimmen. Die eine Art klingt etwas höher, heller, härter, lauter, so, als würde dort jemand ständig etwas vertreten, bedingungslos, jedoch ohne es zu verfechten. Die andere Art von Stimmen hat von allem Genannten eine Nuance weniger. Ihr Spektrum weist eine eigenartige Rotverschiebung auf. Cha­rakteristisch dafür scheint mir ein besonderer Schmelz aus disziplinierter Ungeduld und sanfter Gereiztheit, so als würde einer damit etwas ver­fechten, ohne Hoffnung, dafür jemals Vertreter zu finden. Ich nehme an, es geht ums Vorwärtskommen. Die einen, die "Lukrativ­Effektivisten" mit den Vertreterstimmen, wollen so etwas wie einen alten Wagen mit einem neuen, stärkeren Motor versehen, damit es augenblick­lich schneller geht, und die übrigen Systemteile nach und nach auswech­seln. Die anderen, die "Alternativ-Prognostizisten", verfechten den Bau eines völlig neuen Modells ab Reißbrett, unter Berücksichtigung der Er­fahrungen mit dem alten Wagen bei entsprechender Entwicklungsdauer. Ich habe den Verdacht, daß die ersteren zwar auch gern so verfahren möchten, aber leider nicht losgelöst von der bisherigen Wirtschaft han­ deln können, deren ökonomische Möglichkeiten sie vertreten müssen. Des­halb kämpfen sie die eigene Vorfreude auf den schöpferischen Genuß tapfer in sich nieder, wodurch ihre Stimmen nur lauter und kategorischer werden. Gern möchte ich von der Wand, dahinter das Aktiv lautstark zerfällt, abrücken. Denn, wie gesagt, ich stehe, vielmehr liege, unterliege längst schon jenem Trauma, an dem Paradieswächter Wolfram schuld ist. Es tut mir leid, die Aktivität der Planer und Leiter nebenan lediglich als Funktion einer kausalen Entwicklungsreihe ansehen zu müssen, die in der vergleichsweise banalen, noch dazu heimlichen Tätigkeit von Liebes­pärchen ihren Ursprung hat und durch die Optimierung der Lebens­bedingungen nur beschleunigt und beschleunigend so weitergeht. Schon drängt sich, verzeiht, honorige Experten, dem unfreiwillig einkartonier­ten Tonpräparator (um nicht zu sagen: Bildausstopfer) diesbezüglich der erste Blasphemismus auf: Handlanger der Liebe. Alles in mir sträubt sich dagegen. Möchte wenigstens nicht mehr Lauscher an der Wand sein, aber der Fuß, der Fuß!

Viertens
 
Zum Glück hat meine Welt ja vier Wände. Mal hören, was von der Tür her kommt. Dahinter befindet sich ein langer Korridor, von dem aus Zu­gänge zu all den übrigen leichtwandigen Gelassen der Baracke abgehen. Allmählich lernt einer nach den Schritten recht gut zu unterscheiden, wer draußen vorbeigeht. Wenn zum Beispiel die Optimierer den Gang her­unterkommen, um nebenan im Streit über das gemeinsame Rationalisie­rungsmodell wieder einmal in zwei Gruppen zu zerfallen, dann wackelt der ganze Bau mitnichten. Sie tragen ausnahmslos alle Verantwortung, und das macht elastisch. Auch zeichnet sich diese Planergruppe dadurch aus, daß nicht eine einzige Frau dabei ist. Diesen Vorzug weiß nur der­jenige voll zu schätzen, der tagelang bei erzwungener Ruhe und durchaus guter Verpflegung sein Dasein fristet. Zu allem Überfluß ist die Decke meiner Hutschachtel mit einer ganz hundsgemein rosa Pastellfarbe getönt. Jeden Tag sinkt der rosa Himmel ein Stückchen tiefer und senkt sich drückend herab. Das fehlte noch, daß nebenan eine - womöglich tempe­ramentvolle - Frauenstimme mitmischte, wenn über Fortbestand und Be­günstigung des Storchenzeitalters beraten wird. Ohnehin kommen mir alle Stöckelschuhschritte draußen auf dem Gang verteufelt flott vor. Frauen sind das einzige Phänomen, das sich nicht durch Wände diffe­renzieren oder abstrahieren läßt. Gegen das Ewigweibliche hilft anschei­nend nicht einmal Pappe.
Alles übrige ist erklärbar. Nichtverantwortungsträger treten zum Beispiel fest und unbekümmert mit den Absätzen auf. Das dröhnt und poltert durch den hohldieligen Gang, daß ich nur wünsche, die Planer und Leiter nebenan möchten in ihrem Modell des ökonomischen Systems des Sozia­lismus einen praktischen Weg finden, die Verantwortung auf breite Schul­tern zu verteilen, damit die Bude nicht immer so wackelt.
Die Eingangstür zu dem Gang, weit vorn, steht Tag und Nacht angel­weit offen. Der Gang ist mehr als ein langer, schmaler Verbindungsraum, er ist ein Instrument. Die dünnwandigen Räume, die ihn beiderseits um­geben, wirken wie Resonanzkörper. Die Luft im Gang wird zur schwin­genden Tonsäule. Das ist mein Gehörgang zur Außenwelt. Alles, was auf zwei- bis dreimal hundert Meter vor dem Eingang lärmt und lautet, das moduliert und modelliert sich hier zu ungeahnt plastisch wirkenden Vor­gängen.
Was ist zum Beispiel das für ein Schrei aus hundert Kehlen? Vielfach gebündelt, deutlich wahrnehmbar staut sich im Gang von irgendwoher ein "Hoooch!", dem enthusiasmierten Fußballtooorschrei völlig unver­leichbar. Ein Tor wirkt viel zu spontan. Man kann es höchstens lauthals konstatieren, wenn es schon erzielt ist. Und doch kommt dieses "Hoch!" von einer begeisterten Menge. Wird wer gefeiert? Oder was? Sekundenlang folgt atemlose Spannung. Jetzt ein "Jaaa!". Geschafft! Er­leichterung, Triumph. Was, wenn's nicht Fußball ist, erweckt im Men­schen solche Teilnahme? Jetzt ein Poltern wie von Zentnergewichten, im Gang noch nachdröhnend. Nun ist selbst mir, als fielen Gewichte von der Seele. Befreites Beifallsrauschen dort. - Welcher Vorgang löst, obwohl er nur ein angespanntes "Hoch!" lang dauert, Teilnahme, Triumph und Erleichterung, gleich dreifache Emotion aus? Steckt da nicht, warte, warte, die Formel Kraft mal Weg durch Zeit dahinter?
Was kann den Menschen wohl am ehesten begeistern außer Schönheit? Leistung natürlich. Und angesteckt von deni unbekannten Vorgang sowie des Wächters Wolfram ständig träufelnder Philosophiererei, versinke ich in Betrachtungen. Ich stelle mir vor und sehe, wie ein Mensch vor ein Problem hintritt, wie er sich konzentriert und gleichsam ein Modell bei sich entwirft, das Modell vom gemeisterten Problem. Er spricht in sich hinein: Da bist du also, Problem, und hier bin ich. Kann sein, daß meine Kraft dir nicht gewachsen ist, noch nicht. Noch nicht? Immerhin ist sie mir aber eine gut bekannte Größe, während du mit hundert Tücken schweigst. Gerade das solltest du nicht, schweigen, denn das reizt mich. Du sollst mich aber nicht reizen! Dein stummes, skeptisches Verharren stachelt mich an. Es könnte sein, der Stachel reizt in mir ein bisher un­bekanntes Quentchen Kraft herzu, vielleicht gerade so viel, daß ich dich bewältige, Problem. Da ist es schon passiert. Nun will ich wissen, wie groß dies Kräftezuwachsquentchen aus deiner Reizgröße sein könnte. Ich pack dich an! Da gibt es nur uns beide. Du ziehst hinab, ich stemme mich dagegen. Wer wen? Wir sind zusammen eins statt zwei. So steht jetzt die Mathematik auf dem Kopf. Verdammt, will's werden? Aaah, die Kräfte halten sich die Waage. Du mußt! Mußt! Mußt nicht? Ich will! Da, was ist das? Ein hundertfältiges "Hoooch!". So wirst du aufgehoben und ein "Eins hoch zwei" geboren. Ich bin die Grundzahl Mensch, im Exponenten eine Summe aus dem aufgehobenen Problem plus dem neugewonnenen, hooochwohlgeborenen Quentchen Zuwachskraft. Allein hätte ich das kaum bewältigt, wenn nicht mein Handeln so begeistert hätte, daß hun­dertfältig die Bekräftigung zurückgekommen ist. Und so bestätigt nun das hochzufriedene "Jaaa!" der Menge: Geschafft! Halb knirschend, unter ungeheurer Berufung auf die eigene Kraft hinaufgestemmt, halb schwe­bend auf dem Schwung des Zuspruches, der sich also immer dann ein­stellt, wo einer sich getraut, eine gute Leistung vorzutragen, ist das Pro­blem geschafft.
Es poltert. Wieder hat dort ein ähnliches Ereignis stattgefunden. Später bestätigt meine "Alma Mater", die Raumpflegerin, welche die nährende Verbindung zur Außenwelt aufrechterhält: In der "Holzoper" war Ge­wichtheben. Wer hat gewonnen? Ich vermute, nicht nur die Sieger.

Fünftens
 
Der einzig neue Begriff, der ungeklärt bleibt, ist die "Holzoper". Nor­malerweise würde es mir keine Ruhe lassen, ehe ich nicht wüßte, was dahintersteckt. Aber was ist hier, unterm rosa Hutschachtelhimmel, im Ausgeliefertsein an Philosophen mit Paradieswächtererfahrung, noch nor­mal? Schon läßt Wolfram seinen Schüler in der Resonanzhöhle ahnen, was für ein trauriges Los ein Kraftwerker hat.

Nimm doch 'nen Maurer, Bäcker, Schneider, Landwirt, Wagenbauer oder einen der berühmten Lübbenauer Gurkensieder. Aus dem Material, das sie behandeln, wird wiederum etwas, das sie mit Händen greifen, sehen, hören, riechen, schmecken, das man anziehen, darin man wohnen oder darauf einer fahren kann. Stets bekommt ihre Arbeit in einer be­stimmten Form, bestimmten Farbe auch ein bestimmtes Maß, und Masse und Gewicht. Ein neues Ding entsteht, und wenn es gut geraten ist, ver­schafft es seinem Schöpfer Befriedigung, auch Stolz. Nichts geht verloren. Aus Stoff wird neuer, höher organisierter Stoff. Die Arbeit, sonst was Unbestimmtes, angewandte Energie, kommt so zuhanden.
Im Kraftwerk ist es dagegen umgekehrt. Riesige Mengen Kohle, Öl, Wasser, technische Anlagen werden mit viel Wissenschaft und Arbeits­kraft in Bewegung gesetzt. Und was kommt am Ende heraus? "Verfüg­barkeit", nichts als "Verfügbarkeit". Der Stoff löst sich in Rauch und Asche auf, die Maschinen nutzen sich ab, der Verschleiß an technischem Material ist groß. Und wo bleibt das Ergebnis? Ein paar dünne Drähte, in denen der Wind säuselt, schwingen sich über Land. Auf der Tafel stehen Prozentzahlen, und der Direktor wird unausstehlich, wenn die nicht stimmen. Das ist alles. So kommt die Arbeit ganz und gar ab­handen.

Es ist aber etwas drin in den Drähten, Wolfram, etwas Elektrisches.

Kann er das anfassen, kann er das streicheln, der Kraftwerker?

Arthur war nämlich wieder eine Viertelstunde zu spät gekommen, wegen der Bahn. Da ist Wolfram immer besonders gereizt und bleibt minde­stens fünf Viertelstunden länger.

Der Mensch, Arthur, schafft doch nicht ums liebe Geld allein. Er will seine Arbeit auch erleben. Und er erlebt nun einmal mit dem Auge und so weiter, und am besten immer noch mit der Hand. Er will am Ende einmal wie ein kleines Kind, und wenn auch nur verstohlen, über seine Arbeit hinstreicheln. Einmal anfassen, was er da gemacht hat, davon hängt sein Befinden ab als Mensch. Du aber sagst ihm, es sei Saft auf der Leitung. Das kann er glauben und auch nicht. Oder ein Zeiger schlägt aus. Was ist das schon?

Jawohl, was ist das schon? Wolfram hat immer recht. Das wäre ein An­blick, wollte ein Kraftwerker zärtlich sein Produkt berühren, etwa am Hochspannungsdraht einer 380 000-Volt-Freileitung, so wie der Fahr­zeugbauer dem nächsttausenden Trabant auf die Motorhaube klopft, ehe er ihn in den Verkehr entläßt.
Nein, nicht die sogenannte "Holzoper", sondern die Gewichtheber be­herrschen nach wie vor das Feld meiner Einbildung. Und daran ist Wolf­ram schuld mit seiner verdammten Betrachtungsweise. Eingepfercht in ein Gewirr von Tönen - es gibt ja noch mehr Räume rings um den Gang, der alle Geräusche heranflößt wie ein Strom das Treibgut -, also ein­gepfercht, sehnt sich der Mensch einmal nach wirklichen Bildern. Der Schlaf zaubert sie herbei. Der Traum schlägt aus den Tonaufzeichnungen das Sichtbare. Und ich sehe den Gewichtheber. Unter dem Einsatz seiner ganzen Person und Persönlichkeit, mit mächtig gewölbtem Brustkasten, das Rückgrat bis zum Krachen gesteift, im bis zum Platzen plastisch her­vortretenden Spiel und Gegenspiel sämtlicher Muskelstränge und -pakete, das über Fuß, Waden, Schenkel, Rücken, Rippen, Schultern, Nacken, Arme und Hals bis in das Angesicht hinein sich aufbaut, stemmt der Athlet die Last, die ihn gereizt hat, empor. So tritt er einen Augenblick lang zwischen die Erde und das Ihrige, trotzig als der nackte Mensch. So macht er allen die Spannung zwischen Erde und Gewichten sichtbar, in­dem er Kraft dranwendet, und induziert damit dem Publikum jenes pro­gressive Verhältnis zum Problem, das wieder ihn selber bekräftigt. Das nenne ich eine Wechselwirkung. Doch wehe, wenn der Heber als ein Mensch, der vielleicht gerade unter solchen Bedingungen seine bisherige persönliche Bestleistung überboten hat, in diesem Augenblick sein Werk begreifen wollte. Die Gewichte polterten augenblicklich herab, genauso wie die Spannung, mühevoll erzeugt, durch den unmittelbar begreifen wollenden Kraftwerker, Hand am Draht, hindurch zur Erde abhanden käme. Letzterer könnte hinausgehen ins "Braunkohlenkombinat Jugend", südlich von Lübbenau, und dort die lagernden Megatonnen Kohle be­rühren. Es wäre das gleiche, als wenn der Sportler seine Gewichte tät­schelte, solange diese am Boden liegen. Wie aber kommen beide nun zu einem befriedigenden Erlebnis ihrer Arbeit, die sich nicht in etwas Festem, Stofflichem, sondern in Spannung, in einem Zustand ausdrückt?

Sechstens
 
Inzwischen hat sich von irgendwo her eine kleine schwarze Ameise in meinem Gemach eingefunden. Entweder hat sie sich hierher verirrt, oder sie absolviert einen Routinestreifzug durch ihr Revier. Sicher ist nur, daß die sich nicht eines ihrer sechs Beinchen beim Umsehen nach dem anderen Ameisengeschlecht verknackst hat und deshalb hier hineingehört. Ich kleckse ein Klümpchen Honig auf den Fußboden. Nach einer Stunde oder dreien ist ein ganzer Trupp um das Nektartröpfchen versammelt. Warum sollte ich sie vertreiben? Hier gibt es doch sonst nichts zu sehen. Schließlich verursachen sie ja keinen Lärm.
Rechts nebenan wird inzwischen weiter am Modell des ÖKSYSOZ des Kraftwerkes Lübbenau und Vetschau gearbeitet. Wir wissen, daß es hoch­gebildete Experten sind. Der Titel, den sie sich selbst gegeben haben, ist lang. Die Funktion, die ihnen andere ohne weiteres beimessen, ist ver­blüffend einfach. Ich nenne sie deshalb schlicht und einfach Storchzeit­optimierer, wenngleich vermutlich mancher manches dagegen einzuwen­den haben dürfte. Doch was immer sie entwerfen, vorbereiten und ins Werk setzen mögen, es läuft doch letzten Endes immer, sofern es gut ge­rät, auf die erweiterte Reproduktion des Menschlichen hinaus. Ich stelle mir vor: Unberührte Heide, kümmerliche Kiefern, Sand. Lübbenau träumt mit seinen siebentausend Einwohnern, spreewärts gewandt, von sauren Gurken und recht viel Ausflüglern. Da kommt ein Wahrsager des Wegs und entwirft das Bild von sieben (ausgerechnet sieben) berghohen Schornsteinen, dampfenden Kühltürmen, Förderbrücken, einen Gespen­sterwald von Gittermasten mit fernhinleitenden Drahthaarmähnen. In den Spreewaldkaupen, dort, wo der Nebel wie ein Konservendeckel wirkt, wiegt man die Köpfe, billigt dem Wahrsager Phantasie zu, mehr Phantasie als für ihn gut sei, und glaubt ihm kein Wort.
Nun hat es aber nicht einer prophezeit, sondern ein ganzer Staat. Am An­fang war das Bedürfnis nach mehr Energie, dann waren die Planer an der Reihe, schließlich die Tat der Arbeiter und Ingenieure. Nun sind die Schornsteine da, rauchen und stützen den Himmel, darunter sich die Städte verdoppelt haben. Lübbenau gar hat um das Zweieinhalbfache zugenommen, wie mir von nebenan ganz, nebenbei vermittelt wird. Und wenn es gleich stimmen sollte, daß diese Stadt von neunzehntausend Ein­wohnern, wie man hört, mit nur einem einzigen, noch dazu recht kleinen Buchladen auskommt, so ist doch wenigstens der Strombedarf erheblich gestiegen. Im Geiste sehe ich, wie jeder neugeborene Fax, noch ehe er nach der Mutterbrust verlangt, zuerst wie aus einem Primärreflex heraus nach dem Stromschalter grapscht. Schon genügt es nicht mehr, daß im Kraftwerk Elektronen mit einem Aufwand von rund dreieinhalb Arbeits­kräften pro Million Watt in Umlauf gebracht werden. Das muß, muß rationeller, billiger geschehen. So schließt sich nebenan der Kreislauf und beginnt von neuem: mehr Strom, mehr Leben, größerer Bedarf.

Siebentens
 
Inzwischen will man doch nicht bloß mit einem neuen Motor im alten Gestell fahren. Es soll ein neues Modell geschaffen werden, wie es die einen verfochten haben, ein Modell, das dann aber als Vorbild für alle einschlägigen Betriebszweige geeignet sein soll. Die Entscheidung darüber ist nicht nebenan gefallen, das nicht. Irgendwo haben wohl die mit den Vertreterstimmen ihrerseits die Ansichten der Verfechter weiter­verfochten. Dafür gibt es jetzt nebenan kaum noch Hindernisse. Unein­geschränktes, wenn nicht gar schrankenloses Systemdenken bricht wie aus Urbehältern durch die Wand. Man unterscheidet grundsätzlich zwischen ultrastabilen und multistabilen Systemen erster bis höchster Ordnung. Das Kraftwerk ist ein multistabiles System fünfter Ordnung geworden. Jedes Teilsystem soll für sich ultrastabil sein und ist als solches zugleich Bestandteil eines übergeordneten multistabilen Systems, ein Prinzip, das bis in die gesamte Volkswirtschaft als höchstes multi- und gleichzeitig ultrastabiles System Geltung bekommen soll.
Etwas schrappt dazu drüben über die Wand. Ein längst verloren geglaub­ter Schulbubeninstinkt signalisiert sofort: Kreide. Sie nehmen die Wand, dahinter mein Bett steht, als Tafel und entwerfen kybernetische Kreise. Von der anderen Seite gesehen, liege ich nun keineswegs nur in der Hori­zontalen und mache kalte Umschläge, sondern ich liege zugleich in Höhe der Ebene aller Systeme erster Ordnung. Das bedeutet, daß ich zumindest im ökonomischen Sinn ultrastabil sein soll. Im Augenblick zähle ich jedoch zur Systemreserve, da ich mir ja unter dem Einfluß einer Lübbenauer Schönheit zum Glück nur den Fuß und nicht den Halswirbel verrenkt habe.
So türmt sich drüben, vorerst nur kreiden an der Pappwand, das Modell des integrierten Leitungs- und Informationssystems, ILIS, bis unter die Decke. Dabei webert das Kreideschifflein so eifrig hin und her, auf und ab, in die und aus der Ebene, daß mir allmählich schwant, wieviel un­übersichtlicher und komplizierter das bisherige Leitungssystem gewesen sein muß, wenn solche strukturellen Webernetze erforderlich sind, um es zu vereinfachen. Das geht freilich auch dort drüben nicht ohne Kopf­zerbrechen. Aber zum Glück kennen sich die Experten hierin aus. Sie operieren mit Führungsgrößen, Stellgrößen, Störgrößen, Regelgrößen und -strecken, Wirkungsabläufen, Leistungsparametern, Aufgabenabgrenzun­gen, Entscheidungsfeldern, Verantwortungstrichtern, Informationskegeln, Freiheitsgraden, Toleranzbereichen und allerlei mittels ökonomischer Hebel zu stimulierenden Faktoren, daß sich der Laie wundert, wie dabei überhaupt noch Strom aus der Bude herauskommt.
Es gibt fast keine Sekunde bedächtigen Schweigens. Kaum hat der eine Planer seinen Standpunkt oder das Arbeitsergebnis einer ganzen Fach­arbeitsgruppe vorgetragen, so versuchen die anderen sachkundig daran zu rütteln, bis die ganze schöne Zuarbeit in sich zusammenfällt oder aber erfolgreich verteidigt ist. Nur eine einzige Frage bereitet immer wieder Schwierigkeiten und Kummer: Wie kann man die Werktätigen für die Mitarbeit am Modell gewinnen, so daß sie einen aktiven Anteil daran haben, ohne etwas zu verzögern oder gar zu verderben? Es kann natür­lich nicht sein, daß bei der sozialistischen Rationalisierung ein paar Be­auftragte den Braten allein drehen und wenden, so daß das Gerücht da­von durch alle Straßen zieht, aber niemand das Gericht vor Tisch zu sehen bekommt. Der Raum nebenan ist schließlich keine Gar- oder gar Alchimistenküche. Aber soll ein jeder an dem Braten herumstochern können, ob er etwas vom Grillen versteht oder nicht? Braucht es viel­leicht für die Mitarbeit der Werktätigen am Modell selbst wieder ein zu­sätzliches Regelschema? Immer, wenn die Frage nach der Mitarbeit der Werktätigen gestellt wird, sinken die Stimmfrequenzen merklich ab, die Vokale werden dumpfer, der Redefluß gehemmt. Ähnliches hab ich vom Tonband in Erinnerung, wenn die Tourenzahl gemindert wird.
Freilich, solange der aus Fachleuten kombinierte Prometheus dort drüben für sich im geschlossenen Raum murmelt und mit Kreide Strukturen der Selbstverständigung an die Wand projiziert, kommt dieser Vorgang höch­stens dem inneren Monolog eines Gewichthebers gleich, ehe dieser an die Stange tritt. Die Mitwelt ahnt zwar etwas von der für ein solches Vorhaben notwendigen inneren Kultur, doch kann sie nicht aktiv dazu in Beziehung treten. Erst wenn das Vorhaben zum Ereignis wird, hier deut­lich an der Anspannung aller Muskeln, dort am Zustrom der Genossen, Parteifreunde, Hausfrauen, Gewerkschafter, Lehrlinge und auch der sonst sich selbst genügenden Liebespärchen, dann erst stellt sich das große induzierende und kommunizierende "Hoooch!" der Mitwelt ein.
Zum Augenblicke könnt ich sagen: Lange genug im Resonanzkasten, voll der vierwändigen Impulse bis unter die Haarwurzeln, frei von jeglicher Fachdezerniertheit, wäre ich wohl ein ganz brauchbarer Halbleiter. Man könnte mich an einen Stromkreis anschließen, einen Lautsprecher da­zwischenhalten und den ganzen Schwingungssalat ohne jeden Kommentar über Betriebsfunk oder in der "Holzoper" ausstrahlen. Vielleicht wäre das ein Weg, gar bald das lebhafteste Interesse und die Teilnahme der Mas­sen am Modellgeschehen zu erreichen.

Achtens
 
Die "Holzoper" ist, wie könnte es anders sein, ein Kulturhaus aus der Aufbauzeit. In Lübbenau jedoch beginnt das Robotronzeitalter. Unweit vom Bus-Bahnhof, der einmal so schön verglast war, hör ich, gleich vor dem noblen Lehrlingsheim, wo der Nachwuchs für den größten Teil unserer volkseigenen Energiebetriebe herangebildet wird, sollen bereits die ersten Grundbohrungen niedergebracht worden sein. Jenes tonnen­schwere Elektronengehirn, das die unschöpferische Routinearbeit, wie sie bei der Steuerung, Regelung, Leitung und Verwaltung des Kraftwerk­prozesses anfällt, übernehmen muß, braucht natürlich sichere Funda­mente. Doch meine ich, wo schon die Bauarbeiter in dem Wust von Grä­ben und Gerüsten, umgeben vom Lärm der Preßluftaggregate, nicht ohne eine Heimstatt der Kultur und Kunst leben mochten, dort werden sich Herren über Elektronenhirne nicht auf die Dauer mit einer Bretterbude zur Befriedigung kultureller Bedürfnisse zufriedengeben. Schon den Oberbau, in dem die Rechenmaschine untergebracht sein wird, einen Arbeitsplatz mithin, kann sich meine Phantasie nur als vollverglasten Rundbau vorstellen. Man wird das teure Ding wohl nicht in einer Baracke unterbringen. Doch was für die Maschinen gilt, gilt um so mehr auch für die Unterbringung der Kultur.
Nun war zuvor bei der Beschreibung dieser Gegend viel von zerbroche­nem Glas die Rede. Der Elektronenroboter ist doch eine Art Ordnungs­riese, der eine Riesenordnung für sein Funktionieren zur Voraussetzung hat.
Wenn Wolfram nun mit seiner Theorie vom Energiestau, besonders bei jungen Leuten, in einer Umwelt größter Ordnung recht behält? Der Bus-Bahnhof, immer wieder runderneuert, dürfte seiner Funktion als Steuerungsventil bald nicht mehr gerecht werden, es sei denn, die jungen Leute ließen sich noch mehr, vor allem aktiv, fürs Gewichtheben be­geistern. Sonst könnte fürs zerbrechliche Robotrongehäuse kein Nacht­wächter geradestehen.
Kraftwerker sind zum Glück Spezialisten auf dem Gebiet der Energie­veredelung. Darum sind sie bald auf die Idee gekommen, daß Aufbau und Betrieb der elektronischen Datenverarbeitungsanlage (EDVA) ein rechtes Objekt für die Jugend ist. Der gute Vorsatz wird von der Ent­wicklung selbst gefordert und gefördert. So kam nach dem Naturzustand das Wohnlager, dann das Kraftwerk, dann die neue Stadt, und schließ­lich wird das hochempfindliche gläserne Jugendobjekt folgen. Es ist zu hoffen, daß dann die "Holzoper" nicht als letztes Zeugnis aller Behelfs­bauten in der Gegend steht. Ständige Abnahme eines Naturzustandes bei arbeitsbedingter Zunahme eines Kulturzustandes bedingt ein neues Kul­turzentrum, so meint der Laie.
Allmählich, ohne daß ich selbst einen Blick darauf geworfen habe, außer auf eines ihrer Mädchen, formt sich mir das Bild der ganzen Stadt. Sie wärmt sich wie ein merkwürdiger Schmetterling mit weitgespreizten Flü­geln in der Sonne. Der Nordflügel trägt ein grünes Band, den Spreewald; der Südflügel aber hat ein schwarzes Band, die Kohlengruben.
Der eine Flügel ist naturgeformt, naturgeädert und naturgesprenkelt. Der andere Flügel scheint von einem Künstler, der seine Anleihe beim Kubis­mus nur schlecht verhehlen kann, mutwillig anmontiert, ist kantig, span­tig, kunstgegliedert und kunstgefeldert. Der Bahnhof mit der Eisenbahn, ein rostbrauner, rauchbepelzter Rumpf, trennt beide Flügel mehr, als daß er sie zu einem flugtüchtigen Ganzen vereint. Und doch ist eine höhere Funktion vorhanden, indem vom schwarzen Flügelband die Helle und vom grünen Flügelband ein Dunkel ausgeht und beides sich im Wechsel­spiel ergänzt. Hier auf der einen Seite produziert der Mensch die be­lebende Spannung, dort auf der anderen Seite liefert die Natur entspan­nende Belebung. Dadurch erst wird die Stadt in unserer Zeit vollendet.

Neuntens
Noch ist die vierte Wand, die mit dem Fenster, nicht beschrieben. Sie lag bisher stets hinter meinem Rücken. Wieder beweglicher geworden, zieht es den Menschen mit Macht ans Licht. Das Fenster muß aufgestoßen werden. Dort steht das Kraftwerk, nein, es fährt, ein mächtig mast­bespanntes Schiff mit sieben Schornsteinen zieht geruhsam übers Land. Fachleute mögen's nüchterner betrachten. Ein ahnungsloser Laie ist je­doch ganz dem Eindruck, der Erscheinung ausgesetzt. Die Filterpappe reinen Sachverstandes scheint hier auch fehl am Platze. Früh genug, so fürchte ich, wird unterm Licht des Einblicks in die technologischen Zu­sammenhänge auch das Pathos schwinden. Durch Wissen wird uns Un­gewöhnliches ja allzuleicht zum Alltäglichen. Der Mensch erkauft sich Kenntnis viel zu oft für den Verlust des Schauderns. Darum ist zu wieder­holen: ein mächtig Schiff mit stolzen Masten zieht dahin; oder: ein Hoch­gebirge menschlicher Schöpfungskraft türmt sich über des Vulkanos feuri­ger Werkstatt- und derlei Größe andeutende Worte mehr. Nur wo der Mensch in dem Gewirr der Schluchten den Ausblick auf die selbstgeschaf­fenen Gipfel verliert, kommt auch die Ehrfurcht vor sich selbst ab­handen.
Dort, die kleine Bretterbude, wie ein morscher Kahn im Schlepp des großen Dampfers, das ist die Holzoper. Wie ganz naturgemäß sich das ergibt, das Kleine, Unscheinbare im Gefolg des Großen, Stolzen. Und doch können an Bord des unscheinbaren Bretterhauses nicht geringere Kräfte wirksam werden als dort in den Maschinensälen. Und manchmal, häufig, ja fast immer erscheint das sichtlich Große nur umgewandelt als Produkt des scheinbar Kleinen.
Ich weiß nicht, warum ich immer wieder auf diesem einen Punkt herum­reite. Vielleicht deshalb, weil Wolfram mich, was das Arbeitserlebnis des Kraftwerkers betrifft, schnöde im Stich gelassen hat. Alles andere ist ersichtlich.
Haubenlerchen trippeln emsig wie kleine Hühnchen über das Baugelände. Ihre Stimmchen steigen zwischen den Baracken auf, als wären es tönende Sonnenkringel. Aber viele Menschen achten nicht darauf. Sie haben, kann ich mich erinnern, auf dem "Roten Platz" in der Neustadt in sauberen Glasvitrinen eingeschreint, was ihnen lieb und teuer ist: Kristall und Silber, Dederon und Plast und Porzellan. Von diesen an Reliquien­schreine erinnernden Behältern geht ein mächtiger äußerer Anreiz zum Mandeln aus, jedoch nicht allein für Kraftwerker. Was kann jene tiefer noch bewegen?
Die schwarzen Ameisen auf der Stubendiele haben ihr Honigklümpchen aufgezehrt. Andere Artgenossen kommen, finden nichts mehr vor. Sie werden von jenen gespeist, die sich vollgepumpt haben. Das ist ein Tasten mit den Fühlern, ein Suchen und Betteln, ein Geben und Beschwichtigen, ein Rüsseln und Erzählen, ein südländisch aufgeregtes Gestikulieren dort unten, ich hör es richtig trillern.
Es ist ganz offensichtlich: den winzigen Geschöpfen bereitet das Abgeben der Labung an die anderen Stammesglieder ebensolche Befriedigung wie deren Entgegennahme. Vielleicht weist diese zufällige Beobachtung einen Weg. Nie kann der Kraftwerker Gegenständliches allein als sein Produkt erleben, und wäre es nur ein Halbfabrikat. Stets muß er den Erzeuger­stolz mit anderen teilen. Doch macht ihn dieses treue EINSPEISEN von Energie ins Wirtschaftsnetz an allem, was entsteht, beteiligt. Und in dem mittelbaren höheren Erlebnis des Beteiligtseins gelangt er zu sich selbst.

abgedruckt in

NDL - neue deutsche Literatur

17.Jahrgang   Heft 4   April 1969

Antiquarisch zu finden:

Städte und Stationen in der DDR

Hrsg. von Elli Schmidt. Frankfurt, S. Fischer, 1970.

Mit Texten von Günter de Bruyn (Berlin), Egon Richter (Usedom), Eduard Klein (Güstrow), Hermann Kant (Parchim), Erich Köhler (Lübbenau), Günter u. Johanna Braun (Magdeburg), Rolf Schneider (Wernigerode), Günter Kunert (Buchenwald), Werner Neubert (Meißen), Juri Brezan (Bautzen) u.a.

Glossar
ÖLB
Örtlicher landwirtschaftlicher Betrieb
BGL
Betriebliche Gewerkschaftsleitung

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