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Erich Köhler
Erzählungen und Buchauszüge
Erich Köhler ca. 1990

 

Aus dem Marnitzer Tagebuch

abgedruckt in
NDL - neue deutsche Literatur  Heft 4 / 1960

In das Büro der Genossenschaft kommt man durch einen Korridor, der mit Holz­dielen ausgelegt ist. Die Schlacken­füllung unter den Dielen­brettern muss mit der Zeit zusammengesackt sein. Es klingt hohl und dröhnt durch den Gang, wenn man über die Bretter geht. Das hört sich forsch an und reizt zu forscherem Auftreten. Ehe man den Korridor durchschritten hat, kann man sich aufgerafft haben. Ich weiss nicht, wie es kommt, aber ich finde, dass man Mut gebrauchen kann, wenn man in ein Büro geht; begeben sich die Insassen des Büros selten hinaus, braucht man viel Mut. Vielleicht geht es den "Büroleuten" beim Gang nach "draußen" nicht besser.

Heut ist es anders. Ich will keinen Vorschuß haben; nicht zu kritisieren noch zu klagen bin ich da. Ich habe eine einigermaßen frohe Botschaft. Ich will mindestens sechs Wochen in der Genossenschaft arbeiten. Darüber muß man sich freuen, denke ich. Allerdings: Ich will vier Tage in der Woche arbeiten, die restlichen zwei Tage gehören der Schriftstellerei. Ich will festhalten, wie es in unserer Genossenschaft zugeht. Das ist ein Auftrag des Institutes für Literatur, an dem ich seit einigen Monaten studiere. Ich nähere mich festen Schrittes der Tür und denke: Wer wird drin sein? Hier kenne ich jeden. Und es sind fast alle da, an die ich dachte: Ernst Pflock, der Vorsitzende, Hans Zähler, der Buchhalter, Erwin Krummet, der Agronom, Paul Koch, der alte Feldbrigadier, Walter Nelke, Instrukteur der Partei und - da ist auch der Melker Reinholz. Sie freuen sich, daß ich mich sehen lasse, aber beim Anblick des Melkers beginnt es in meinem Kopf zu brauen. Reinholz ist der Nachfolger eines wegen Veruntreuung entlassenen Hauptmelkers. Damals war das hier noch keine Genossenschaft. Wegen Reinholz war ich einmal in Herzberg, um von den bewährten Züchtern des Volksgutes zu er­fahren, wieviel Tiere ein Melker betreuen kann. Ich wollte beweisen, daß in unserem Stall ein Mensch in acht Stunden nicht mehr als siebzehn, höch­stens aber zwanzig Kühe ordnungs­gemäß versorgen kann. Und Reinholz sagte, daß er mindestens fünfundzwanzig Kühe haben müsse, um mit seiner Familie "leben zu können". Ich war damals mit meiner Meinung nicht durch­gekommen, wiewohl ich sie im volkseigenen Gut bestätigt gefunden hatte. Auch die Betriebsleitung schien nicht an der Einführung gesunder Arbeits­maße interessiert; die Genossen waren wohl froh, erst einmal einen neuen Melker zu haben. So habe ich meine "Reformtätigkeit" aufgegeben. Als ich nun verkünde: "Montag fange ich zu arbeiten an", taxiert mich Reinholz eindringlich und sagt: "Da haben wir den richtigen Mann fürn Stall." Die alte Rechnung mit Herzberg, warum sollte ausgerechnet er sie vergessen haben? Es ging um seinen Verdienst, so glaubte er. Er wird mir zeigen wollen, wie man als Melker arbeiten muß, wird mir beweisen wollen, daß fünfundzwanzig Kühe nicht zu viel sind. Ich bin an diese Arbeit nicht gewöhnt. Es geht gut los, ganz folgerichtig; ich habe damals das Problem aufgegriffen, doch nicht zu Ende geführt. Der Melker ist ein Wühlertyp, knochig und, wie mir scheint, ein wenig brutal. Egal, die sechs Wochen hältst du aus, denk ich und fühle mich feige und tapfer zugleich. Eine Einsicht kommt mir: Ich muß von dem Gesichtspunkt aus schreiben, daß ich nur wenige Wochen hier sein werde. Nur so kann ich den Genossen recht tun. "Ich werde mir die Arbeit nicht aussuchen", sage ich. Sie schicken mich sowieso in den Kuhstall.

Im Pferdestall habe ich nichts zu schaffen, aber ich gehe hinein. Im Säge­werk kamen die Arbeiter vor Schicht­beginn im Heizraum bei der Lokomobile zusammen. In der Stärkefabrik versammelten sie sich im Kessel­haus. Im Örtlichen Landwirtschaftsbetrieb fanden wir uns morgens im Pferdestall ein. In all den kleinen Betrieben, die ich kenne, traf man sich, wenn es sich machen ließ, vor Arbeitsbeginn an der Stelle, von der die Kraft des Be­triebes ausging. Dort war es naturgemäß auch warm. Als der alte Pferdestall umgebaut wurde und wir einen neuen bekamen, gingen wir, sobald die Pferde umgestallt waren, morgens in den neuen Stall und nicht etwa in den ebenfalls neu eingerichteten Aufenthaltsraum. Von den Pferden ging die Kraft aus, die uns tagsüber in Anspruch nahm, und als die MTS mehr und mehr die Pferde entlastete, warteten wir auf den Traktor - im Pferdestall.
Wohin geht ein Vertreter vom Rat des Kreises zuerst, wenn er den Be­trieb besuchen kommt? Wohin gehen sie alle, die Instrukteure, Oberagro­nomen, Zootechniker, Bürgermeister, Hygienebeauftragte, Orts­bevoll­mäch­tigte und wer sonst dienstlich im Betrieb zu tun hat? Sie gehen zuerst in das Büro des Betriebsleiters.
Wohin geht ein Landarbeiter, wenn er in den Betrieb zurückkommt, nach­dem er ihm - kurz oder lang, entschuldigt oder unentschuldigt - ferngeblie­ben war? Er geht hinüber in den Pferdestall. Der Pferde­stall ist das zweite Büro. In den Pferdestall kommt außer den Arbeitern nur noch der Brigadier oder der Assistent des Betriebsleiters, der bisher nie ernst genommen wurde- Es herrscht kein guter Kontakt zwischen unseren beiden Büros. Dabei wird im Pferdestall ebensoviel über die Wirtschaft des Betriebes gesprochen wie im Büro des Leiters. Auch jede aktuelle politische Frage taucht in irgend einer Form dort auf. Die Diskussionen werden jedoch sprunghaft und un­genau geführt. Die Fragen werden selten bis zu Ende behandelt. Die Vor­stellungen von der Welt sind verschwommen oder einseitig. Aber es werden auch vernünftige Ansichten geäußert, sie beschränken sich jedoch meistens auf das Gebiet land­wirt­schaftlicher Fachfragen. Dazu wird dann fast immer heftige Kritik an der Leitung des Betriebes geübt. Im Pferdestall haben fünf ehemalige Landwirte das Wort. Sie sind durch den Krieg um ihren Be­sitz gekommen und haben immer noch nicht recht begriffen, warum, so scheint es mir. Deshalb haben sie auch darauf verzichtet, mit der Bodenreform neu anzufangen. Sie resignierten und wurden Landarbeiter. Jeder von ihnen hat mindestens fünfzigmal die Saat aufgehen sehen und kann sich erinnern, wie sie sich in dem und jenem Jahr auf dem und jenem Boden bei diesem oder jenem Wetter verhalten hat. Aber die eifrigsten Stallredner schweigen, wo reden am Platze wäre: in den Versammlungen. So nehmen sie sich jede Mög­lichkeit, ihr Wissen nutzbringend anzuwenden. Das Ende vom Lied: Aus unserem Pferdestall kommt nichts heraus. Pferdestall­diskussionen dringen höchstens als Gerücht bis vor das erste Büro. So lieb mir die Atmosphäre des Pferdestalles ist, und so anfällig ich Dichter für seine "absterbende Tra­dition" bin, eines ist mir klar: Zur Umwandlung des Örtlichen Landwirt­schaftsbetriebes in eine Produktionsgenossenschaft hat das zweite Büro nichts beigetragen. Trotzdem gehe ich auf einen Sprung hinüber, den Futtermeister Reichmann begrüßen. Ich will sehen, wieviel von den alten Vierbeinern noch dort stehen, will die vertraute Luft atmen, einen Zipfel der vertrauten Atmosphäre einfangen, die mir ein Stückchen Heimat in diesem Betrieb ist, dann kann ich mit meiner Arbeit beginnen. Der Kuhstall ist für mich eine fremde Welt.

Das erste, was mich der Pferdefütterer Reichmann fragt, ist: "Bist du noch in der Gewerkschaft?" Ich sage: "Ja freilich" und bin dunkler Ahnun­gen voll. Seinerzeit bin ich recht plötzlich aus dem Betrieb geschieden, um "freischaffend" zu werden. Welcher junge Schriftsteller, vom ersten Erfolg berauscht und mit Verträgen in der Tasche, beginge diesen Fehler nicht? Ich hätte mich nur rechtzeitig um die Neuwahl eines Kollegen, der mich als stellvertretender BGL-Vorsitzender ablösen sollte, kümmern müssen. Frei­lich war auch noch der Vorsitzende da, aber um den geht es nicht. So fühle ich mich heute noch für die Kollegen verantwortlich. Denn der frühere Vor­sitzende ist auch nicht mehr im Betrieb. Natürlich weiß ich, daß jetzt etwas kommen muß, und Reichmann fragt auch schon: "Was meinst du, steht uns Freiarbeitern bezahlter Urlaub zu?" Da muß ich mich besinnen. Was ist ein "Freiarbeiter"? Den Namen gab es früher nicht. Mit der Gründung der Ge­nossenschaft muß er zusammenhängen. Die Landarbeiter, die der Genossen­schaft nicht beigetreten sind, nennen sich "Freiarbeiter". So formt das Leben Begriffe, sieh an. Und da behaupten sie: "Von Politik haben wir keine Ahnung." Dabei hat dieses Wort einen tüchtigen Schuß politischen Gehalts. Die Genossen­schafts­bauern sind demnach "unfrei". Reichmann dagegen ist Freiarbeiter, "Freischaffender" der Landwirtschaft. Da sind wir im gewissen Sinne wieder Kollegen. Mit dem Urlaub für Freischaffende hat es jedoch seine besondere Bewandtnis. Ein Freischaffender hat immer Urlaub oder nie. Das kommt heraus, wenn man sich solche Titel zulegt. Ich sage: "Mann, jeder Mensch hat Recht auf Urlaub und Erholung, wenn er arbeitet." - "Denkst du", sagt Reichmann. "Da frag mal uns. Wir können davon singen. Wenn wir Urlaub verlangen, heißt es: 'Arbeite ohne Forderungen oder geh! Halten kann ich euch nicht', sagt uns der Vorsitzende." Das ist kaum zu glauben, denk ich. Hat das Landarbeiterschutzgesetz für die Genossen­schaften keine Gültigkeit? Ich sage: "Selbstverständlich müßt ihr Urlaub kriegen und bezahlt."
Die Freiarbeiter hängen sich an mich. Hannes Führmann fordert: "Nun sag was! Wir kriegen keinen Urlaub, kein Weihnachtsgeld, keiner schaut uns mehr an. Wir haben keine Rechte. Gut sind wir nur noch für die Arbeit; wenn wir was sagen, heißt es: 'Ihr könnt gehn! Wir dürfen keine Land­arbeiter halten. Ausbeutung!' Und die Gewerkschaft kümmert sich um uns nicht mehr."
Führmann ist seit Jahren im Betrieb. Im alten ÖLB hat er Leitungen kom­men und gehen sehn, er hat sich eins gelacht. Er ist ebenso fleißig mit dem Mund wie mit den Händen. Bevor er hier anfing, hat er Sand geschippt auf dem Bau. Dort war er sogar Aktivist. Heut noch erzählt er gern, wie ihm eines Tages Genossen von der Leitung der Bau-Union und Kollegen von der Gewerkschaft eine Prämie überreichten. Das muß ihm damals nahegegangen sein; er brachte es noch jedesmal als Beispiel, wenn er eine seiner zahlreichen Kritiken an der Betriebsleitung zum besten gab.
Die Genossenschaftsbauern reden übers Wetter und über die Arbeit. Die "Freiarbeiter" politisieren. Jedes Wort über die LPG hat seine Färbung. "'s ist bald kein Mensch mehr da. Wer soll die Arbeit machn?" sagt Hannes und zählt an den Fingern. "Glatz ist weg, Franz Reichmann weg, Püntzer, Leo, die ganzen Kerle, no, und wir gehn auch, wenn die so weitermachn. Was soll dann sein? Guck doch mal rein in 'n Pferdestall, die Pferde stehn, warn über Winter nicht einmal angespannt. An die Hengste traut sich kein Mensch mehr ran. Oh, oh, was die noch machn wern." Und da freut der sich. Was ist passiert hier bei der Gründung, denk ich, woher kommt die Spannung?
Die Genossenschaft besteht aus zwölf Mitgliedern, sie haben mehr als 400 ha Land. Auf die Arbeitskraft kommen über 33 ha, dabei verteilen sich die Mitglieder noch auf Ställe, Kraftfahrpark und Verwaltung. Der Vor­sitzende sagt zu den "Freiarbeitern": "Wer will, kann gehn!" Wer sagt so was zu Leuten, die er braucht? Warum gelingt es nicht, die "Freiarbeiter" in Genossenschaftler zu verwandeln?

Der Melker Reinholz pflegt jeden zweiten Satz mit den Worten: "Ich steh früh um dreie uff" zu beenden. Es ist nicht einfach, herauszukriegen, wen er damit beschuldigt. Mit feinem Sprachgefühl führt er seine Rede so, daß er die Endparabel anbringen kann. Klar ist, daß er Gespräche bevor­zugt, zu denen er schließlich seinen frühen Arbeitsbeginn in Beziehung brin­gen kann, aber die Ausgangspositionen sind unwahrscheinlich variabel. Ich glaube, Reinholz würde es schaffen, in wenigen Sätzen vom Sputnik folge­richtig auf sein Generalthema zu kommen. Man kann nicht sagen, daß er sehr gesprächig sei. Die Tiere brauchen nach der Fütterung Ruhe. Das gilt für Kühe noch mehr als für Pferde. Folglich kommt den Tag über kaum jemand in den Stall, und der Melker ist fast isoliert. Reinholz ist nicht so versessen, daß er sich Gesprächspartner suchte; aber wenn er ein Opfer gefunden hat, fallen seine Standardworte. Nur wenn er mit mir spricht, ge­braucht er sie mäßiger. Dann spricht er fast vernünftig. Ich habe ihm er­zählt, daß ich ein Tagebuch über die Genossenschaft schreibe.
Reinholz' Erlebniswelt reicht von seiner Wohnung quer über den Hof bis zum Kuhstall. Ins Dorf kommt er selten. Haareschneiden läßt er sich zwischen Füttern und Tränken. Wie es in der Dorfschänke aussieht, weiß er nicht. Er trinkt sein Bier zu Hause. In die Stadt kann er nur, wenn ihn jemand auf dem Motorrad oder im Auto mitnimmt. Zum Abendfüttern muß er wieder im Stall sein. Das Abendfüttern beginnt nachmittags um zwei Uhr. Ins Kino kommt er kaum, obwohl in unserm Dorf zwei Filme in der Woche laufen. Wenn andere abends im Kino sitzen, sitzt Reinholz unter seinen "Gurken" (wie er sich ausdrückt). Und es hat keinen Zweck, sich abends frei zu machen, denn erstens kann seine "Gurken" kein anderer richtig ausmelken und zweitens muß er früh um dreie uffstehn. Hat er ein­mal einen Film gesehen, erzählt er wochenlang davon. Den letzten Film sah er vor sieben Monaten. Dem Melker sind die Vorgänge noch bis ins kleinste gegenwärtig.
An ihm ziehen täglich die Bilder eines anderen Films in Schwarz und Weiß vorüber. Er handelt von Zeugung, Trächtigkeit und Geburt. Das Tier gewinnt in seiner Mutterschaft fast etwas Menschliches; der Film wird darum niemals eintönig. Die Kuh beleckt ihr Kalb einmal, dann nimmt der Mensch es fort. Monatelang gibt die Kuh Milch. Das Tierkind wird ge­füttert und gepflegt. Den Überschuß an Milch, den er erzüchtet, nimmt der Mensch dem Tier. Dieser Film von biologischem Werdegang und Aufzucht rollt unaufhörlich vor dem Melker ab, hält ihn in Spannung.
Reinholz' Hund ist so angebunden, daß er bei der kleinen Rosa, einer zierlich gebauten, aber guten Milchkuh, schlafen und mit ihr spielen kann. Rosa wird unruhig, wenn der Hund losgelassen wird, wenn er davonspringt. Mit ihren sanften Augen blickt sie ihm nach, sie brüllt. Das heißt wohl: "Komm zurück!" In ihrer Sorge um den Hund vergißt Rosa, daß sie ange­bunden ist. Ein Ruck der Kette, die um ihren Hals liegt, bringt sie zur Er­gebenheit. Dann sagt der Melker: "Sie denkt, das ist ihr Kalb."
So lebt er.

Von der Landstraße führt der kürzeste Weg zur Genossenschaft über einige hundert Meter Stoppel-, Sturz- und Saatacker. Ich beginne damit, einen Pfad auszutreten, und wünsche mir jedesmal, wenn ich darübergehe, daß der Boden nicht gefroren sein möge, damit der Pfad schön deutlich werde. Das ist freilich nur selten der Fall. Meist ist er knochenhart gefroren. Ich muß tüchtig mit den Absätzen schürfen, aber mit der Zeit wird es schon werden.
Mein Pfad macht etwa in Rufnähe des Gehöfts einen scharfen, fast recht­winkligen Knick. Es sieht aus, als habe das Trampeltier, das hier entlang­gekommen ist, zunächst am Hof vorüberstampfen wollen. Das kommt, weil ich im Dunkeln anmarschiere. In Finsternis und Nebel richte ich mich nach dem Schein einer am Dorf­ausgang stehenden Laterne. Erst wenn man daran ist, auf zweihundert Meter vorm Hof vorbeizulaufen, schimmern rechter Hand die Kuhstallfenster auf. Daher kommt dieser Knick in meiner Spur. Aus den verstaubten Fenstern kann kaum Licft heraus, und im Stallinnern schaffen drei nackte Glühbirnen nicht gerade Helligkeit. Am Tage ist es umgekehrt. Dann kommt zu wenig Licht von draußen in den Stall. Daß die zahlreichen scheibenlosen Teilvierecke der Fenster mit allerhand Gegen­ständen wie alten Futtertrögen, Strohwischen, leeren Säcken, Töpfen und sogar mit einer ausgedienten Gänsestalltür verrammelt sind, macht die Licht­verhältnisse nicht besser. Und auf der Seite, wo der Dungplatz liegt, ist es ganz finster; dort hängt Reinholz zum Ausmisten eine alte Stallaterne hin, die mehr blendet als Licht spendet. Dazu ist der Dungplatz hochvoll. Ohne Schwung kommt man über den schmalen, vereisten Laufsteg nicht hinauf. Schon am ersten Tag gingen mir die Augen auf. Ich spürte am eigenen Leibe, daß ich die Arbeit der Tierzüchter unterschätzt hatte. Reinholz hat früh, wenn ich anfange, schon die Hauptarbeit, das Melken, bewältigt. Was nun kommt, ist nur Nebenarbeit für ihn. Mit einer Karre, von der er gern sagt, daß keiner außer ihm sie anheben könne, ohne früher oder später damit umzukippen, schüttet er den sechzig Tieren Schnittfutter. Dann kratzt er den Dung seiner dreißig Tiere zusammen, lädt ihn auf eine andere Karre, fährt ihn auf den Dunghaufen, fegt Stände und Gang sauber, nimmt einen großen Sack voll Schrot auf den Buckel und rennt damit traumsicher, ohne anzu­ecken, durch die Futtergänge. Dabei läßt er den Kühen das Kraftfutter, nach Leistung und Bedarf bemessen, in die Krippen rieseln. Er schneidet Stroh, streut es unter die Kühe, gibt ihnen riesige Forken voll Heu und Futterstroh und fegt noch einmal alles rein. Das Ganze dauert ungefähr zweieinhalb Stunden und ist eine Folge schwerer Arbeitsgänge unter schwie­rigen Stallverhältnissen. Die Laufgänge sind schlüpfrig und werden selten gewaschen, die einzige säubernde Flüßigkeit, die man beim Fegen ausnützen kann, stammt von den Kühen.
Draußen ist es finster, man sieht die Planken nicht. Sie sind eisglatt. Wer nicht Schwung genug hat (und wo soll auf den glitschigen Gängen der Schwung herkommen?), der rutscht mitsamt der Karre zurück oder kippt die Ladung auf die Fahrstraße, über die es hinweggeht. Reinholz kommt immer hoch. Aber ich schiele des öfteren über die Krippen zu ihm hin, denke: Gott sei Dank, er ist noch nicht viel weiter, und schufte. Die umgekippte Dunglast muß ich während der Mittagspause beiseite gabeln. Ich laufe nur noch Trab; ich springe nach der Gabel, nach einem Stecken, um das Jauche­abflußrohr zu durchstochern, ich haste nach dem Besen. Reinholz geht ruhig hin und her. Für ihn ist das nur Nebenarbeit, wie gesagt. Er fegt schon. Aber jetzt beginnen die Kühe zu brummen. Er muß ihnen Kraftfutter schütten. Dadurch bekomme ich ein paar Minuten Zeit, um meinen Rück­stand aufzuholen. Ich muß mit ihm zusammen die Stalltür schließen. Die Zeit, die er mir für das Kraftfuttergeben schenkt, ist schon belastend genug für mich. Zwischen uns spielt sich in aller Stille ein Wettkampf ab. Reinholz will einen "Arbeitsmythos" schaffen, weil ich seinerzeit beweifelt habe, daß ein Mann in unserem Stall fünfundzwanzig Kühe ordnungsgemäß betreuen kann. Nur Schlappschwänze können für eine begrenzte Anzahl von Tieren sein; das ist es, was er mir beweisen will. Ich habe vor Anstrengung das Gliederzittern und kann nachts nicht schlafen. Über all das wird kein Wort gesprochen zwischen uns, obwohl wir sonst über mancherlei reden.

Der Arbeitsabschnitt, den ich schilderte, wiederholt sich am Tage. Dazu kommen: Rübenschneiden, Zurecht­mischen von Kraftfutter, Vorratwerfen von Rauhfutter. Kühe müssen umplaziert und zum Decken gelassen, Kälber müssen markiert werden; eine Kuh hat gekalbt, man muß dem Tierarzt helfen - jeden Tag kommt etwas anderes vor. Diese für die Ernährung, Sauberhaltung und Gesunderhaltung der Tiere notwendigen Arbeiten nennt man Pflegearbeiten. Eine wichtige Pflegearbeit, das Putzen, nenne ich nicht, weil wir bis jetzt noch nicht dazu gekommen sind, sie auszuführen. Diese Pflegearbeiten - ohne Putzen - nehmen bei uns genau acht Stunden in An-spruch, wenn wir sie zu zweit tun. Danach fühle ich mich wie durch die Wring­maschine gedreht. Reinholz aber hat mindestens zweieinhalb Stunden gemolken, wenn ich morgens um sechs Uhr komme. Am Nachmittag um vier, wenn ich nach Hause gehe, schickt er sich wieder an zu melken. Das dauert etwa bis sieben Uhr. Er arbeitet also täglich mindestens zwölf Stun­den. Er melkt nur vor und nach meinem Arbeitstag. Ich weiß nicht, was er "nebenbei" macht: melken oder pflegen. Ich hoffe, daß mir die Frage, welche Arbeit ihm mehr einbringt, Haupt- und Nebenarbeit bestimmen, helfen kann. Daher überschlage ich: für die Pflege gibt die Genossenschaft eine Einheit pro Tier und Monat. Ein Monat hat natürlich dreißig Tage. Das Tier kennt weder Sonn- noch Feiertag. Da hat Reinholz bei seinen dreißig Tieren im Monat dreißig Einheiten. Das bedeutet: eine Arbeitsein­heit in acht Stunden. Dazu bekommt er eine Arbeitseinheit pro hundert­fünf­und­zwanzig Liter ermolkener Milch. Zur Zeit hat Reinholz einen Stall­durchschnitt von sechs Litern pro Kuh und Tag. Das sind drei­hundert­sechzig Liter. Davon melkt er etwa die Hälfte allein. Die leicht­melkenden Kühe überläßt er seiner Frau. So hat er einhundert­achtzig Liter, die er täglich in Einheiten umrechnen kann. Das sind 1,4 Einheiten täglich, 0,4 Einheiten mehr als für die Pflege. Demnach ist also das Melken die "Hauptarbeit".
Unbehagen erfaßt mich bei der Rechnerei. Daß man die Arbeitszeit eines Menschen in Haupt- und Nebenzeit und die Bezahlung in Vergütung für Pflege und Vergütung für das, was dieser Pflege an Nutzen entspringt, auf­teilen kann, deutet nach meiner Meinung darauf hin, daß etwas falsch ist.
Reinholz' Frau steht ihm beim Melken nicht nach. Früh "um dreie" geht sie mit ihm in den Stall. Sie melkt bis sechs Uhr, dann versorgt sie ihre Kin­der. Abends schnallt sie sich wieder den Melkschemel um und arbeitet, bis die letzte Kuh gemolken ist. Aber wiewohl sie keine andere Milch zutage zapft als ihr Mann (sie ruft ihn Reinholz, als wäre es sein Vorname), so bekommt sie doch eine andere Vergütung als er. Anfangs dachte ich: Milch ist Milch, aber Reinholz hat mir klargemacht, daß ich ein Narr bin. Die Frau ist nicht Mitglied der Genossenschaft. Daher bekommt sie mehr bares Geld für "ihre" Einheit, nach Reinholz sind's neun Mark. Und die bekommt sie am Monatsende auf die Hand, während er als Mitglied sieben Mark und davon nur fünf ausbezahlt bekommt. Der Rest wird am Jahresende verrechnet. Nein, die Milch der Frau Reinholz ist teurer. Wo­her das kommt? Von den alten Lohnstufen. Landarbeiter, die nicht Mit­glied der Genossenschaft geworden sind, müssen nach ihrem früheren Tarif bezahlt werden. Das ergibt, in Einheitswerte umgerechnet, bei einer Leistung von dreißig Arbeitseinheiten im Monat eine Differenz bis zu 4,60 DM zu der Vergütung der Genossenschaftsbauern. "Rechnet man die Einkünfte eines Mitgliedes aus der Naturalvergütung und der individuellen Wirt schaft hinzu", sagt der Buchhalter, Genosse Zähler, "so sieht das Bild natürlich völlig anders aus. Dann kommt ein Mitglied auf etwa sechzehn Mark pro Einheit. Aber das sehen die Kollegen Freiarbeiter` nicht. Die sehen eben nur die bare Lohnsumme am Monatsende; die Haus­wirt­schaft betrachten sie noch als Belastung."
Die Arbeit der "Freiarbeiter" bringt also scheinbar mehr ein als die der Mitglieder. Und darum bleibt Frau Reinholz "draußen", auch wenn ihr Mann schon "drin" ist in der Genossenschaft.

Nun hat mir der Melker eröffnet, daß er "austreten" will. Ich weiß warum und schlucke heftig. Den ganzen Tag plage ich mich ab, diese Ent­täuschung hinunterzuwürgen. Ich suche Trost beim Vieh. Reinholz fordert mich auf, mit ihm zu frühstücken. Ich tu, als ob ich ihn nicht höre und geh zu Paula, einer Kuh, die wenig Milch gibt, aber dafür rund ist, eine Fleisch­kuh. Ich habe Paula ins Herz geschlossen. Sie ist so drall und prall, dankbar im Futter ist sie. Sie bekommt kein Heu wie unsere guten Milchkühe. Sie muß mit Stroh zufrieden sein; es schlägt ihr an. Ich klopf ihr gerne im Vor­übergehen die Keulen, aber heut ist mir's nicht zum Scherzen. Nachdenklich rupfe ich ihr das räudige Fell. Alle unsere Kühe haben Läuse, und das Fell geht ihnen aus. Das kommt von der "Pflege". Paulas nackte Haut glänzt rosa und riecht angenehm talgig. Ich zupf ihr büschelweis die Haare aus. So einer ist er also. "Ich habe diesen Stall hier uffgebaut", sagt er. Ich kenne seinen Vorgänger Eberscheit; ihm gegenüber hat Reinholz tatsächlich einen Fort­schritt erreicht. Deshalb bin ich so enttäuscht. Ich glaubte immer, es ginge ihm ums Vieh, wenn er wie ein Berserker schuftet, es ginge ihm um die Ge­nossenschaft, wenn er Mängel kritisiert. Ein kleines Bullchen wurde ange­kauft, zu dem gehe ich jetzt. Es ist so rund und stämmig, es ist so treu und büffelig. Am Strick läßt es sich führen wie ein Hund. Seine Beine sind wie Stempel. Ein kleines eisernes Büffelchen ist es. Reinholz hat ihm mit einer Schere die langen Haarzotteln verschnitten, damit er besser putzen kann. "Glaub nur nicht, Büffelchen, daß er dich deinetwegen putzt, er tut es, weil es so sein muß, wenn er dazu kommt. Er kriegt für dich zwei Einheiten im Monat." So rede ich mit dem Tier, so rechte ich im stillen mit meinem Melker, der wegen der "höheren" Vergütung für die "Freiarbeiter" seine Genossenschaft schädigen will; aber ich getrau mich nicht, offen zu sprechen. Bisher habe ich mir Mühe gegeben, ihn zu verstehen. Gut, er wollte von vornherein fünfundzwanzig Kühe haben. Daß er sie bekam, ist nicht nur seine Schuld. Nun steht er schon monatelang allein im Stall und hat mehr als dreißig Kühe, seit sein Mitarbeiter ihn - warum, das weiß ich nicht - verlassen hat. Seitdem schuftet er hier fast isoliert. Nur die notwendigsten Anweisungen bekommt er vom Agronomen und vom Vorsitzenden. Rüben, Spreu, Stroh und Heu schüttet er, wie angefahren wird. Er hat stets alle Hände voll zu tun. Wenn die Tiere einen Gang ihrer Mahlzeit aufgefressen haben, beginnen sie zu brummen. Dann muß der Melker sich beeilen, das nächste Futter einzugeben. Haben die Tiere Heu oder Stroh verzehrt, wollen sie Wasser. Wir haben noch keine Selbsttränken. Haben sie ihren Durst ge­stillt und eine Weile Ruhe gegeben, fangen die Spitzenkühe zu brummen an. Sie wollen gemolken werden, sie haben dem Menschen für die Pflege etwas zu geben. Je besser die Pflege, um so mehr gibt das Tier. Die frischmelken­den Kühe müssen auch mittags gemolken werden. Abends brummen zuerst die Kühe, die mittags nicht gemolken worden sind. Wir haben Abortus Bank im Stall. Des öfteren bringen Kühe verfrüht tote Kälber zur Welt. Abortus Bank kann eingeschleppt werden, eine Ursache für die Anfälligkeit der Tiere besteht jedoch in ungenügender Pflege und schlechter, einseitiger Fütterung. Kühe mit Abortus Bank geben wenig Milch. Bei normaler Trächtigkeit müßten auch sie dreimal am Tage gemolken werden, wenigstens in den ersten Wochen. Ich denke bei mir: Wie Reinholz dasteht - allein mit seiner Frau - kann er "froh" sein, daß die Verkalbeseuche im Stall ist. Wer sollte die Milch ermelken, wenn alle Kühe gesund wärn? Er arbeitet ohnehin zwölf, dreizehn Stunden. Und weiterhin denke ich: Was soll werden, wenn der Mann einmal krank wird? Sorgen sich die Leute im Vorstand der Ge­nossenschaft gar nicht darum? Reinholz scheint sich guter Gesundheit zu freuen, und er wird erst krankmachen, wenn ihm der Kopf von den Schul­tern fällt. Das zwingt einem Achtung ab vor dem Mann, aber trotzdem: Wer würde nach Futter rennen, wenn die Tiere brummen? Melker, das ist ein schwerer Beruf, der von allen Seiten Verständnis verlangt, nicht zuletzt vom Vorstand der Genossenschaft. Ein Melker hat etwas mit einem Krankenpfleger gemein, der sein Dasein nach einem lebenslänglich Hilflosen einrichten muß. Das Rind ist schon so hochgezüchtet, daß es ohne den Men­schen auf die Dauer nicht mehr leben kann. Wie ein Patient ruft es nach seinem Pfleger, wenn es Hunger, Durst oder Schmerzen hat. Der Mensch hat dem Tier die Wildheit genommen, und nun kommen beide ohneinander nicht mehr aus. Die Kuh läuft von selbst in den Melkstand, wenn die Milch drängt. Zwischen Tier und Mensch besteht eine Art Symbiose. Aber noch eines haben Krankenpfleger und Melker gemeinsam. Keiner läßt seinen Pflegling im Stich. Das ist auch das Berufsethos des Melkers. Es kann so groß werden, daß es dem Melker die Sehnsucht nach Kultur verschüttet. Es kann so groß werden, daß sich schlaue Leute damit zufriedengeben und sagen: "Wir haben einen tüchtigen Mann im Stall, wozu sollen wir uns den Kopf zerbrechen?" In der Tat kann ein Mann, wenn er die Arbeit schafft, in jeder Beziehung bequemer sein als ihrer drei. Das alles beachtend, habe ich dem Melker manches zugute gehalten und habe mit ihm zusam men den Vorstand beredet, der sich zu wenig um den Stall kümmert. Bitte sehr: Es ist Winter, die Beleuchtung im Stall und auf dem Dungplatz ist mangelhaft. Obwohl Reinholz es immer wieder "vorbetet", wird nichts ge­tan gegen den Mißstand. Die Stallfenster sind mit Gelumpe verrammelt, das Glas für diese Fenster liegt seit dem Sommer in einem Kasten auf der Futterdiele. Reinholz hat das Glas selbst holen müssen, weil die Trecker­fahrer keine Lust hatten, es mitzubringen. Es seien keine Handwerker zu kriegen, erklärt der Vorsitzende. Reinholz meint: "Handwerker sind zu kriegen, es kommt darauf an, wie man sich drum bemüht und wie man an­gesehen ist im Kreis." Es war manches auszusetzen an der Leitung, ich stimmte Reinholz in vielen Fällen zu. Freilich waren auch andere Töne in seinen Reden: "Die werden nicht alt. Die können nicht einmal zwei Arbeitsstellen zugleich besetzen. Wenn sie Dung fahren, können sie nicht dreschen, wenn sie dreschen, können sie nicht Dung fahren. Die Mistgrube ist voll. Ich komme nicht mehr zur Tür raus, aber mir fehlt auch Stroh. Wir brauchen ja nicht mehr zu füttern, wenn die nicht wissen, wo sie mit dem Dung hinsollen." Und dann schrie er plötzlich: "Pleite machen die!" - Und "die", das waren seine Leute von der Genossenschaft. Ich sah darüber hin­weg, er hatte Sorgen. Beinahe hätte ich vergessen, meine alte Rechnung mit ihm zu pflegen. Und nun auf einmal: "Ich tret aus." Warum sagt er das jetzt erst? Daran hat er doch früher schon gedacht! Ich in meinem Eifer habe es nicht gemerkt. Glaubt er, daß er es mir jetzt sagen kann, weil ich in­zwischen genug Bedenken über die Genossenschaft geäußert habe? Ich habe mich hinreißen lassen, ihm in zu vielen Dingen "verständnisvoll" beizu­stimmen. "Deshalb tret ich aus", sagt er und präsentiert mir so die Rech­nung. Er hat mich weit gebracht. Zustimmung erwartet er von mir. Ich bin beleidigt und enttäuscht.

Nun habe ich schon mehrere Pfund von meinem Gewicht verloren. Den kleinen Bauch, den ich mir in aller Ruhe angemästet hatte, habe ich wieder abgeschwitzt. Aber unwohl fühle ich mich nicht. Wo etwas weggeht, kommt etwas hinzu. Der Verlust an Masse kommt der Qualität zugute. Das Wasser ist aus den Muskeln geschwunden, die straffen sich schmerzloser. Die Arbeit beginnt zu schmecken. Auch die Hände werden wieder hart. So ein Forken­stielchen schmiegt sich jetzt fast liebevoll hinein. Mit sicherem Schwung stake ich feuchtschwere Strohballen in die Luke. Der Wagen steht etwas weit ab. Wäre ich immer hier, würde ich mir die nachläßige Fahrerei von den Kutschern verbitten, aber so, die paar Wochen ... Die ersten Kutscher haben Arbeitsbeginn, wir sind schon beim Streuen. Es ist ein befriedigendes Gefühl zu sehen, was man bereits getan hat, wenn andere anfangen. Wenn sie ihre Gäule vorm Wagen haben, bin ich mit meinem ersten Arbeitsgang, ist Reinholz mit seiner zweiten "Tour" fertig. Ich werde dann einige Mi­nuten mit den Händen in den Taschen vor der Stalltür stehen (die Mütze provokatorisch im Genick) und so tun, als könne mich die ganze Welt ... Macht heut erst mal soviel wie wir! Aber dann sind wir schon wieder weiter. Uns Melker holt ihr nie ein! Und Reinholz erst, der steht gar früh um dreie uff. Jetzt erst begreif ich, woher jeder Stalljunge seine Selbst­sicherheit hat. Früher konnte ich Leute aus dem Stall deshalb nicht leiden. Ich bedaure, daß ich nicht gelernter Melker bin. Selbstbewußtsein, das könnte ich gebrauchen, jede Menge.
Inzwischen rollt der Lastwagen unsrer Genossenschaft heran. Wir sollen Vieh verladen. "Wer soll verladen?" fragt Reinholz gereizt den Fahrer. "Weiß ich? Ich weiß nur, daß ich um zehn Uhr auf dem Bahnhof sein muß." sagt der Fahrer verschlafen. "Da lad mal uff", sagt Reinholz. "Wir wissen nichts. Wenn sie Vieh verladen wolln, dann sollen sie gefälligst früher uff­stehn. Kein Mensch ist von der Leitung da, sagt einem wenigstens Be­scheid. Die pennen alle. Und unsereiner soll sich damit schinden. Das ist ihre Gerechtigkeit! Die einen stehn um dreie uff, die andern lassen sich überhaupt nicht blicken." Wenn Reinholz schimpft, prellt bei den um-liegenden Gebäuden Putz von den Wänden. Natürlich wird stillschweigend angenommen, daß Viehverladen Arbeit des Melkers sei" Darüber ärgert Reinholz sich.
Ein kleiner zuchtuntauglicher Bulle, eine magere Färse und eine Kuh sollen auf den Wagen. Der Bulle muß aus einem Stall, der eine Viertel­stunde Wegs entfernt ist, geholt werden. Dumm und zutraulich ist er, macht uns nicht viel Schwierigkeiten. Die magere Färse dagegen stellt sich bockig. Sie geht nicht vom Fleck, läßt sich zerren, schieben, stoßen, wuchten, dreschen. Ich bekomme einen Prügel in die Hand gedrückt, soll damit "nach­helfen". An dem ganzen Tier suche ich vergeblich einen Fleck zum Drauf­schlagen; alles Haut und Knochen. Reinholz wütet: "So hau doch!" Ich schlage und danke dem Gott aller Tiere. Der Prügel ist morsch, er zer­bricht. Der Fahrer bringt ein Stück Keilriemen. Der Riemen schmiegt sich vielleicht besser den armen Knochen an, denk ich. Dabei stelle ich mich an den Kopf der Färse, um zu zerren und nicht schlagen zu müssen. Jetzt hilft der Fahrer nach. Das Tier macht mit Reinholz zur Linken und mir zur Rechten einen Satz durch die enge Stalltür. Draußen wundre ich mich, wie wir drei hindurchgekommen sind, ohne daß jemand die Knochen zer­quetscht wurden. Aber ich bin stolz, -daß mich das Tier ebensowenig hat abschütteln können wie den Melker. Unter kräftiger "Nachhilfe" des Fahrers kriegen wir die Färse schließlich auf den Wagen. Wir schwitzen.
Aber das Schwerste kommt noch. "Die Kuh ist nicht ganz richtig im Kopf", sagt Reinholz. Er legt ihr den Halfter an; sie zerrt uns durch den Stall, rennt mit uns in die Gänge, drängt sich zwischen die Kühe, macht sie ängstlich. Wir hängen an ihr wie die Fliegen, müssen aufpassen, daß wir nicht unter die Beine der anderen Tiere kommen. Als es im Galopp durch die Stalltür geht, stelle ich zufrieden fest, daß Reinholz, der Meister Rein­holz, abgetropft ist von der Kuh wie das Wasser von einem nassen Hund. Auch der Fahrer hängt nicht mehr an ihr. Sie wären beide eingeklemmt worden, wenn sie nicht losgelassen hätten, aber das erkenne ich jetzt nicht an. Nun naht meine Stunde. Seht her, ich habe die Kuh gehalten, die einen gelernten Melker abgeschüttelt hat! Aber schon komme ich zu Fall, lasse mich schleifen. Durch Schnee und Dreck geht's mit erschreckender Geschwin­digkeit gefährlich nahe an umherstehenden Pflügen und Eggen vorbei. Wenn ich jetzt loslasse und ohne Kuh wieder aufstehe, bin ich erledigt. Dann bin ich kein Held, sondern eine Spottfigur. Ich bin schon zu sehr durch den Dreck gezogen. Ein Steinhaufen rast auf mich zu, und ich gebe erbittert auf. Es sind bereits Gaffer da. Wir jagen das Tier in einer kleinen Koppel von einer Ecke in die andere, als wir es endlich haben, legen wir ihm eine Nasenzwinge an. Jetzt halten wir die Kuh, Reinholz am Halfter, ich an der Zwinge. Die Kuh rennt los, ich stehe mit der Zwinge da. Diesmal schleppt das Tier den Melker mit. Der rennt, macht meterlange Schritte, fliegt mehr als er läuft und versinkt doch bei jedem Schritt bis an die Waden im Dreck. Ernst bleiben kann ich nicht dabei. Endlich stelle ich die Kuh in einer Ecke und gehe mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Aber allein kann ich nichts machen, ich muß warten, bis Reinholz dazukommt, den sie abgeschüttelt hat. So stehen wir uns gegenüber. Die Kuh könnte mich mit gesenkten Hörnern angehn, aber das tut sie nicht. Sie ist nicht richtig im Kopf, aber dem Menschen tut sie nichts zuleide, nicht absichtlich. Sie hat nur Angst. Ich sage: "Sei vernünftig, laß dich fangen, sonst be­kommst du Prügel. Es kann nicht anders ausgehn, du mußt fort." Die Kuh sieht mich mit großen Augen an. Ich habe keine Freude an diesem Spiel. Wir haben Rüben zu schneiden, gefrühstückt haben wir noch nicht, und so ein Vieh will sich um keinen Preis verladen lassen! Reinholz kommt heran und faßt den Halfter. Er hat den Gummiknüppel vom Fahrer, und als die Kuh nun wieder Sprünge macht, schlägt er sie aufs Auge. Der Schlag ist wohlberechnet, halb um den Kopf herumgezogen. Minutenlang hält die Kuh das Auge geschlossen und geht willig. Reinholz schlägt noch ein paarmal zu. Nun schaut das Tier mich wieder an, rubinrot wütet der Schmerz in seinem großen Auge, die Kuh stöhnt. Ich mache nur mit, weil ich mich nicht getraue aufzugeben. Die Kuh reißt sich noch einmal los, ich bin nicht schuld, die Nasenzwinge hilft nichts. Was ist sie schon gegen den Schmerz in einem blindgeschlagenen Auge? Reinholz und seine Kuh gehen quer über den Dungberg, dann stürmt die Kuh gegen die Mauer vom Schweinestall, sie dreht sich auf der Hinterhand, will erneut davon, doch Reinholz lenkt sie gegen eine dicke Kopfweide. Der starke Stamm erzittert beim Anprall. Die Kuh ist blind, wahnsinnig vor Schmerz, Mauern und Bäume sind um sie, halbbetäubt bleibt sie stehen; eine Kreatur, die sich vertrauensvoll an den Menschen wendet, dem sie nie etwas zuleide getan hat. Wie ein Kind läßt sie sich jetzt führen, schwankend, Schritt für Schritt. Vom Menschen kannte sie bisher nur Gutes. Behutsam führen wir sie über die Planken auf den Wagen. Es dröhnt dumpf unter ihren tapsenden Tritten. Der Mensch ist bei ihr, er wird sie nicht verlassen. Ich tätschle ihr beruhigend den Hals, das blinde Auge ist äußerlich nicht beschädigt. Tränen perlen über das glühende Rot, und ich wundre mich, warum sie nicht augenblicklich zischend verdampfen. "Sie muß sich das Auge ausgestoßen haben", meint der Melker. "Du hast sie blindgeschlagen", sage ich böse und noch: "Das ist eine erbärmliche Art, Vieh zu verladen." Reinholz gibt keine Antwort. Der Fahrer meint: "Sie muß sowieso auf den Schlachthof."

Hoffentlich ist die Kuh schon tot. Die Nacht hindurch mußte ich an sie denken. Was werden die Schlachter von uns halten, wenn sie so ein Stück Vieh bekommen? Es muß anders gehen! Man konnte der Kuh vorher die Augen verbinden und ihre Vorderbeine so verkoppeln, daß sie nur kleine Schritte machen konnte. Melker kennen die Kniffe. Warum die Rohheit?
Reinholz wischt das mit einer Handbewegung weg. "Hör auf", sagt er, "du hast hier nichts." Er fuchtelt mit dem Halfter. "Den hab ich selbst gemacht aus einem Hundehalsband, einziges Stück im ganzen Stall. Kein Aas bekümmert sich um so was. Den Milchplan ohne mich aufstelln, das können sie. Angst haben sie, wenn ich vom Futter rede. Ja, ja, von mir, da kriegen sie Kartusch. Anflicken können sie mir nichts, ich stehe früh um dreie uff." Er merkt nicht, daß er sich widerspricht. Einmal haben sie Angst vor ihm, das andere Mal beschaffen sie nicht, was er verlangt. Er redet, kommt vom einen ins andere: daß die hochtragenden Kühe bis zum Kalben nur Stroh bekommen anstatt Heu - kein Körnchen Kraftfutter, kein Saft­futter -, daß es kein Wunder ist, wenn die Verkalbeseuche so grassieren kann, daß er jeden Tag um dreie aufsteht, sich Sorgen macht, und daß vom Vorstand nicht einmal jemand zum Viehverladen da ist; er redet, redet, holt mit der Faust aus und setzt sie vorsichtig auf die Schutzhaube vom Futter­reißer, weil seine Melkerhände sehr empfindlich sind. Und klar wird, daß er seinen Austritt aus der Genossenschaft dabei im Sinn hat. Er ist nicht einer, der sagt: "Ich trete aus", und damit ist die Sache für ihn erledigt. Doch klar wird auch, daß er nicht ernst genommen werden kann, wenn er sich einen Halfter aus einem Hundehalsband macht. Der Betrieb ist noch in einem Stadium, in dem sich einer durchsetzen muß, durchsetzen mit solider Arbeitsweise.
Ich mache den Versuch, Reinholz zu überreden. "Es kommt die Zeit, wo die Genossenschaft zehn Mark und mehr für eine Arbeitseinheit geben kann. Ich würde nicht austreten." - "Aber ich", sagt er gereizt. "Vielleicht sind sie in zehn Jahren soweit. Aber die machen vorher Pleite. Zehn Mark, das ist noch immer nicht soviel, wie jetzt die Freiarbeiter kriegen. Ich soll den Dummen spielen, jeden Tag um dreie uffstehn, und die verdienen Geld? Mann, ich arbeite nicht für die Freiarbeiter!" Aber selbst einer werden, das will er, denke ich. Wegen der Verkalbeseuche kann er den Milchertrag kaum steigern, aber wenn er austritt, verdient er trotzdem mehr, so ist die Lage. Auf einmal sehe ich das "Freiarbeiterproblem" mit andren Augen: Das ist ein Vampir, der am Herzen der Genossenschaft liegt. Nun ist mir klar, warum die LPG den "Freiarbeitern" keinen bezahlten Urlaub geben will. Das gibt böses Blut, wenn so ein Kerl herumgeht und feiert und die Mit­glieder angrinst und dafür Geld kriegt, so mögen sie im Vorstand denken. Dem Reinholz haben sie nun schon den Kopf verdreht. Was soll werden, wenn ihm mehr Mitglieder folgen, wenn der Stall in Händen eines "Frei­arbeiters" ist?
Der alte Feldbrigadier Koch kommt. Reinholz fängt wieder an: "Hätten sie den nicht, könnten sie längst einpacken. Der hält den Laden noch bei­sammen. Aber guck dir an, was er heranfahren läßt, wieder nur Rüben! Und wenn die alle sind, füttern wir blanke Silage." Und zu Koch gewendet: "Nerven habt ihr." - "Was soll ich machen? Denkst du, ich kann die Leute zum Siloabdecken schicken, wo wir dreschen müssen? Ihr braucht die ganze Belegschaft zur Bedienung im Kuhstall. Das weiß ich wohl, daß Mischfutter am besten ist. Aber wenn wir nicht dreschen, kriegt ihr kein Stroh", sagt Koch. Und zu mir sagt er: "Hätten man auf uns beide hören und warten sollen mit der LPG bis 1960. Eine Masse Leute sind weggelaufen, und wir stehn da, können nicht einmal dreschen."
Mit ihm zusammen vertrat ich seinerzeit die Ansicht, daß es noch nicht Zeit sei zur Gründung einer Produktions­genossenschaft. Jetzt scheint es sich zu bestätigen. Der alte Koch sagt nie etwas Unüberlegtes. Gedankenvoll rolle ich ein Kabel für den Futterreißer auf.
Hoffentlich ist die Kuh wenigstens jetzt schon tot.

Reinholz tritt nicht nur wegen der "Freiarbeiter" aus, sondern weil es mit der Genossenschaft "noch einen anderen Dreh hat". Seiner Ansicht nach sind die "Freiarbeiter" völlig im Recht, wenn sie "frei" bleiben wollen.
"Die Landarbeiter haben ihren Tarif. Da können kein Betrieb und kein Staat dran rütteln, und wenn der Betrieb unrentabel ist, muß der Staat zuzahlen. Mit der Genossenschaft ist das anders. Da kannst du arbeiten, anderen das Geld schaffen, früh um dreie uffstehn und bekommst fünf Mark pro Einheit ausgezahlt. Die anderen zwei Mark bleiben bis zum Jahresende drin. Und wenn ein Defizit ist bei der Wirtschaft, dann kriegst du bei der Endabrechnung keinen Pfennig raus. Früher zahlte der Staat, jetzt der Genossenschaftler. Das ist es, weswegen sie so für LPG sind. Das ist der ganze Schwindel", so spricht er. Und Hannes sagt: "Wir haben lange Jahre hier gearbeitet und den Betrieb in Gang gehalten. Die Leiter sind gekommen und gegangen. Keiner hat den Acker gekannt. Wenn sie be­stellen wollten, mußten sie uns fragen, wo die Schläge liegen. Und die Wie­sen, die kennten sie heut noch nicht, wenn Koch nicht wäre. Und jetzt auf einmal sind wir Luft. Uns guckt kein Mensch mehr an. 'Wenn ihr wollt, könnt ihr gehn', sagt Pflock. No, springt man so mit Menschen um? Wer soll die Arbeit machn, wenn wir nicht mehr da sind?"
Und die Genossenschaftler sagen: "Wir haben keine Landarbeiter, weil wir gar keine Landarbeiter haben dürfen. Wir haben Saisonkräfte. Das dürfen wir. Sie können kommen und gehen, wie sie wollen. Dafür steht ihnen kein bezahlter Urlaub zu. Wer Rechte will, der werde Mitglied."

Nun habe ich in der "Schweriner Volkszeitung" eine Annonce gefunden:
    Melkerfamilie oder lediger Melker
    zum sofortigen Antritt gesucht.
    Futtergrundlage gesichert.
    Wohnung vorhanden.
    LPG V. Parteitag der SED, Marnitz.
Natürlich ist es nicht so schlimm, wie Reinholz tut! Der Vorstand küm­mert sich um den Kuhstall, wenn auch nicht immer in der besten Weise. In letzter Zeit mußten der Vorsitzende oder sein Agronom im Stall helfen, wenn Reinholz allein dastand. Nur, melken können die beiden nicht. Natürlich muß noch eine zweite Melkerfamilie her. Das ist das Nächst­liegende. Aber wenn ich die Dinge richtig betrachte, handelt es sich nicht um eine zweite Melkerfamilie; sondern um Ablösung für Reinholz.
Ich bin zu Haus gewesen, habe mich gewaschen, umgezogen, Abendbrot gegessen und bin unterwegs zu Nelke, dem Parteiinstrukteur. Es hat wieder Frost gegeben. Das Wetter wechselt von einem Tag auf den andern. In den Zweigen der Chausseebäume hängt Rauhreif. Wenn er zu schwer wird, fällt er ab. Zolldicke weiße Teppiche liegen unter den Bäumen. Die Telegrafen­drähte sehn aus wie Schiffstaue und klappern. Im Nebel liegt irgendwo der Haupthof der LPG. Dort sitzt Reinholz noch unter seinen "Gurken" und strippelt; es ist noch nicht sieben Uhr, so lange melkt er.
Mit dem Parteiinstrukteur hoffe ich ein vernünftiges Wort reden zu kön­nen. Für mich hat es den Anschein, als falle die Genossenschaft auseinander, wenn es so weitergeht. Nelke muß die Sache von einer andern Seite sehen.
Er hat als Instrukteur einen besseren Überblick als ich aus meiner Kuh­stallperspektive. Tief in der Seele plagt mich der Gedanke: Ich habe vor einer übereilten Gründung gewarnt. Wenn sich die Genossenschaft auflösen müßte, könnte ich sagen: "Das habt ihr von eurer Voreile. Hättet ihr ge­wartet bis 1960 ..." Aber sie werden sagen: "Und du? Hast uns im Stich gelassen! Warum bist du nicht eingetreten? Dann wären wir einer mehr. Was, zum Teufel, hilft uns deine Schreiberei!" Und einer würde bestimmt sagen: "Schreiben konntest du, wenn du's nicht lassen kannst, aber deshalb hättest du trotzdem in die Genossenschaft eintreten müssen. Wer soll dir deine Schreiberei jetzt glauben?"
Vorn im Nebel taucht ein Zeigefinger auf. "Selbst Strittmatter ist Mit­glied einer Genossenschaft." Aber der Finger entpuppt sich als harmlose steinerne Wegweisersäule. Ich bin am Dorfeingang. "Wenn du dort so arbei­test", sage ich zu Nelke, "dann hörst du nur Schlechtes über die Genossen­schaft. Wenn man den Freiarbeitern glauben soll, geht sie ein. Was ist?"
Wie ich Nelke vor mir sehe, breitschultrig, breitstirnig, breitgesichtig, mit starkem Nacken und kleinen Augen, die weit auseinanderliegen, weiß ich, womit ich ihn vergleichen kann. Wir haben erst neulich so einen kleinen Nelke in den Stall gekriegt, unser eisernes Büffelchen. So sieht Nelke aus, so ist er auch. Geradlinig im Denken, äußerlich stets gleichmütig, bedin­gungslos und treu vor der Partei. In der vertrackten Geschichte, die der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft in diesem Dorf ohne Neubauern ist, spielt Nelke die Rolle eines Büffelchens. Er ist der Alpdruck aller Scheintüchtigen, Lippenbekenner und Dünnbrettbohrer, weil er jeden beim Wort nimmt. Er ist der Mann, an dem sich die Schwankenden aufrichten. Er kann sich zwar, wie heute überall, auf einen Kern guter Genossen stützen, aber es gibt nicht wenige, die gern ein bißchen draufschlagen möchten auf das Büffelchen, damit sie selbst um so bequemer im Wagen sitzen und mit­fahren können. Aber Nelke bringt sie alle auf Trab. Dumme, Unwissende und Ignoranten hassen ihn. Er hat ein Talent, diesen Hass zu ertragen wie ein kleiner Ochs. Mir ist er zu nüchtern. Ich bin gekommen, um mir Aus­kunft zu holen über das Schicksal der Genossenschaft, schön, aber ich ver­dächtige ihn einer gewißen Armut an Phantasie. Darum habe ich ein sonderbares Gefühl, wenn ich mit ihm rede, so, als begreife er mich nicht. Das ist, als ginge der Sinn, der zwischen meinem Wort liegt, hinter ihm ins Leere. Dadurch entsteht mir der Verdacht, ich sei nicht fähig, mich ein­deutig auszudrücken, das Fürchterlichste, das mir jemals paßieren könnte, wär es wahr. So geht es mir immer, wenn ich zu Leuten mit klarem, analy­tischem Verstand rede. Ich werde wütend, mutlos, fange verworren zu stot­tern an, um dann resigniert abzubrechen.
"Kurz gesagt, ich glaube, die LPG macht Pleite, wenn es so weitergeht", sag ich und füge erschöpft hinzu: "Was soll ich tun? Ich muß ein Tagebuch schreiben. Da kann ich doch nicht in allen Farben schildern, wie die Leute weglaufen und was so zum Schaden ist. Und dichten kann ich auch nicht. Wenn es mit Fabulieren ginge, wäre ich fein raus." Ich möchte sagen, daß ich die Gründung der Genossenschaft für verfrüht hielt, aber das verkneif ich mir und sage statt dessen eine andere Dummheit: "Ich bin der Ansicht, Ernst Pflock macht als Vorsitzender mehr Schaden, als er Nutzen stiftet." Seine Antwort ahne ich, aber was kann ich machen? Er hat so eine Art, einem durch abgrundtiefes Zuhören Dummheiten herauszulocken. Vor sol­chen Leuten werde ich zum Schwätzer. Jetzt kommt die Antwort: "Das mit Pflock, siehst du, das mußt du nun begründen." Natürlich. Da haben wir's. Ich bin unter dem Einfluß negativer Diskussionen hergekommen, um mir eine Spritze geben zu lassen, so wie ein Typhusbedrohter zum Arzt geht und sich impfen läßt. "Begründen", sage ich patzig. "Da frag Reinholz, frag Führmann und die andern Freiarbeiter. Geh zu ihnen. Wirst hören, was sie sagen. Aber dir werden sie's nicht sagen, leider."
"Führmann und Schalk warn Großbauern, das weißt du. Und deren Argu­menten willst du glauben? Die arbeiten doch gegen die Genossenschaft", sagt Nelke. "Da muß ein Mann her, gegen den sie schießen können. Sie sagen Pflock und meinen die Genossenschaft; mag er Fehler haben, sie meinen nicht die persönlichen, die jeder hat. Sie sagen: Vorstand der LPG und meinen Arbeiter-und-Bauern-Macht. Schlimm genug, wenn ein gebil­deter Genosse sich so was nicht zusammenreimen kann."
Nur zu, nur zu! Eine Menge Leute sind weggelaufen. Hannes Führmann war schon mal Aktivist, Schalk will an den Präsidenten schreiben wegen der Urlaubsgeschichte, aber so kommt man natürlich auch durch, wenn man ein Kreuz wie Nelke hat. Er sagt: "Weißt du, so einen Freiarbeiter in der Genossenschaft zu haben, das ist so ungefähr dasselbe, als wenn du einen Wolf zum Schafehüten nimmst. Ehe das Jahr um ist, hat er die Herde aufgefressen. Im Augenblick kommen wir ohne sie nicht aus. Aber wenn sie denken, sie können uns erpressen, irren sie sich. Wir müssen ihnen klarmachen, daß wir ohne sie auskommen, wenn's sein muß. Die Genossen­schaft trägt den Namen 'V. Parteitag'. Das könnte dem Gegner passen, die­sen Namen aus der Flurkarte zu streichen. Notfalls gehen wir alle in die LPG und arbeiten so lange dort, bis die Schwierigkeiten überwunden sind. Wollen sich diese Leutchen gegen die Partei stelln? Die Genossenschafts­bewegung, das ist das Bündnis der Bauern mit der Arbeiterklasse. Wollen sich diese Narren gegen dieses Bündnis stelln? Es ist doch klar, wie so was ausgeht. Was Fehler betrifft, die einzelne gemacht haben, so werden sie im Rechenschaftsbericht der Jahreshauptversammlung zutage treten. Pflock ist der Genossenschaft verantwortlich. Man soll den Mitgliedern die Ein­schätzung des Vorsitzenden nicht abnehmen. Sie sollen selbst denken lernen. Ein privates Urteil kann sich jeder über jeden bilden, er soll es jedoch für sich behalten. Es ist nie vollkommen."
Eine Rüge, gut, die gilt's zu schlucken. Wie konnte ich nur zweifeln, daß die Partei einer Genossenschaft, die ihren Namen trägt, helfen würde? Nelke fährt fort: "Die Methode, mit der die Freiarbeiter vorgehn, ist ge­mein. Aber was Reinholz macht, ist schlimmer: Verrat an der Genossen­schaft. Von der Seite muß man sein Verhalten beurteilen. Diese Leute sehn nur das bare Geld, das ihnen am Monatsende ausgezahlt wird, auch manche Mitglieder sind noch nicht klüger." Er spricht ohne Erregung. Meine Augen irren ab. Auf dem Tisch liegt ein Buch. Das Lesezeichen steckt vorm letzten Drittel. Nagel studiert Owetschkins "Frühlingsstürme".

Kommt man aus dem dämmerigen Stall, muß man die Augen schließen, so hell ist es heut draußen. Der Schnee funkelt wie Glimmer. Es ist kalt, und in der Sonne sieht man, wie einem der Buckel dampft. Ich gehe mit Reinholz in den Kälberstall. Wir wollen einigen wenige Tage alten Käl­bern Blechmarken ins Ohr drücken. Durch diese Marken sind sie auf Lebzeiten als Eigentum unserer Genossenschaft gezeichnet. Während ich die Tiere halte, hantiert Reinholz mit einer Zange. Die Tiere spüren keinen Schmerz. Reinholz numeriert seinen Besitz und merkt nicht, was er auf­geben würde, wenn er austreten sollte. Der Kälberstall wurde dem Kuh­stall angebaut. Vor einem Jahr war da noch nichts. Heute ist das eine Kin­derkrippe. Mir ist rätselhaft, wie sie früher die Jungtiere hochkriegen konn­ten. Dennoch steht eine Nachwuchsherde von vierzig Färsen da. Zum Teil sind sie hochtragend. Auch diese Tiere stehen in einem neuen Stall. Fast ohne es zu wollen, gehe ich auf Entdeckungsreise: Zwei neue Schweine­ställe - in den Neu- und Umbauten stecken Hunderttausende. Auf dem Hof steht ein neuer LKW. Schalk spannt sein Pferd vor einen neuen Wagen. Er merkt es nicht. Man braucht die Augen nur aufzumachen und schon ent­deckt man allenthalben Neues neben Altem, der Verrottung anheimfallen­den Gerümpel. Der helle Winterhimmel ist wie bestellt zum Schauen. Der Dreck vorm Kuhstall, in den man sonst bis zu den Knöcheln versinkt, ist heut gefroren. Verwundert gehe ich umher. Nun sind mir Klappen von den Augen gerissen worden, ein wenig unsanft zwar, und ich könnt Nelke ... aber wieso? Deshalb bin ich doch zu ihm gegangen, als Reinholz noch unter seinen "Gurken" saß. Des Melkers beifallheischende Erklärung: "Ich tret aus", hat mich aufmerken lassen. Und siehe da, der Star ist mir gestochen worden. Ich gehe weiter, rund um das Gehöft. In der Scheune steht ein merkwürdiges Gefährt. Nagelneu ist es, hat eine lange Schnauze, an die Geräte angebaut werden können. Mit diesem RS 09 kann man mähen, schälen, drillen, eggen, hacken, häufeln, streuen, stäupen, melken, Milch fahren und natürlich auch Wagen ziehen (was noch lang nicht alles ist). Daneben, in einem Düngerschuppen, steht ein Traktor "Pionier". Hannes (weiß der Kuckuck, woher er plötzlich auftaucht) sagt: "Da steht der Apparat. Zig­tausend Mark hat er gekostet, keiner kann damit umgehn. So ist's mit allem. Nur Platz wird weggenommen. Und die Pferrde (er sagt immer Pferrde). stehn im Stall, haben keine Kutscher. Wir gehn auch weg, was soll dann werden? Es wird immer schlimmer, oh, oh, oh!" Auch seine Reden sind stereotyp wie das "Uffstehn" des Melkers.
Auf dem Dreschplatz steht ein Höhenförderer. An einer Böschung sind Barackenteile gelagert. "Und alles unter freiem Himmel", sagt Hannes. "Wer soll die zusammensetzen, wenn sie verquollen sind?" Führmann kommen­tiert; ich brauchte mich ihm nur anzuschließen, er würde mich im ganzen Be­trieb umherführen. "Da, zwei neue Hühnerhäuser! So lange die schon dastehn, sind nur Karnickel drin gezüchtet worden. Die Schlauchreifen stecken im Dreck, sind eingefroren. Dabei wärn die so prima! Mensch, im Herbst die Hühner eingeladen oder die Gänse und auf die Stoppel damit! Davon haben die keine Ahnung. Was da verlorengeht! Wie wollen die hochkommen?"
So eine Exkursion mit Hannes würde Stunden dauern, dazu habe ich keine Zeit. Der Buchhalter muß mir eine Aufstellung sämtlicher Neuanschaffun­gen geben. Ich weiß, eine elektrische Rechenmaschine für ihn, ein Motor­rad für den Vorsitzenden und ein Kleinmotorrad Marke "Jawa" für den Agronamen waren auch dabei.
Im ÖLB hatte Hannes als Kutscher einen Stundenlohn von einer Mark und siebenundzwanzig Pfennigen. Er führte unter Anleitung des Brigadiers. sämt­liche Gespannarbeiten aus und konnte den Acker herrichten. Das waren aber, laut Tabelle, die Arbeitsmerkmale für einen Tarif von 1,18. Er bekam also schon damals zuviel Lohn. So war es bei uns allen. Der niedrigste Satz von sechsundneunzig Pfennigen, den bei uns zunächst die Frauen hatten, war nach und nach bei allen Stammarbeitskräften ausgemerzt worden, ohne daß Quantität und Qualität der Arbeit gesteigert worden wären. Da kam die Lohnerhöhung für alle Land- und Forstarbeiter. Wir drückten gegen den Gebietsvorstand und gegen die Betriebsleitung eine Erhöhung sämtlicher Löhne um zehn Pfennig pro Stunde durch. Die Kollegen aus der Kreisstadt kamen gegen uns nicht auf. Es gab harte Diskussionen. "Ihr habt nie die Tarife eingehalten. Ihr habt schon alle eine Lohngruppe höher, als in der Tabelle vorgeschrieben steht. Da kommt euch eine Lohnerhöhung nicht zu. Geht runter auf den richtigen Tarif, dann können wir erhöhen", so sagten die Kollegen von der Leitung. "Dann haben wir weniger!" brüllten wir. Hannes hätte gleich mir und den anderen Männern auf 1,18 zurückgestuft werden müssen. Plus zehn Pfennig Lohnerhöhung hätten wir einen Pfennig mehr gehabt, haha! Aber eine Zurückstufung gab es nicht, laut Gesetz. Darauf konnten wir uns versteifen, und die schöne Gelegenheit ließen wir uns nicht entgehen.
Marnitz war in unserem Kreis der Örtliche Landwirtschaftsbetrieb mit den günstigsten Lohnstufen. Das sollte uns eine BGL nachmachenl Nun mußten die zehn Pfennig auch noch her. Wir bekamen sie. Ob der Lohn er­höht wird, bestimmt bei uns die BGL! Hannes bekam jetzt 1,37 und hat sie heute noch. In Arbeitseinheiten umgerechnet sind das 11,60 DM. Ein Mit­glied bekommt pro Einheit sieben Mark. Da kann Hannes warten, bis die Genossenschaft gleichgezogen hat! Und das Urlaubsgeld wird er noch kriegen. Notfalls schreibt Schalk dem Präsidenten!
Das ist der Grund, weshalb ich mich so krampfhaft nach allem Neuen umschaue. Nelke hat mir gestern mehr gesagt, als ich zugegeben habe. "Wenn es nach euch gegangen wäre", hat er gesagt, "könnte die Arbeiter­klasse noch lange zuschustern. Hunderttausend Mark hat der Staat allein an Lohngeldern draufgezahlt beim ÖLB. Und nach der Lohnerhöhung hattet ihr erst recht keine Lust, daran etwas zu ändern. Ihr habt euch nicht benommen wie Menschen, denen der Betrieb gehört."
Natürlich war ich damals für die Gründung einer Genossenschaft, nur sollte es nicht so schnell gehn! Ich war dafür, daß die Kollegen auf einem "günstigen Lohnfundament" durch Anwendung des Leistungsprinzips an sozialistische Arbeitsweise gewöhnt werden sollten. Bei Umwandlung des ÖLB in eine Genossenschaft sollte den Mitgliedern keine spürbare Ver­ringerung der Bareinkünfte aufliegen. Kurz, wir wollten mit einem Real­wert von 11,60 DM anfangen und nicht darunter.
Ich kehre ärgerlich in den Stall zurück. Reinholz macht schon die Krip­pen sauber. So lange habe ich mich draußen umhergetrieben. Schuldbewußt gehe ich ihm zur Hand. Er sagt: "Na, nun ist morgen die große Rechen­schaftslegung. Alfons hat mit dem LKW schon Bier geholt. Das ist die Hauptsache. Sollen sie meinen Austritt nur gleich mitbegießen. Ich geh nicht rüber. Das zieht sich bis zum andern Tage hin. Dann setze ich mich früh um dreie . .." Es wird mir langsam peinlich, wie er immer darauf kommt. "Aber wenn sie mir meine Einheiten nicht ausbezahlen, dann gibt's Kartusch, das sag ich dir."
Ich bin gespannt auf diese Endabrechnung: Nelke hat mir versprochen, dafür zu sorgen, daß ich eine Einladung bekomme.

Wenn ich nicht bei Nelke gewesen wäre, wüßte ich es erst seit gestern durch Reinholz, so hab ich aufgepaßt. Reinholz wußte es auch nicht früher. Der Buchhalter ist in die Stadt gefahren, um Geld zu holen. Kein Mensch weiß, ob die einbehaltenen zwei Mark pro Arbeitseinheit ausgezahlt wer­den. Bis gestern hat Zähler mit den beiden Studentinnen von der Wirt­schaftsschule gerechnet und gerechnet und hat noch keine Zeit gefunden, das Ergebnis anzusagen. Aber, wenn er kein Geld bringt von der Bauern­bank, gibt es "Kartusch" von Reinholz, soviel ist sicher. Ich wäre neugierig, wie so was aussieht.
Die große Tagung findet in der Gemeindebaracke statt. Um elf Uhr soll sie sein. Es ist schon elf, mich hat noch niemand eingeladen. Kurzerhand zieh ich mich um. Reinholz muß zur Feier des Tages meine Arbeit mit­machen, wenigstens so lang, wie ich bleibe. Und dazu denke ich erbittert: Da bringt man sich schier um neben so einem Wühler, und die übersehn einen glatt. Die Mitglieder arbeiten nicht wegen der Rechenschaftslegung. Die "Freiarbeiter" und eine Anzahl Einzelbauern sind eingeladen; von Schule, Konsum, Försterei sind Gäste da, nur unsereinen übersieht man. Man hat gar kein Gesicht. Was ist man überhaupt? Am besten, man hängt die Schreiberei an einen Nagel, geht wieder arbeiten. Dann ist man wenig­stens nicht mehr der letzte Dreck, den man nirgends vermißt! So komm ich zur Versammlung. Pflock sagt: "Mensch, dich hätten wir beinah ver­gessen!" - "Schon gut", sag ich, "bin trotzdem da." Und Bitternis steigt mir im Hals hoch. Was soll's mit dir? So denke ich. Wenn du gefeiert wirst, ist es dir unwohl, und wenn man dich vergißt, ist dir nicht anders.
Der Raum ist voll. Ich sitze wie zufällig unter lauter "Freiarbeitern". Da bin ich richtig. Die Genossenschaftsbauern sitzen zwischen ihren Gästen, den Traktoristen, Einzelbauern, Lehrern, Forstarbeitern. Sie sind nur eine Minderheit. Nichtsdestoweniger sind die andern ihretwegen hier. Der erste öffentliche Rechenschaftsbericht unserer Genossenschaft - histori­scher Augenblick in Marnitz, nicht möglich ohne die Tat dieser zwölf Men­schen! Verstohlen sehe ich mir ihre Gesichter an, eins nach dem andern. Ob sie wissen, was sie angefangen haben? Führmann spöttelt: "Heut wird's ein Geld geben, herrje!"
Der Fahrer Alfons ist Mitglied der Genossenschaft geworden, weil er ihren Laster fahren darf. Nebenbei greift er tüchtig zu, wenn's not tut. Ich hab gesehen, wie er seinen Wagen entladen hat. Fünfzig Sack Schrot mußte er auf den Kornboden schaffen.
Der hagere, ausgemergelte Mann ist Arthur Mästner, der Schweine­meister. Als Einzelbauer gab er sein Land dem ÖLB. Er ist eingetreten, weil er bei Gründung der Genossenschaft sein Land hätte zurücknehmen müssen. Als Schweinemeister soll er auf achtzig Einheiten im Monat kommen. Des­halb ist er Reinholz' Widersacher. Aus Mästners Schweinestall kommen die größten Einnahmen der Genossenschaft. Der Melker meint, wenn er die Milch nicht lieferte für Mästners Ferkelaufzucht ... - Dort sitzt Oswin Holznagel, Mitglied wie seine Frau, weil er als Genossenschafts­bauer eine Kuh und Schweine halten kann, ohne ständig Sorgen ums Futter haben zu müssen. Früher war er Schuhmacher. Seine Frau, die Guste, sagt: "Wir werden den Großkopfeten zeigen, wer zuletzt lacht! Früher haben die einen nicht gekannt. Wenn wir hochkommen, dann machen wir es umge­kehrt. Sie werden noch betteln, daß wir sie aufnehmen in die Genossen­schaft." Dort sitzt der alte Roch, allein kam er mit seiner Wirtschaft nicht zufache. Er hat vom Krieg her eine Beinverletzung. In der Genossenschaft füllt Roch trotzdem noch seinen Platz aus. An der Wand sitzt Hakbart, ein Einzelbauer, von der Gemeinde wegen "vorbildlicher Sollablieferung und Steuerzahlung" öffentlich belobt. Er ist Gast. Hakbart ist im besten Alter, seine Wirtschaft hat er in Ordnung.
Im Präsidium sitzen der Bürgermeister, der Agronom, der Vorsitzende und die Hauptperson des Tages, der Buchhalter. Ernst Pflock, klein und stämmig, ist kaum 28 Jahre alt und dickfellig wie ein Elefant. Er war der letzte Leiter des ÖLB. Er hat kein leichtes Erbe übernommen. In den drei Jahren, seit er in Marnitz arbeitet, scheint er mir gealtert. Pflock ist kein gelehrter Alleswisser. Als er in den ÖLB kam, war er ein Neubauer mit frischerworbenen Kenntnissen aus der Karl-Marx-Partei­hochschule. Was er als Betriebsleiter und jetzt als Vorsitzender macht, sind praktische Lehr­jahre, eine gründliche Schule. Buchhalter Zähler kommt aus der Industrie. Von Landwirtschaft hat er wenig Ahnung. Wie jeder Genossenschafts­bauer hat er eine eigene Kuh. Er kann sie nicht melken.
Neben ihm sitzt Erwin Krümmert, der Agronom. Seine Perspektive: Agrar­wissenschaftler. Vorerst muß er zupacken wie jedes andere Mitglied. Es fehlt der Genossenschaft an Bauern. Noch bleibt wenig Zeit für For­schung und Versuche.
Bürgermeister Gallus und der Vorsitzende vom Rat des Kreises, Genosse Gedike sind da. Gedike überragt alle um einen halben Kopf, seine Glatze schwebt wie eine polierte Billardkugel über den Häuptern der anderen.
Die Handvoll Genossenschaftler hat das Dorf in Bewegung versetzt. Pflock gibt seinen Rechenschaftsbericht. Er kommt mir ein wenig mager vor, dieser Bericht. Er enthält zuviel allgemeine Redensarten wie: ". . . sind vom Vorstand eine Reihe, zum Teil schwerwiegender, Fehler gemacht wor­den ..." Genannt werden die Fehler und ihre Ursachen nicht. "... war unser Verhalten gegen die Saisonkräfte nicht ganz korrekt. So konnte es geschehen, daß insgesamt zwölf Landarbeiter die Genossenschaft verlassen haben." - "Eine der Haupt­schwierigkeiten, mit der wir zu ringen haben, ist der Mangel an Arbeitskräften ..." - "Was den Austritt des Melkers Reinholz betrifft, so werde ich in meinen Ausführungen weiter unten dar­auf zu sprechen kommen . . ." Er kommt nicht drauf. Und gerade das hätte mich so interessiert! Es hilft nichts, mit dem Melker muß ich alleine fertig werden. Ein Gedanke fesselt mich; er bezieht sich auf die Präambel, die Pflock seinem Rechenschaftsbericht voranstellte: "Wir sind beim weiteren Aufbau des Sozialismus in Marnitz voller Zuversicht, weil wir wissen, daß der Sozialismus in der DDR siegen wird." Welchen Bogen spannt er von seiner Präambel bis zum Sieg der Genossenschaft in Marnitz? Wenn er von Zuversicht spricht, muß er die Kraft spüren, die vorwärtsdrängt. ". .. zeigt sich die Überlegenheit der sozialistischen Wirtschaftsweise bereits darin, daß es uns gelang, trotz der schlechten Kartoffelernte einen Realwert der Ar­beitseinheit von 8,54 DM zu erreichen, so daß. . ."
Die wichtigste Nachricht des Tages ist an mir vorübergerauscht. Ich weiß nicht, warum es Beifall gibt Ich muß meinen Nachbarn fragen "8,54?" - ". . . so daß wir in der Lage sind, heut mit den Mitgliedern in voller Höhe abzurechnen." Ich verspüre das Bedürfnis, meinen Nebenmann um eine Zigarre anzufechten. Hannes guckt, als habe ihm eine Henne das Frühstücks­brot entrißen. Guste Holznagel eifert: "Seht ihr? Den Großkopfeten werden wir's zeigen!" Sie muß zur Ruhe ermahnt werden. Pflock ist beim Perspek­tivplan: "Dieser schöne Erfolg ist vor allem darauf zurückzuführen, daß wir einen leistungsfähigen Schweinebestand aufgezogen haben. Jetzt müssen wir unser Augenmerk auf den Kuhstall richten, damit wir die geplanten 56 Großvieheinheiten pro 100 Hektar erreichen."
Der Umbau des Schweinestalles beginnt sich zu lohnen. Gute Ergebnisse drücken den Dingen ihren Stempel auf. Erfolge, wie sie diese Genossen­schaft trotz aller Schwierigkeiten aufzuweisen hat, wiegen schwer.
Ich höre mit halbem Ohr. Der Agronom spricht über mangelhafte Hack­fruchtpflege und mangelhafte Kontrolle der Traktoristen durch die Ge­nossenschaftler. Beim Einzelbauer getraue sich kein Traktorist zu schlu­dern. Damit müsse Schluß sein. Erziehung, gegenseitige Erziehung! Eine neue Kartoffelpflanzmaschine aus der Sowjetunion soll eingesetzt werden. Gut. Buchhalter Zähler spricht davon, daß man den Staatsvorschuß zu­rückzahlen und dem gemeinsamen unteilbaren Fonds außerdem 30 000 Mark zuführen könne. Schön. Das alles seien Gelder, die man bei der Aufschlüs­selung des Monatsverdienstes mitrechnen müsse. Zähle man zu diesem Real­wert noch die Naturalien, die jedes Mitglied entsprechend den geleisteten Arbeitseinheiten bekomme, und setze sie in Geldwert um, so wäre die Diffe­renz des Einkommens der Mitglieder zu dem der "Freiarbeiter" positiv. Man könne daher nicht verstehen, daß diese Menschen abseits blieben. Ge­meinsam ginge es besser voran. - Ein bißchen ungeschickt, doch notwendig. - Der Buchhalter zählt die Maschinen und Geräte auf, die der Genossen­schaft gehören, als deren Eigentümer die Mitglieder sich fühlen müßten. "Rechnet man alle Sachwerte zusammen, wie Inventar, Gebäude, kommen mehr als eine Million Mark zusammen. Genossen, wir sind Millionäre!"
Zum erstenmal weiß ich genau: Die Genossenschaft bleibt bestehen. Und ich dachte, sie wäre zu früh gegründet worden. Ich muß zurück zum Kuhstall.

Klare und trübe Tage wechseln einander ab. Wenn es klar ist, kann ich abends vom Leppiner Berg aus beobachten, wie die Sonne als Feuerball un­gefähr dort, wo Hamburg liegen muß, in den Bodendunst taucht. In den Fensterscheiben, die nach Westen gehen, steht eine purpurne Lohe. Vom Tal aus muß man das Brennen sehen, wenn dort längst der Abendschatten herrscht. Der Leppiner Berg ist das Dach dieser flachen Landschaft. Hier wohne ich.
Ich stehe mit einem Bein im Institut für Literatur und mit dem anderen in der Genossenschaft. Zur Zeit sitze ich allerdings auf dem Leppiner Hügel und denke an Fritz. Tatsächlich: ich denke an unsern Herdbuchbullen Fritz. Ich muß oft an ihn denken, jede Stunde fast, die ich nicht im Stall verbringe. Das ist beinahe eine Psychose. Wenn nun der Melker einmal schlapp­macht? "Sie haben nicht einmal einen Menschen, der den Bullen rausführen kann", sagt er, aber das ist übertrieben. Es ist gar nicht der Umstand, daß der Bulle ab und an rausgebracht werden muß, der mich beunruhigt. Fritz ist ein braver Bursche, den führe ich heraus, wenn's nötig ist. Die Gestalt Reinholz' schrumpft mehr und mehr zusammen, je länger ich im Stall bin, und je besser ich die Arbeit kennenlerne. Nein, daß Fritz dauernd angebun­den ist, frißt an meinen Nerven. Die Kühe sind auch angebunden, aber an­ders, mit einer einfachen Kette, kein Vergleich zu Fritzens Fesseln. Er ist doppelt verankert, mit fingerdicken Kettengliedern ist er an den Beton­sockel geschmiedet. Übers Genick hat er eine breite Eisenschelle mit der Hauptkette; diese Schelle hat er einmal gesprengt. Eine Viertelstunde lang hing er nur an einer einfachen Kette. So schnell wurde bei uns noch nie etwas zum Schmied geschafft wie diese geborstene Schelle. Gallus, der Bürger­meister, brachte sie selbst zurück. Seitdem ist Fritz in seiner Stallecke für mich der Inbegriff gefesselter Muskelkraft. Er ist wie ein an den Felsen geschmiedeter Herkules. Tag und Nacht stiert er auf die Mauer vor sich, daß es zum Erbarmen ist. Ich meine, so einen Stier muß es doch drängen unter seiner Haut. Mitleid mit der Kreatur, der Widerspruch zwischen Bullenkraft und lebenslänglicher Gebundenheit ist es, was mich so in Spannung zwingt, daß ich nicht davon loskommen kann. Wenn ich mich zur Welt in Beziehung setzen will, Fritz drängt sich dazwischen. Ich will ihn verscheuchen, aber er kommt immer wieder. Ob einer von den Genossenschaftlern wohl an Fritz denkt? Und wenn, in welcher Art? Vielleicht, daß Fritz bald schlachtreif ist. Sein Nachfolger, das Büffelchen, ist da. Bald werden sie auch ihm eine zweite Kette umlegen. Das sind natürlich Gedanken anderer Natur, praktischer, nüchterner. Keiner von ihnen spinnt wahrscheinlich vom angeschmie­deten Herkules. Und doch müssen auch sie die Spannung fühlen, die ein an­gebundenes Tier erzeugt. Warum hätte Gallus sonst so schnell den Halsring gebracht? Fritz steht mir für die ganze Herde. Warum kann Reinholz nicht fort vom Hof? Warum kann er nicht einmal wie andere Menschen auf Sonntagsrückfahrkarte verreisen? Gewiß existiert ein Gutteil der Beziehun­gen auf dem Dorf nur, weil überall Vieh angebunden ist. In unserer Land­wirtschaft wird jeder ein wenig von der Spannung getrieben, die daher rührt, daß Tiere angekettet sind. Den Putz von seiner Wand hat Fritz längst abgewetzt. Er stemmt sich mit den Hörnern gegen die blanke Wand und schnaubt. Die weiße breite Stirnblesse ist rot vom Ziegelstaub. Die Horn­spitzen hat er sich schon bis auf den warmen, weichen Knochenzapfen ab­gescheuert. Der Knochenzapfen guckt dunkel wie die Mine eines Riesen­Zimmermanns­bleistifts durch. Wenn man mit der Fingerkuppe darauf tastet, schüttelt Fritz klirrend den Schädel. - Da bin ich wieder. Ich wollte meine Lage auf der Welt skizzieren. Dazu gehört viel mehr, die Stellung zur Re­publik zum Beispiel, zu Westdeutschland, zu andren Staaten, andren Kon­tinenten, andren Sternen. Bisher kam ich von diesem Hügel nicht herunter, und Fritz bricht in mein Weltbild ein. Um sich in der Welt zurechtzufinden, muß man Fenster haben, durch die man in sie hinausschaun kann. Manchmal ist mir, als ob Augen und Ohren dazu nicht genügten. Vielleicht ist die Empfindlichkeit gegenüber solchen Spannungen, wie sie der gefesselte Fritz erzeugt, auch eine Art Fenster. Es kommen keine Geister von außen herein. Was ich fühle, muß auch für andere da sein. Warum ist Reinholz so nervös, warum schreit er, wenn er sich unverstanden fühlt? Er hat sechzig Kühe in seinem Stall, neben dem großen Fritz. Nie kann er ausspannen, nie an etwas denken ohne Sorge um diese Tiere. Es ist keiner da, der sie ihm inzwischen abnähme. Und dann sind dabei nicht allein technische Dinge zu erwägen. Es soll Traktoristen geben, denen es in der Seele weh tut, wenn andere auf ihren Traktoren unvorsichtig schalten. Traktoren sind Maschinen. Ich weiß, warum ich dafür bin, daß auch im Kuhstall der Achtstundentag eingeführt wird. Das hat nicht mit der Arbeitszeit allein, nicht nur mit dem Gesetz zutun:

Reinholz behauptet, der neue Melker sei schon seit Donnerstag voriger Woche da. Ich habe ihn noch nicht gesehen. "Der geht den Tag über nicht aus der Bude", sagt Reinholz. "Wenn's dunkel wird, kommt er herunter und schnappt Luft. Der ruht sich aus vom Umzug."
Heut soll er anfangen. Und ausgerechnet heut komme ich nicht vom Fleck. Schnee ist über meinen Pfad geweht. Ich versinke bis über die Knie. Ich muß mich anstrengen. Schweißnaß komme ich in den Stall. Der Neue ist nicht da. Reinholz hat, wie immer, mit seiner Frau allein gemolken. Jetzt höhnt er: "So soll er machen. Da werden sie Freude haben! Mit so was wolln sie einen ausstechen, kommt am ersten Tag zu spät! Was wird er machen, wenn er jeden Tag um dreie uffstehn muß?" Der Neue zeigt sich erst, als wir mit der Arbeit fertig sind. Er steht und guckt. Keiner sagt etwas. Was soll man sagen? Er sieht, daß alles fertig ist. Er sucht sich einen Striegel und will Kühe putzen. "Nichts da", sagt Reinholz. "Bei uns wird früher uffge­standen. Jetzt müssen die Kühe ihre Ruhe haben." Der Neue entpuppt sich als völlig Ahnungsloser. Er ist groß und hager. Körperlich könnte er es mit Reinholz aufnehmen. Reinholz sagt: "Ja, ja, Herr Oberschweizer." - "Ich bin nicht Oberschweizer, auch nicht Schweizer. Ich will erst einer werden, hab grad erst melken gelernt." Und mit jener Kraftmeierei, die Jünglinge zur Schau stelln, denen noch einiges zum Manne fehlt, fügt er hinzu: "Mensch, hab ich das verrasselt, na, nichts für ungut, Meester." Für diese Tonart ist er zu alt. Reinholz merkt es nicht, er nimmt den Neuen ernst. "Was heißt Meester?" krakeelt er. "Du bist Herr im Stall! Du trittst ein, ich tret aus. Du bist der Meester!" So spricht Reinholz, der "den Stall uffgebaut" hat. Daß der Neue nicht weit kommt, sieht er natürlich auf den ersten Blick.
In der Mittagspause unterhalte ich mich mit einem Genossenschaftsbauern. Als die Rede auf den neuen Melker kommt, sag ich. "Das ist nicht so ein­fach. Im Kuhstall fehlen mindestens zwei gute Melker." - "Haben sie doch gehabtl" kräht mein Gesprächspartner, der kleine Holznagel. "Aber bei denen bleibt keiner, die wollen alles allein machen. Einer gönnt dem andern nichts. Angesehn bist du, wenn du umsonst hilfst. Laß sie stöhnen, sie wollen es nicht besser. Der Mästner ist genauso. Sie wollen ihren Stall allein aus­beuten, sie lassen keinen ran." - "Wie ist das?" frage ich.
"Siehst du, ich habe bei Mästner geholfen, den Schweinestall ausmisten, dreimal die Woche. Was haben sie dafür gegeben? Neun Einheiten den Mo­nat. Das war zuwenig. Ich sage, Arthur, sage ich, gib mir was ab von deinem Schweinegeld, soviel Prozent, wie meine Arbeit ausmacht, das muß sich doch` berechnen lassen und wär gerecht. Dann helf ich dir. Davon will er nichts wissen, lieber nimmt er die Frau mit in den Stall. Er weiß, warum. Wenn sich's nicht lohnen würde, würde er das nicht tun. Andere sollen nichts haben, und im Kuhstall ist's nicht anders. Das verstehen die unter Genos­senschaft. Die würden nicht im Feldbau arbeiten mit zwanzig Einheiten im Monat, die nicht. Die würden pfeifen auf unsere Genossenschaft!"
Da muß etwas am Lohngefüge nicht stimmen, denke ich. Für jeden Stall sind monatlich oder jährlich soundso viel Arbeitseinheiten eingeplant. Das ist ganz richtig, so müßte es auch für jeden Hektar Feld sein. Aber noch gilt wahrscheinlich die Devise: Wer sich die Einheiten verdient, das ist egal, Hauptsache: er bringt Leistung. Das ist ein Prinzip, genauso, wie es ein an­deres Prinzip wäre, jedem ein Maß an Arbeit zuzurechnen, das er in acht Stunden schaffen kann. Bei dem hier praktizierten ersten Prinzip ist klar, daß jeder, der kann, sein Arbeitsmaß selbst bestimmt - und sich dabei über­nimmt wie Reinholz. Um sich zu entlasten, sucht er billige Hilfskräfte, klar, wo er während der längsten Zeit seines Lebens die egoistischen Anschau­ungen des Kapitalismus mit Löffeln gefressen hat.
Das sind Dinge, die auszumerzen der Vorstand und der Vorsitzende da sind, um so mehr, als es in der Genossenschaft keine Gewerkschaft gibt. "Nun zieht die Irena schon wieder eine Rinderschnur", sagt Reinholz ärgerlich. "Dabei war das Aas erst vorige Woche zum Decken!" Ich sage: "Die will was vom Leben haben." Aber Reinholz ist nicht zum Witzeln aufgelegt. "Erst nehmen sie nicht auf", sagt er, "das macht der verfluchte Scheidenkatarrh, den sie alle haben, und wenn sie aufgenommen haben, ver­kalben sie. Da soll einer eine Milchleistung erzielen." Reinholz sagt mir, daß alles Tbc-Vieh des Kreises an einigen Betrieben konzentriert werde, um so die Rinder-Tbc im Kreise ausrotten zu helfen. Einer der Betriebe sei un­sere Genossenschaft. Das wäre ein weiterer Grund für die Anfälligkeit der Tiere gegenüber allen möglichen Krankheiten. "Egal, versuchen wir's noch­mal mit Fritzen", sag ich, weil ich will, daß er von seiner Kette loskommt.
Irena ist eine temperamentvolle Kuh, sie dreht und tänzelt, ich kann sie kaum halten. Eingekeilt zwischen Kälberstall, Dunghaufen, einer abgekipp­ten Fuhre Stroh und einer sumpfigen Stelle, an der man mühelos einsinkt bis übers Knie, toben wir mit den Tieren umher. "Wir müssen uns einen Zwangsstand bauen", sagt Reinholz, "aber jetzt kann man nicht in den Boden rein. Wie soll man Pfähle einschlagen?" Ich gönn Fritz die Bewegung, aber eine Viecherei ist es für unsereinen. Man kommt außer Atem und muß Obacht geben, daß die verrückten Biester einen nicht zerquetschen. Reinholz hat kreisrunde rote Flecke auf den hageren Wangen. Er versucht, Fritz mit der Führungsstange am Nasenring hinter der Kuh herzuzerren und sagt zu mir: "Halt sie, so halt sie dochl" Plötzlich sind die roten Flecke weg. Irena steht still. Auch Fritz rührt sich nicht. Alles ist einen Augenblick lang wie versteinert. Aus Reinholz' Gesicht ist das Blut gewichen. Mir wird angst. Da muß etwas nicht stimmen. Die ganze Situation dauert nicht länger, als ich Zeit brauche, diesen Satz zu denken. Dann sagt Reinholz, als ob nichts geschehen wäre: "Der Bulle ist los." - "Was nun?" frage ich ebenso beiläufig. Es ist, als spielten wir Theater. Reinholz hat die Führungsstange mit dem Nasenring in der Hand. Fritz ist nicht mehr dran. Was ist geblieben von meiner sentimentalen Weltsicht? Jetzt ist der Koloß ledig, nirgends kann man ihn halten. Gedanken hetzen, jagen sich. Das einzige, was sich im Augenblick wirklich ins Hirn brennt, ist: Hoffentlich hat Reinholz so etwas schon mitgemacht. Die Welt schrumpft ein, nimmt Form und Größe eines Stierkopfes an. Der Dialog erinnert in Tonart, Lautstärke, Diktion ver zweifelt an eine Szene im Operationssaal. Die Eindrücke sind überdeutlich bis ins kleinste. "Gib den Halfter von der Kuh her!" sagt Reinholz und ich registriere: Im Stall ist nur ein Halfter, den hat Irena um. Reinholz faßt mit Daumen und Zeigefinger in die Nüstern des Bullen. Seine Finger­knöchel sind weiß und wächsern. Blutleer sind auch die Worte: "Schaff uns die Kuh vom Hals!" Welch eine Aufgabe. "Wart, ich will eine Kette holen. Es bleibt nichts weiter übrig. Reinholz: "Gut." - Reinholz: "Bind das Biest an den Pfosten. Mach einen Halfter aus der Kette." Ich hab noch nie so was gemacht. Reinholz: "Mach, Menschl" - Reinholz: "Wo der Henkel­bein bleibt!" Das muß der Neue sein. Reinholz: "Komm her, leg Fritz den Halfter um, ich darf nicht loslassen. Nein, nicht, nicht, nicht. Nicht bei den Hörnern packen, Kerl!" Ich: "Aber loslassen mußt du, ich krieg den Halfter sonst nicht rüber!" - Was nun? Der Halfter ist zu klein. Reinholz: "Laß die Kuh laufen! Bring die Kette her, mach!" Ruhig, ohne jede Spur von Erregung. Reinholz: "Die Irena! Schlag sie tot!" Ruhig - ich hebe die Bullenstange auf und schlage. Die Stange bricht. Reinholz: "Ruhig, Fritz, ruhig!" Ich: "Alter Junge, wirst uns doch keine Sachen machen." Reinholz: "Nun aber vorsichtig, komm Fritz, komm, Fritze. Ruhig, ruhig." - Gemein­sam führen wir Fritz in den Stall. Reinholz: "Mann, zittern mir die Knochen." Er bekommt wieder Farbe. Während der ganzen Zeit hat er sich wie ein Mann benommen. Einmal lag er am Boden, das war, als ich die zweite Kette holen ging. Jetzt ist Fritz wieder an seinen Block geschmiedet. Er schnaubt ängstlich. Henkelbein kommt von draußen. "Was ist mit der Kuh?" Ich stürze hinaus. "Irena!" Natürlich ist Irena nicht tot. Sie steht still, hält den Kopf schief und äugt. Ausgerechnet mir entgegen äugt sie. Nie vorher hab ich einen solchen Schlag geführt. Die Kuh hat ihre Brunst ver­gessen. Ich nähere mich ihr vorsichtig. Sie läßt sich willig führen. Ich muß etwas in ihr zerbrochen haben, verdammt.

Wieder stapfe ich durch den dunklen Wintermorgen. Nun bin ich mit Reinholz aneinandergeraten. Nach dem Vorfall mit dem Bullen war das unvermeidlich. Als Fritz gebändigt war, verschwand Reinholz, um seinen Schock zu überwinden. Er hatte an dem ganzen Vergnügen den Hauptanteil gehabt. Am Nachmittag mußten wir, Henkelbein und ich, ohne den Melker füttern. Ich tat's mit Diebesfreude und brachte mich schier um dabei. Wenn es mir gelingen würde, mit Reinholz' Karre für alle Tiere Futter zu schütten, wäre seine Legende von der Karre, die nur er bewältigte, zer­schlagen. Es gelang mir. Zu der Sache war Geschicklichkeit vonnöten, weiter nichts. Als Reinholz kam, war ich fertig. Er fing zu schimpfen an: "Da hast du's! Der Bulle hat keinen Mumm in den Knochen! Die ganze liebe Zeit kriegt er kein Körnchen Hafer zu sehn. Den schluckt allein der Mästner." Sehr unwahrscheinlich, denke ich. Wie kann ein Mensch so vielen Hafer schlucken? Für Reinholz gibt es nur die Gedankenverbindung: Haferschrot plus Schwein gleich Geld für Schweinemeister Mästner. Was mich staunen machte, war die Art, wie er es fertigbrachte, den Anfang seiner Schmäh­reden an einem Vorfall aufzuhängen, von dem er besser nicht hätte reden sollen. Reinholz schimpfte weiter: "Das ist pure Absicht. Unsereins schindet sich von früh um dreie bis in die Nacht hinein, und sie vergönnen einem das bißchen Geld nicht. Andern wird es zugeschanzt, bloß, weil die mit der Ge­nossenschaft Liebkind sind. Bei mir sehen sie nur ins Milchbuch. Kein Aas kümmert sich sonst um uns, das Licht ist zum Erbarmen, die Fenster sind nicht verglast, monatelang rede ich schon davon. Wasserleitung haben sie nicht gelegt. Nichts wie die große Fresse haben sie. Millionäre sind wir!` Einen Dreck sind sie, Staatsschulden haben sie wie der Hund Flöhe. Sie sind mit Haut und Haar dem Staat verschrieben. Das ganze System ist darauf uffgebaut, daß die Genossenschaft niemals von Schulden loskommt. Da mache ich nicht mit. Jetzt haben sie den neuen Oberschweizer, der melkt fünf Kühe, dann ist er k. o. In der Zeit melke ich fuffzehn Gurken. Mit so was wollen die einen ausstechen!" Er suchte nach einem weichen Gegenstand, um mit den empfindlichen Fäusten darauf zu hämmern. Der ist heruntergewirt­schaftet, denke ich. Der Bulle hat ihm den Rest gegeben. "Warum hast du den Bullen ohne Halfter vorgeführt?" frag ich. "Ist das erlaubt?" Ich weiß genau, es ist gegen die Sicherheitsbestimmungen. Außer dem Nasenring muß ein Bulle einen Halfter haben und einen Strick zum Führen. "Wenn jemand gekommen wäre und der Bulle wär erschrocken? Zerquetscht hätte er dich! Alles hätte er kurz und klein gestampft und das ohne Hafer." Es wurmte mich am meisten, daß er von dieser Seite angefangen hatte. "Was meinst du, was paßiert, erfährt die Sicherheitsinspektion, daß du den Bullen ohne Halfter spazierenführtest?" - 's ist kein Halfter da", sagte Reinholz klein­laut, rafft sich aber auf: "Da guckst du. Dir gibt doch keiner was. Den einen Halfter, den wir haben, hab ich selbst gemacht Da hilft nur Selbsthilfe. Mit Bücherschreiben kommst du da nicht weiter. Was willst du? Geh zu Pflock! Vielleicht gibt der dir einen Halfter. Vielleicht bekommst du einen elek­trischen Treiberstock, vielleicht sogar ein Zwangsgeschirr, daß man das Vieh nicht halbtot schlagen muß beim Verladen. Vielleicht bekommst du es, weil du es bist. Vielleicht geben sie das Genossenschaftsgeld mal nicht um Mopeds und Motorräder für die Obrigkeit aus. Geh! Du wirst was ändern mit deiner Schnüffelei. Aber da mußt du früher uffstehn!" - "Und du stehst jeden Tag um dreie uff", sag ich, weil mir nichts andres einfällt "und hast noch keinen Halfter! Es ist dir doch zuviel, das zu besorgen, und wenn du's hättest, läg es bei dir doch in der Ecke rum, weil du gar keine Zeit für so was hast. Du wurstelst drauf los, willst keinen im Stall haben und hast dabei fürs Allernotwendigste nicht Zeit Das muß man einmal sagen"" Jetzt, wie ich durch den Nebel stapfe, fällt mir alles wieder ein. Es war wohl eine Art Entspannung nach dem Abenteuer mit Fritz. Es war kein Streit, es ging recht ruhig dabei zu. Reinholz hat, gegen seine Art, nicht mal geschrien. In der Sache mit dem Bullen bin ich sein Mitwisser.
Ich ärgere mich, wenn ich den Punkt verpasse, an dem mein Trampelpfad nach rechts biegt. Das gibt zu viele Spuren auf dem Acker. Deshalb späh ich angestrengt durch den Nebel nach dem Stallfenster. Aber heut kann ich die Stelle, an der ich abbiegen muß, nicht finden. Was wird, denk ich, wenn mal im Stall kein Licht ist? Nun könnte ich behaupten, daß es so etwas wie eine Vorahnung gibt. In Wirklichkeit kam der Gedanke nur, weil sich der Licht­schimmer nicht zur gewohnten Zeit einstellte. Es gibt höchstens so etwas wie ein durch Wiederholung eingeschliffnes Wachbewußtsein. Im Stall seh ich, warum es unmöglich war, sich draußen nach dem Licht zu richten. Zwei dürftige Ölfunzeln und ein paar offne Kerzen brennen. Und deren Schein dringt nicht durch blinde Scheiben. "Man müßte wieder einmal Fenster putzen", hat Reinholz gesagt. Es ist nicht so, daß es ihm gleichgültig wäre, wenn der Staub an den Scheiben haftet. Er hat nur einfach keine Zeit, ihn zu entfernen. "Bei meinem Meester mußten jeden Freitag Fenster geputzt, der Gang gewaschen und die Spinnweben gefegt werden." Das sitzt tief in seiner Brust. Bei uns hängen die Spinnweben wie Fahnen von der Decke. Im Kerzenlicht bekommen ihre wehenden Schatten gespenstiges Leben. Die Kühe haben kleine Kerzenflammen in den dunklen Augen. Ihre Schatten taumeln riesengroß an den Wänden auf und nieder. Der Tiergeruch, das Strohgeraschel, das anheimelnde Kerzenlicht, das Geräusch des Melkens und der große graue Kater, der auf einem Krippenrand sitzt und ruhig auf seine Milch wartet, erwecken in mir noch einmal spätweihnachtliche Stimmung. "Gottverdammte Sauerei! Man müßte Ernsten mal melken lassen bei dem Licht", flucht Reinholz, und die Stimmung ist vorbei. "Den ganzen Vor­stand müßte man hereinjagen, damit die Kerle sich die schlauen Schädel ein­rennen im Dustern." . "Was ist, feiert ihr Stille Nacht?" frag ich.
"Was Stille Nacht!" schreit Reinholz. "Wenn der Schuppen uffpufft, was ist dann? Dann könnt ihr Stille Nacht im Kittchen feiern!" Er rechnet mich zum Vorstand. "Vor dreiviertel Jahren hab ich schon gepredigt: Kümmert euch ums Licht! Es kommt der Winter. Da, guck dir das anl" Unter der Heuluke war durch einen Kurzschluß eine Zweigdose angeschmort, die ge­tünchte Wand ist schwarz an dieser Stelle, schwarz bis hinauf zum Heu­bodenbelag. "Uii", mache ich und denke an die Tiere. "Ein Glück, daß ich gerade dazukam", sagt Reinholz. "Ich konnte rechtzeitig ausschalten." Im Kerzenschein verrichten wir unsere Arbeit, und ich muß immer wieder auf die kleinen Lichter in den grossen, schwarzen Kuhaugen sehen.
Henkelbein erscheint nicht. Reinholz schimpft: "Dem sein Gang bleibt liegen. Untersteh dich und mach dem die Arbeit. Der soll seinen Dreck weg­räumen, und wenn er bis zu den Ohren darin watet." Zu Pflock, der zwei Stunden später im Stall erscheint, sagt er: "Ich glaube, der Neue ist uffge­hetzt." - "Wer soll ihn aufgehetzt haben?" - "Frag seinen Schwager. Der war schon mal zwei Stunden bei mir im Stall."
Im Laufe des Vormittags kommt ein Elektrikerlehrling, den Schaden an der Zweigdose beheben. Der Lehrling ist nach einer halben Stunde fertig. Reinholz schleicht misstrauisch in den Stall. Dann ertönt sein Geschrei: "Guck dir das an! So wird das gemacht. So was könnt ihr euch nur hier leisten, weil kein Mensch aufpaßt. Aber nun schnell! Wenn das nicht ordent­lich gemacht wird, geh ich heut abend nicht in den Stall. Den Schaden be­zahlt dein Meester." Der Lehrling hat keine neue Zweigdose eingebaut. Er hat nur einen provisorischen Anschluß der Lampe unter der Futterluke an die Lichtleitung gemacht (wie jeder Laie es fertigbrächte), hat die blanken Enden mit Isolierband umwickelt und wollte gerade den Deckel aufschrau­ben, als Reinholz ihm das Geschäft verdarb. "Wird sowieso bald 'ne neue Leitung gelegt", entschuldigt er sich. "Da spielt sich nichts ab. Meine paar Stunden will ich ruhig schlafen können. Ich krieg kein Stück Vieh raus, wenn der Schuppen uffpufft", schimpft Reinholz. - Schade, daß er an seinen Aus­tritt denkt.
Gegen Mittag kommt Henkelbein. Pflock hat ihn aus dem Bett holen müßen. Mürrisch beginnt er seinen Gang auszumisten. Kurz danach kommt eine Schulklasse zum polytechnischen Unterricht. Ausgerechnet heute wollen sie in den Kuhstall, wo Henkelbein mit seinem Mist umhersudelt. Reinholz hat sich zurückgezogen. Die Jungen wollen etwas bei mir profitieren. Dabei bin ich selbst erst ein paar Wochen hier. Ob ich ihnen erzähle, daß ein Tier, wenn es angebunden ist, auf den Menschen eine gewisse seelische Wirkung ausübt, die bei manchem so stark sein kann, daß er des nachts keine Ruhe findet? Aber warum soll ich sie mit solchen Spinnereien verderben. Ich ver­suche zu erklären, daß zwischen Mensch und Tier eine Art Symbiose besteht. Das gehört auch mit zu meiner Spannungstheorie. Aber offenbar kommt es nicht an bei den Bengeln. Daher sage ich: "Laßt euch das von euerm Lehrer erklären." Dann gebe ich ihnen Striegel und Bürsten. Bei einer günstigen Gelegenheit sage ich zu Henkelbein: "Du Bruder blamierst uns schön." Und indem ich den Jungen zeige, wie man Kühe putzt, denke ich: Meine Güte, Lehrer wollte ich auch nicht sein.
Als ich Häuer im Erzbergbau war, passierte mir folgendes: Unsere Bri­gade fuhr einen Grubenbau auf, der zwischen 15° und 30° Steigung hatte. So etwas nennt man Bremsberg. Die vor Ort anfallende Masse wird in einem Skip (einem Förderwagen mit aufklappbarem Bodendeckel, der aussieht wie ein Kohlenkasten) mittels einer Motorwinde, bei uns Haspel genannt, hin­unter gebremst bis über die Förderstrecke. Ist der Bremsberg zweigleisig, zieht der abgehende volle den leeren Skip auf dem anderen Gleis ver­möge seines Gewichts empor,. Über der Grundstrecke wird der volle Skip durch Öffnen der Bodenklappe in einen bereitstehenden Hunt entleert. Diese Arbeit mußte bei uns von einem Mitglied der Brigade verrichtet wer­den. Nun stand die Brigade aber im Gedinge, das ist ein Leistungslohn ähnlich dem Objektlohn im Bauwesen. Der Haspelfahrer dagegen stand im Zeitlohn. Er hatte auf die Signale zu achten und seine Maschine zu bedienen. Da in unserer Norm das Hunteaufschieben und Skipentleeren auf der Grund­strecke mitenthalten war, wurde ein gewisser Prozentsatz Normübererfüllung möglich, wenn diese Arbeiten wegfielen. Daher hatte sich, bevor ich dorthin kam, die Praxis eingebürgert, daß der "Haspelkutscher" das Skipentleeren mitverrichtete und dafür am Lohntag vom Brigadier etwas bezahlt bekam. Als ich mich weigerte, diese Unart mitzumachen, blieb der Haspelkumpel hinter seiner Haspel sitzen. Einer von uns mußte auf die Grundstrecke, und die Kumpel der Brigade murrten, weil vor Ort einer weniger war. Dabei war er gar nicht "weniger", man hatte sich nur daran gewöhnt, daß der Ruf­schieber mit füllte. Am Monatsende hatten wir 111 Prozent. Im Steigerbüro fluchte man über die "Gammelbrigade" und in der Brigade über den gerin­geren Verdienst. Ich ging zum Obersteiger und versuchte zu erreichen, daß der Haspelkumpel mit ins Gedinge aufgenommen werde. Aber da kam ich schlecht an. "Der Haspelfahrer darf seinen Platz niemals verlassen, solange gefördert wird. Du kennst als Häuer nicht die Sicherheitsbestimmungen?" fuhr er mich an. Ich blieb noch einen Monat hartnäckig, auf die Gefahr hin, Prügel zu beziehen. Wir erreichten wieder nur 114 Prozent, obwohl ich nun neben jedem Skip wie ein Irrer im Fahrtrum herrannte, den Berg hinauf und herab, um mitzufüllen und gleichzeitig aufzuschieben. Dann gab ich auf. Einen Monat später hatten wir 138 Prozent, aber der Haspelkumpel verließ bei jedem abgebremsten Skip seinen Platz, um den Skip zu entleeren. Wir bezahlten ihm dafür ein Trinkgeld von 30 Mark. Steiger und Obersteiger wußten um diesen Handel. Aber die "Gammelbrigade" war verschwunden. Der Haspelkumpel erniedrigte sich zum Laufjungen für die Brigade. Die Brigadekumpel waren schmiergeldzahlende Großsprecher, die sich mit ihren Prozenten brüsteten. Die Steiger "wußten von nichts" als dem übererfüllten Revierplan.
Warum erzähle ich diese Geschichte? Mit dem Genossenschaftsmitglied Oswin Holznagel wurde ein ähnlicher Handel getrieben, wenn auch nicht in dem Masse. Der Schweinemeister Mästner war Einnehmer der Leistungs­prozente, während die Hilfskraft mit einem Trinkgeld abgespeist wurde. Sobald Holznagel die Forderung nach prozentualer Beteiligung am Lei­stungslohn erhob, nahm Mästner seine Frau zu Hilfe.
Dadurch, daß Menschen Mitglied einer Genossenschaft geworden sind, sind sie noch lange nicht von der sozialistischen Moral durchdrungen. Ohne diese Moral aber kann eine Genossenschaft nicht gedeihen. Um zur soziali­stischen Arbeitsmoral zu gelangen, ist eine beharrliche Erziehung notwendig. Gewinnsucht und Egoismus sind Eigenschaften, die der Mensch nicht durch die Genossenschaft bekommt, das sind Überreste aus der kapitalistischen Welt. Die Genossenschaft ist wie ein ideologisches Läusebad. Das Unge­ziefer kommt an die Oberfläche, es kann erkannt und bekämpft werden.
Die Arbeiten im Feldbau werden verschieden bewertet, je nach ihren Anforderungen an Geschicklichkeit und Körperkraft des Arbeiters. Kann man sich beim Dungladen etwa 1,2 Arbeitseinheiten Vergütung in acht Stun­den erwerben, so bei einer anderen, leichteren Arbeit nur eine Einheit oder gar noch weniger. Das ist nicht das Wichtige für uns. Interessanter ist, daß ein Mann beim Dungladen diese Anrechnung erhält, ganz gleich, wieviel Wagen er geladen hat. Die Anrechnung der Arbeitsart nennen sie bei uns "Lei­stungslohn". Dabei ist das glatter Stundenlohn, bei dem eine Verdienst­steigerung nur durch Überstunden entstehen kann. Sogar die einzelnen Lohn­gruppen, versteckt hinter der unterschiedlichen Bewertung der Arbeitsart in Einheiten, sind da, nur daß nun niemand die minderbewerteten Arbeiten machen möchte. Es ist ein Ansturm nach den Arbeiten zu spüren, die "mehr Einheiten bringen".
Keine Möglichkeit, im Feldbau durch Leistungssteigerung in der Zeitein­heit zu höherem Verdienst zu kommen, und jede Möglichkeit, um auf die gleiche Weise im Stall die Zahl der Arbeitseinheiten zu erhöhen, das scheint mir die Ursache der großen Differenz im Verdienst von Feld- und Stall­arbeitern.
Ein Melker wie Reinholz hat bei uns im Winter, solange die Tiere im Stall gehalten werden:
1. pro Tier und Monat eine Arbeitseinheit Betreuungsgeld
2. pro 100 Liter ermolkener Milch 0,8 Arbeitseinheiten
3. pro Kalb, lebend geboren, 0,5 Arbeitseinheiten Kälbergeld
4. pro Bullen im Monat 2 Arbeitseinheiten.
Vierunddreißig Einheiten sind Reinholz sicher, weil er es inzwischen auf dreißig Kühe gebracht hat und zwei Bullen. Leider kamen in letzter Zeit keine lebenden Kälber zur Welt, so daß er das Kälbergeld abschreiben mußte. Was die Milchleistung betrifft, so kommt er bei ungefähr 180 Liter täglich auf 42 Einheiten im Monat. Das sind insgesamt 76 Arbeitseinheiten. Bei dieser Art Leistungslohn überwiegt das rein Summarische. Dieser "Lei­stungslohn" hat den Nachteil, daß ihm die Hauptsache fehlt, nämlich die Berücksichtigung der Qualität, ausgedrückt in Milchleistung der einzelnen Kühe. Was die Tiere leisten, hängt mehr vom. Zufall ab als von der Pflege. Daher ist ein Melker bei dieser Art der Entlohnung nur "gut" daran, wenn er maßlos viel Tiere zu melken und zu "pflegen" versteht; es ist eine recht extensive Angelegenheit. Würde man bei uns ausrechnen, wieviel Tiere ein Pfleger einschließlich melken ordnungsgemäß betreuen kann, so kämen weniger als zwanzig Tiere auf einen Mann. Reinholz' Schufterei ist bewußt gegen ein reales Arbeitsmaß gerichtet. Schuld daran aber ist dieser Leistungslohn. Hier komme ich auf die Tätigkeit der Normenkommission und auf Anleitung sowie Kontrolle dieser Kommission durch den Vorsitzen­den. Die zielstrebige Arbeit mit der Normenkommission und, daraus fol­gend, ein sozialistischer Leistungslohn, verhelfen der Genossenschaft zu einem wirksamen Mittel der Selbsterziehung.
Das Sein bestimmt das Bewußtsein. Das Sein beruht auf der Arbeit. Die Berechnung und Vergütung der Arbeit in unserem Kuhstall ist für die Er­ziehung einer ständigen Viehzuchtbrigade ungeeignet. Ich bin nur knappe sechs Wochen im Stall. Nie würde ich die Stirn haben, bei dieser ungenügen­den Kenntnis des Faches jemandem kluge Reden aufschwätzen zu wollen. Aber niemand wird behaupten können, daß ich in dieser kurzen Zeit nicht genügend Fehler gesehen hätte. Mancher arbeitet jahrelang an derselben Stelle und merkt nichts. Ich habe keine Patentlösung anzubieten. Es haben sich mit dem Stallproblem ganz andere Leute befaßt. Das sind ernst zu neh­mende Wissenschaftler, fachlich geschult, sie haben es gründlicher getan als ich Belletrist. Man muß sich aber die Mühe machen, ihre Arbeiten zu studieren.
Im Gegensatz zur Feldarbeit wird die Arbeit im Kuhstall schon seit der Zeit des ÖLB nach Leistung bezahlt. Aber wie kann man von einer Leistung reden, wenn keine reale, technisch begründete Arbeitsnorm nachgewiesen werden kann? Im Wettlauf um die meisten Einheiten können Neid und Mißgunst wuchern, wenn diese Einheiten nicht viel anders als im Akkord erzielt werden. Natürlich sind die bei uns geltenden Vergütungen pro Ar­beitseinheit nicht aus der Luft gegriffen. Sie entstammen alle irgendwelchen Tabellen, deren Echtheit nicht bestritten wird. Aber abgesehen davon, daß es deshalb noch lange nicht die für die Wirtschaftslage unserer Genossen­schaft richtigen Vergütungssätze zu sein brauchen, betrifft es eben nur die Vergütungs­sätze für schon zustande gekommene Leistung, sagt aber nichts über deren Zustandekommen aus. Ich habe das Ei des Kolumbus nicht ge­funden. Ich stütze mich bei meinen Überlegungen auf den "Genossenschafts­bauern". Dort steht, daß die Vergütung der Arbeit in der Viehwirtschaft grundsätzlich auf Quantität und Qualität beruhen soll. Eine quantitative Bewertung der Arbeit setzt voraus, daß jedem Viehpfleger ein bestimmtes Arbeitsmaß zugeordnet sein muß. Wie soll man sonst die Menge berechnen? Das Arbeitsmaß bezeichnet die Anzahl der Tiere, die ein Mensch in acht Stunden betreuen kann einschließlich melken und - wenn er die Kannen waschen muß - natürlich Kannen waschen. Das Arbeitsmaß wird in jedem Stall verschieden sein. In jedem Betrieb muß es ermittelt werden. Es wird sich nach Anlage und technischen Voraussetzungen richten. Hier liegt für jeden Betrieb ein Anreiz zur Modernisierung versteckt. Die Ermittlung dieses Arbeitsmaßes ist eine Aufgabe der Normenkommission. Ich habe mich bemüht, sämtliche Zeiten zu stoppen, die wir zu den verschiedenen Ar­beiten brauchen. Diese Mühe muß man sich machen. Aber ich kam damit schlecht zufache, weil ich zu tun habe, um mit Reinholz in der Arbeit Schritt zu halten. Im "Genossenschaftsbauer" befindet sich eine klare Anleitung, wie man so etwas macht. Nun habe ich eine Rechnung aufgestellt: von drei Uhr morgens bis elf Uhr vormittags sind acht Stunden. Von vierzehn Uhr bis neunzehn Uhr sind fünf Stunden. Es arbeiten täglich zwei Menschen je 13 Stunden lang im Stall. Das sind 1560 Minuten. Teilt man diese Zeit durch die Anzahl der Tiere, also durch rund 60, so ergibt sich ein Arbeitsauf­wand von 26 Minuten pro Tier. In diese 26 Minuten ist das Küheputzen nicht einbezogen, weil es zur Zeit der Aufgabenstellung bei uns nicht aus­geführt wurde. Ermittelt man nun das Arbeitsmaß für 8 Stunden: 480 Mi­nuten durch 26 Minuten = 18,46 also rund 18 Tiere, so wird klar, warum bei uns an die nötigste Sauberhaltung kaum zu denken ist. Es kommen 30 Kühe auf den Mann. Das ist bald noch einmal soviel wie die Norm" So haben wir also eine Norm von 18 Tieren, ohne Putzen. Es fehlt natürlich noch allerlei anderes. Das wäre die rein quantitative Seite. Aber die Lei­stung entsteht erst unter Berücksichtigung der Qualität. Die drückt sich aus in der Menge der erzeugten Produkte pro Tier.
"Pro 100 Liter ermolkener Milch", was ist das anderes als eine rein quan­titative Rechnung? Sie führt zu einer Art Wettmelken, sie führt dazu, daß man die guten Kühe einander streitig macht. Zu einer Erhöhung der Durch­schnittsleistung reizt sie nicht an. Im Zusammenhang mit dem "Betreuungs­geld", pro Tier eine Einheit, führt das zu solchen Sachen, wie sie beim Vieh­verladen und beim Decken zu sehen waren. Flüchtigkeit und Hast kommen dabei heraus. Da die Tiere sehr empfindlich sind, wirkt sich jede Oberfläch­lichkeit in der Pflege ungünstig auf die Milchleistung aus. Daher darf die Milchleistung nicht getrennt von der Pflege und abstrahiert als "ermolkene Milch" berechnet werden, sie muß als gleichwertiger Faktor, als Ausdruck der Qualität in der Rechnung enthalten sein. Der Begriff der Arbeitseinheit taucht im "Genossenschaftsbauer" nicht, wie bei uns, zweimal hinter ver­schiedenen Arbeiten, sondern nur einmal auf. So sind in ihm Maß und Güte untrennbar enthalten. In dem von mir genannten Kalenderwerk werden einem Viehpfleger mit den Merkmalen: "Handmelken und alle übrigen Stallarbeiten mit geringem Mechanisierungsgrad" bei 5 Liter Stall- oder Gruppendurchschnitt Milchleistung 1,25 Arbeitseinheiten auf das Arbeit­maß vergütet. In der Tabelle steigt die Vergütung um jeweils 0,05 Arbeits­einheiten pro Liter Stall- oder Gruppendurchschnitt: Der Durchschnitt der Milchleistung im Stall oder in der vom Melker betreuten Tiergruppe wird monatlich geprüft, er kann öfter festgestellt werden.
Die Zunahme des Verdienstes mit der Steigerung des Leistungsdurch­schnitts der Kühe sieht in dieser Tabelle so aus:

Liter pro Stall oder Gruppe täglich // angerechnete AE auf die Norm
51,25
61,30
71,35
::
::
121,60

Von 13 Litern Durchschnitt an erhöht sich die Vergütung nach jedem weiteren Liter im Durchschnitt um 0,10 Arbeitseinheiten.
Ein Blick auf die Tabelle im "Genossenschaftsbauer" genügt, um ihren progressiven Charakter zu erkennen. Hier geht es nicht mehr ums Wett­melken, sondern ums Wettpflegen und -züchten, wobei der Pfleger durchaus auch melken können muß. Einwände wegen des Futters gehen mich nichts an. Immerhin wird zur Zeit bei uns dadurch, daß erst die Wrucken weg­gefüttert werden (weil man leichter an sie rankommt und eine Mischung mit Silage zuviel Arbeit macht), die vorhandene Futterreserve keineswegs mit dem höchsten Nutzeffekt verbraucht. Die Vergütung, wie sie in der Tabelle steht, braucht von niemandem ziffernmäßig übernommen zu werden. Jeder Genossenschaft ist es freigestellt, nach ihrer Wirtschaftslage und nach dem Anteil des Stalles am Gesamteinkommen, die Vergütungssätze zu berech­nen. Wichtig ist nur, daß Maß und Güte untrennbar in der Leistung ver­schmolzen sind und entsprechend in der Rechnung behandelt werden. Bei uns ist also ein Arbeitsmaß von 18 Kühen (von mir über den Daumen gepeilt) errechnet worden. Reinholz betreut jedoch 30 Kühe. Trocken­stehende Tiere gehören natürlich auch dazu. Die durchschnittliche Milch­leistung beträgt 6 Liter pro Kuh. Halten wir uns an die Vergütungstabelle im "Genossenschaftsbauer", so wird die Leistung Reinholz' wie folgt er­rechnet: Anzahl der tatsächlich betreuten Tiere mal Vergütungssatz auf Grund der Milchleistung durch Arbeitsmaß.
30 x 1,30 AE / 18 = 2,16 = rund 2,2 AE x 30 Tage = 66 AE
Das deckt sich ungefähr mit dem wirklichen Verdienst Reinholz'. Es beweist, daß sein Verdienst zum großen Teil auf Mehrarbeit, auf ganz ge­wöhnlicher Überstunden­arbeit, beruht. Das wird noch deutlicher bei Ein­haltung des rechten Arbeitsmaßes (und bei der jetzigen Milchleistung).
18 x 1,30 AE / 18 = 1,30 x 30 Tage = 39 AE
Hier liegt also der Hund begraben. 27 Arbeitseinheiten verdient er durch Überstunden, und die Qualität der bisherigen Arbeit tritt offen zutage. Jetzt hat er ein normales Arbeitsmaß und verdient nicht viel mehr als die Hälfte. Das ist der Grund, warum er Angst vor einem vernünftigen Arbeitsmaß hat. Deshalb der Arbeitsmythos. Ein Melker wie Reinholz muß mindestens fünfundzwanzig Kühe haben! Bei sechs Liter Stall­durchschnitt im Win­ter. Die Angst, sich den Stall mit zwei tüchtigen Melkern teilen zu müs­sen, kommt nicht aus seinem Charakter, sondern liegt in der Leistungsver­rechnung, wie sie bei uns noch praktiziert wird, begründet. Bei einer richtigen Berechnung der wirklichen Leistung, wie sie im "Genossenschaftsbauer" gezeigt wird, sähe es bei uns bald anders aus. Ein normales Arbeitsmaß würde ermöglichen, daß Pflege und Sorge um eine den Reserven entspre­chende günstige Futterzusammensetzung zu ihrem Recht kämen. Dadurch würde sich der Leistungsstand der Tiere heben, das, was man unter Qualität der Arbeit versteht, würde sich wesentlich steigern lassen. Unser Vieh ist durch Züchtung mit allen Anlagen zu guter Leistung versehen. Pflege und Fütterung müssen diese Leistung hervorrufen. Es könnte dann, wieder laut Tabelle, etwa so aussehen:
18 x 1,50 AE / 18 (10 Liter Durchschnitt) = 1,50 x 30 Tage = 45 AE
Das würde nicht nur dem Melker nutzen, weil er dabei wie ein Mensch leben könnte, sondern vor allem der Genossenschaft; wovon schließlich die Höhe der gewährten Arbeitseinheits-Vergütung mit abhängig ist. Niemand würde dem Melker verbieten, zwei oder drei Kühe über das Maß hinaus zu betreuen. Er würde sehen, wieweit er gehen kann, ohne seine acht, höch­stens neun Stunden zu überschreiten und den Leistungsspiegel zu gefährden.
Muß ich noch etwas hinzufügen, um zu zeigen, welche Rolle der Normen­kommission zusteht und welche Bedeutung die zielstrebige Arbeit mit dieser Kommission für die Umerziehung hat? Die Genossenschaft gründet die Vor­aussetzungen. für die Anwendung der sozialistischen Arbeitsweise. Die Arbeit aber ist die Grundlage für die Bildung des Menschen, das Mittel für ein würdiges Dasein und keineswegs Selbstzweck.

Buchhalter Zähler ist allein in seinem Büro. Zu ihm sag ich: "Ein paar Fragen. Die LPG hat einen LKW, den Traktor 'Pionier', einen Ge­räteträger RS 09, verschiedene neue Gummiwagen, Geräte wie Futterreißer, Heugebläse, Korngebläse, eine Kartoffeldämpfanlage, einen neuen Kälber­stall, zwei Baracken und was weiß ich alles. Das ist neu. Zu meiner Zeit hat es das nicht gegeben. Die Bauarbeiten an den Ställen erstreckten sich bis in die ersten Monate unsrer Genossenschaft hinein ... ich weiß, ich weiß", abwehrende Geste von mir, "der Gesamtwert aller Neuanschaffun­gen geht in die Hunderttausende. Rechnet man alles andere hinzu, kommt eine Million zusammen. Gut. Wer soll das bezahlen?"
"Das bedrückt dich?" sagt er. "Darüber mach dir keine Sorgen, das ist geregelt, glatte Schenkung." Er spricht im Tonfall eines Akademikers. "Zeugt vom Vertrauen unsres Staates auf unsere Genossenschaft. Unsere Kollegen wissen das kaum zu schätzen."
"Also kein Ratenkauf mit Stundung?"
"Wo denkst du hin? Unsere Genossenschaft ist Erbe dessen, was vor­handen war." . "Wieso?"
"Als ÖLB bekamen wir Kredit für all die schönen Sachen sowie für unsere Um- und Durchbauten. Daß dabei Stallneubauten waren, gilt nicht als Vergehen. Bei Gründung der Genossenschaft wurde der letzte ÖLB des Kreises aufgelöst; der Staat tilgte Kredite, übernahm die Schulden. Manche Sachen rollten erst an, als wir schon LPG warn. Ist das nicht wunderbar?"
Jetzt ist mir nicht mehr bange.
Ein junger Mensch kommt. Ich habe oft mit ihm zusammen gearbeitet. Wenn ich ihn sehe, freu ich mich. Ich denke dran, wie wir Korn eindrillten. Damals bedienten wir uns eines Aggregats von drei neben­einander­gekop­pelten Sämaschinen der MTS. Er war fleißig und gut zu leiden. Jetzt hebt er in der Stadt Gräben aus für eine neue Abwässerleitung, er schippt Sand. Er hat der Aufforderung von Pflock: "Wer will, kann gehen", Folge ge­leistet und ist Hilfsarbeiter im Tiefbau geworden. Der Junge ist gelernter Gärtner. Jetzt schläft er nachts in einem billigen Hotel. Übers Wochenende fährt er nach Haus. Hat unser Dorf noch keinen Platz für einen Gärtner? Kommt er zurück?
"Ich möcht mein Urlaubsgeld", sagt er zu Zähler. Und Zähler greift zur Brille, langt nach dem Schlüssel in seiner Tasche, holt die Kassette, sucht in einer Liste, murmelt: "P Püntzer, Püntzer ... unterschreib!" Geld! Ein paar Scheine flattern auf den Tisch, werden von Püntzer gezählt und ein­gesteckt. Ich greife nach der Liste: Führmann, Reichmann, Schalk ...
Der Vorsitzende des Kreisrats muß der Genossenschaft empfohlen haben, die Forderung der "Freiarbeiter" zu erfüllen.

In der letzten Woche ist der Platz hinterm Stall leer geworden. Der Kran hat den Dung weggefressen wie die Sonne den Schnee. Am Greifer stehen zwei junge Leute, Schramm und ein "Freiarbeiter". Sie sind mit Feuereifer bei der Sache. Es ist keine Arbeit im überlieferten Sinne. Es ist eine bessere Spielerei. Fuhre um Fuhre hieven die beiden zusammen mit einem Trak­toristen, der den Kran bedient, hinauf. Draußen auf dem Acker steht der Schwager Henkelbeins, ein ehemaliger Federschmied, hager und hohlgesich­tig. Auch er kam aus der Stadt. Heiße Öldämpfe vom Härten der Stähle haben ihm den Teint gegeben. Er zieht den Dung mit einem Haken Fuhre um Fuhre herunter, indem er neben dem fahrenden Wagen herläuft. Das ist noch die alte, herkömmliche Schinderei. Aber der Schwager ist anders als Henkelbein. Koch kann ihn nicht genug loben. Dabei ist Henkelbein stärker gebaut als sein Schwager. Henkelbein plagt sich in seinem Mistgang ab und kommt mit uns nicht mit Dabei geht es mir heut langsamer von der Hand als sonst Jede Kuh muß ich noch einmal berühren, ich muß sie mit der Hand herumschieben, muß sie noch einmal streicheln. Aber wir geben schon Rauhfutter, und Henkelbein ist noch nicht mit dem Säubern fertig. "Der ist stark genug", sagt Reinholz. "Aber er hat nicht den rechten Drang in sich." Ich sinniere; da hast du nun sechs Wochen dein Tagebuch geschrieben, und jetzt wird es erst interessant Könntest noch einmal sechs Wochen brauchen und dann noch mal sechs Wochen; brauchtest überhaupt nicht aufhören zu schreiben. Das Leben setzt neue Probleme, und der Mensch löst sie inter­essant und aufschreibenswert. Es ist eine fortwährende Setzung und Über­windung von Widersprüchen. Noch einmal gehe ich abschiednehmend durch alle Gänge. Eine tiefstehende Februarsonne überwindet die Staubschicht an den Scheiben und durchleuchtet die Ohren der Kühe. Die Tiere wenden mir ihre Köpfe zu, und ich sehe in jedem Futtergang zwei Doppelreihen hellrot glühender Ohren. Ich wandere von Tier zu Tier. "Leb wohl, Paula, alte Fette. Leb wohl, eisernes Büffelchen und du Fritz, ahnungsloser Lüm­mel." Mein Verhalten fällt selbst Henkelbein auf, und er kommentiert meine Schritte, indem er sich an Reinholz wendet: "Jetzt klatscht er Paula auf die Schinken. Jetzt schmust er mit Rosa, und nu, guck mal, nu kratzt er Fritzen noch mal am Arsche." - "Leb wohl, Fritz, so lange du kannst" Ich gehe, ohne mich umzusehn, hinaus, blicke nicht mehr zu meinen Arbeits­kollegen hin, denn den Abschied von den Tieren habe ich mir bis zuletzt vorbehalten.

abgedruckt in

NDL - neue deutsche Literatur

8.Jahrgang   Heft 4   April 1960

Glossar
ÖLB
Örtlicher landwirtschaftlicher Betrieb
BGL
Betriebliche Gewerkschaftsleitung

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