zur Eingangsseite

Biografisches

Werke ...

.. und Texte

Rezensionen

Sekundärliteratur

P.E.N.-Ausschluss

Das Kleine Blatt

Zur Poetik
anderer Autoren

Impressum

 

Sitemap

 

Stichwortsuche:


powered by FreeFind

 

Banner
Erich Köhler
Erzählungen und Buchauszüge
Erich Köhler ca. 1990

Der Gespensterwald von Alt Zauche

aus der Anthologie:
"Die Rettung des Saragossameeres - Märchen" 1976

Ortseingang. Transformatorenhäuschen. Rechts. Die Siedlungs­straße hinauf. Immer geradeaus. An den letzten Häusern vor­bei. Links wiesige Niederung, rechts Kiefernheide, aber nur ein paar hundert Schritte noch. Dann liegt er zur Rechten, der Gespensterwald von Alt Zauche.
Nicht hineingehen.
Empfiehlt sich nicht. Herbst, Sommer, Frühling, Winter. Hier ist es immer grabfeucht oder knochentrocken. Warum nur sind die Kiefern hier so krumm? Nagt ein Wurm an ihren Wurzeln, hat ein Sturm sie zerknüppelt? Warum trägt jeder, fast jeder Stamm in halber Höhe anstatt des Herz­triebes so ein schwärz­liches verkrüppeltes Kreuz?
Ein Wald vermodernder Herz­trieb­kreuze, unter denen die Stämme ausbrechen wie scheuende Pferde. Ein Wald von Stammkrüppeln.

Was für eine Gewalt hat sich hier im Köpfen geübt? Ein Wald der gewaltsamen Unterbrechung und - allerdings - des Weiter­lebens in Seiten­trieben, die sich emporkrümmen. Ein Wald des Weiter­krümmens. Als stünden hier TAUSEND mit ver­trockneten Halswirbeln zwischen den Schultern. Erdentspros­sene, deshalb immerhin grünend bis auf den kümmerlichen Rest verdorrter Wirbelfortsätze.
Arme wie Leuchter, emporgereckt über das fehlende Haupt, meist nur einen, den stärksten Ast unterhalb der grausigen Stelle, in den die gesamte Wurzelkraft hineingeschossen ist. Ersatz­stamm. Es gibt auch Leuchter mit zwei gleichmäßig entwickeÍ­ten Armen, dazwischen ganz besonders quälend der dürre Strunk. Bis zu siebenarmige Leuchter sind zu finden, nur kein einziger, schön gerade gewachsener Baum. Kandelaberwald. Zu Wipfelrauschen führt das nicht. Keine Wipfel vorhanden. Da ist oben nur ein Gestrüpp struppiger Waldhände, ein blin­des kopfloses Tasten, das nicht in die Wolken wächst, klaglos, stumm nicht. Darunter stete Dämmerung und weißlich gei­sternde Reh­ärsche, sogenannte Blumen.
Das ist der Gespensterwald von Alt Zauche bei Lübben, am Rande der Spreeniederung - noch lange nicht. Dazu gehört eine merkwürdig unebene, ja zertrichterte Bodenstruktur, gehören eine Menge größerer, mittlerer, kleinerer Ringkrater, halb ver­schüttet unter Nadelstreu schon. Einundsechzig Trichter sind gezählt worden. Wo sie am dichtesten beieinanderliegen, stehen gar keine Bäume, nur kümmerlicher Jungwuchs, Samenanflug: Aber im Epizentrum des Gespensterwaldes liegen die Trichter nicht so dicht. Trotzdem krümmt sich hier alles. Düsteres Krummholz. Jungwuchs kommt nicht auf zwischen den ver­renkten, rissigen, übermäßig beborkten und bemoosten Baum­krüppeln.
Ganze Schüler­gruppen sind hineingegangen, Pionier­freund­schaften. Unter Anleitung und mit Sägen und mit Stullen. Exemplarische Studien haben sie getrieben, an frisch hergestell­ten Stümpfen, hier und an anderer Stelle. Auf die gleiche An­zahl Jahresringe sind sie gekommen, beim Nachzählen, bei den krummgequälten Gewächsen hier, wie bei den schlank und heil und stark und frei zur Sonne gewachsenen Stämmen ander­wärts. Sie haben sogar das Jahr der Verstümmelung ermittelt, im Rückwärtszählen, Einwärtszählen an den Jahresringen, und haben für alles eine Erklärung gefunden. Das ist die Haupt­sache. Aber gesehen, gesehen haben sie weiter nichts, nichts Be­sonderes, nur diese Anhäufung düsterer Arme­recker. Und die Meinungen sind auseinandergegangen. Die Meinungen betreffs der weiteren Verwendung dieses kröpeligen Areals: Abholzen und neuanpflanzen oder stehenlassen? Letzteres, zu Anschau­ungs­zwecken. Da haben sich die praktischen von den mehr idealistischen Denkern geschieden. Der Streit soll noch dauern.
Und solange nichts entschieden ist, gibt es bei Alt Zauche einen Gespensterwald.
Aber nicht hineingehen. Nicht mit Sägen, nicht mit Äxten, nicht in Gruppen, schon gar nicht allein. Auf keinen Fall um die Mittagsstunde. Nicht, daß die Mittagsfrau erschiene. Ach wo. Die meidet selbst dieses Revier und begnügt sich mit den Feldfluren zwischen Alt Zauche und Radensdorf wie überall in der Lausitz.
Wer dennoch einmal aus Versehen dort hineingerät, genau um die Mittagszeit, genau in den Mittelpunkt dieses Waldstückes, dorthin, wo kein Jungholz aufkommt, der nehme sich ja zu­sammen, der mache sich auf etwas gefaßt, vor allem wahre er seine Zunge, denn was er da erlebt, das glaubt ihm hinterher sowieso keiner, kein Mensch, er riskiert nur prüfende Blicke.
Da geht alles rasend und beklemmend, wie im Schlauch eines großen Wirbel­sturmes. Hier wirbelt die Zeit. Die krausen, korken­zieher­artig verdrehten paarigen Kiefern­nadeln heben sich lautlos vom Boden. Es beginnt mit dem zualler­letzt herab­gefallenen Nadel­paar. Das schwebt hinauf zu den Zweigen, alle anderen folgen ihm, und während sie noch empor­taumeln, ein stetiges bräunliches Hinauf­schneien, schrumpfen oben schon die jüngsten und grünsten Quasten in die Zweige, und die ver­dorrten Nadeln von der Erde bohren sich an ihrer Stelle fest. Sie werden gelb, dann grün, dann zartgrün und weich und schrumpfen selber mitsamt den Zweigspitzen zu silbrigen zart­beschuppten Früh­jahrs­kiefern­kerzen, die Jahr für Jahr von den verrenkten Kerzen­halter­armen wie zur Mahnung ausge­schoben werden, normalhin, schrumpfen aber weiter, jetzt, in die Knospen. Ähnliches geschieht den spärlich, aber doch hier und da vorhandenen Föhrenzapfen, die hinaufbatzen, sich an den Zweigen festsetzen, grün, grüner, zu zärtlichen Frucht­wunden werden, den goldenen Pollenstaub aus­hauchen, im Fruchtholz vergehen, das sich verjüngt und auf die nächste Ga­belung zurückfindet.
Zugleich steigt Moderduft vom Boden auf, wird oben würziger und dringt als ätherisch harziger Geist in die stets weiter sich verjüngenden Zweige ein.
Begleitet wird das alles von feinem Sausen, als ob ein Spinn­rad ginge, aber im ganzen gewaltiger, wenn auch nicht lauter. Zu spüren wird ein unerhörter Kräftestrom, wie er vom Boden in die Luft, aus der Luft in die schwindenden Nadelquasten, in die Zweige, durchs Geäste, unter dem Bast der Borke, in den Holzfasern, die krummen Stämme abwärts, über Wurzel­geflechte zurück zur Erde treibt, die alles ungerührt in sich aufnimmt, wird zu spüren.
Überhaupt. Das spielt sich alles zwischen der Erde, der Luft und wieder der Erde ab, als wären beide Elemente,
die sich ballende Erde und der wallende Äther, das einzig Wirkliche und Beständige, dazwischen etwas anderes sein kann, zeit­weilig.
Und wie lebendige Zeugen dieses Sachverhaltes horstet ein Bussard­pärchen zwischen dem verschränkten, ständig tastenden Zweig­geflecht über dem Flüster­wald. An und ab fliegen die beiden Greife, tragen den fast flüggen Jung­vögeln das Futter weg, lassen sich vollkröpfen vom Nesthäkchen, das sich zusam­menkuschelt, kleiner, dauniger wird und nackt wird, bis es endlich, allen anderen Nestlingen voran, nicht ohne einen letz­ten neugierigen Blick auf die Welt, ins Ei zurückkriecht. Das Bussard­weibchen hält das Gelege geduldig noch möglichst lange warm, indes, was einst ein stattlicher Kiefern­wald werden sollte, sich weiter verdünnisiert, und nimmt zum Schluß; als wäre Brutwärme hier vergebens, ein Ei nach dem anderen in sich auf.
Inzwischen ist das Frühjahr dahin, in einen Winter über­gegan­gen, der sich in den voran­gegangenen Herbst ausstülpt. Unter­dessen zeigt das Bussard­pärchen weiter keine des Erwähnens werten Aktivitäten, es sei denn, man vermerkt mit einigem Be­fremden, wie es, von den Ansitz­pfählen herab, die umliegenden Felder und Wiesen aus den Kröpfen und Fängen mit Mäusen bevölkert. Aber das wäre dann bereits Schluß­folgerung, zu sehen ist es vom Grunde des Zauber­waldes aus nicht.
Erst im nächsten Spät­sommer, der aus dem Herbst sich kräftigt, wird es wieder lebendig oben im Horst. Jung­greife kommen von unbekannt, haken beim Elternhorst auf, hocken sich ins Nest, kuscheln sich aneinander, ihr Gefieder struppelt, daunt, sie schrumpfen, geben ihre Existenz auf.
In der Ferne grummeln das ganze Jahr über Maschinen. Ein Förster kommt, hält sich aber nicht auf, sondern zieht kopf­schüttelnd rückwärts aus dem Holze. Es ist schon so. Der Wuchs in diesem Jagen taugt nichts. Daraus entsprängen nur Abschaffungs­kosten. Kein einziges gerades Brett, nicht eine taugliche Gruben­holz­stütze wäre daraus zu gewinnen. Das Frühjahr folgt, es wintert, herbstelt, sömmert, frühfröstelt, fröstelt, friert. Und immer dieses Sausen, als drehten tausend Spindeln sich und spulten ihre Fäden auf. Aber mit welcher Eile. Auch in den düsteren Monaten, die vorüberhasten, geht es um. Morscheste Rester setzen sich zu Ast­stückchen und Quir­len zusammen, schweben in Sturm­nächten, die wie Schauer vorüber­huschen, empor, schräg, hocken mit dumpfem Knacken zwischen Baum­schultern auf. Nunmehr gibt es keine einzige dieser armseligen Verwachsungen ohne ihre grausige Zierde. Die starren Triebstümpfe, erst mürbe, verfestigen sich mit der Zeit, ein Schorf fliegt sie an, der an heißen Tagen, die auch vorüber­jagen, erweicht, ins nackte mürbe Holz eindringt, die Quirl­stümpfe kienig durchsetzt und durchsättigt - wie Blut­erguß. Aus jedem Stamm­buckel, ob ein-, ob mehrarmig, ragt nun das kreuzichte Zeichen der Verstümme­lung.
Der Tanz geht weiter.
Das Bussard­pärchen trägt mit großer Aufregung den Horst auseinander und verteilt das Nist­material in alle Winde. Dann schwingt es sich zur Balz empor, zu seinem ersten Hoch­zeits­flug. Durch das stark verjüngte, bereits lückige Zweig­geflecht erscheint es, himmelhoch, augenblicke­lang, unter den weißen Frühjahrs­wolken, eng umeinander­kurvend, ohne Flügel­schlag; und wie es sich dann trennt, auf Niezuvor­gesehen, ein allzeit zueinander treu gewesenes Paar.
Ein paar Zeitläufte hin ist das kronenlose Zweiggewirr bereits zu dünn für eine sichere Greifen­wiege. Aber wo sind die bei­den? Auch wird die Gegend unruhig. Ganz in der Nähe, weit über Wiesen und Felder und Fluß­läufe und Wälder schwing sich eine Stark­strom­leitung. Mit einer Spannung von dreihun­dert­achtzig Kilovolt wird da Energie von jenseits der Spree­niederung durch die Drähte nach Nordost gepumpt, nach Eisen­hütten­stadt und weiter. Das weiß jeder, auch jemand, der sich trotz aller Warnung zufällig um die Mittags­zeit ins tiefste Innere des Gespenster­waldes von Alt Zauche verirrt. Jetzt, ein Viertel nach zwölf, wird diese Fern­leitung abgebaut. Ja, das ist schon zu sehen, vom Grunde aus, das heißt, nur die Leitungs­drähte und Gittermastspitzen lugen durch das niederer und lichter werdende Zweiggerecke. Die Drähte erschlaffen. Ver­ständigungs­laute von Mensch zu Mensch begleiten alle Vor­gänge. Auf den Mastspitzen erscheinen Männer mit breiten Gurten um den Leib. Isolatoren werden geborgen, Niethäm­mer dengeln, Schweiß­sterne blitzen, auch durch die Nacht. Handgriffe sitzen. Alles vollzieht sich geschwind. Dann kippen die Masten um. Sich entfernende Motoren­geräusche. Um die gleiche Zeit trägt man in Lübbenau das große Spreewald­kraft­werk ab. Aber auch das ist nichts als Logik, über das Geschehen im Wald hinaus geschlossen. Wozu braucht man eine Strom­fabrik, wenn kein Energie­bedarf verspürt wird weiter im Nor­den .
Dazu immer dieses Sausen.
Schon muß die Erde ungeheuer reich an Kräften sein, denn selbst­ver­ständlich ist alle Elektrizität, die zuvor hinaus­gepumpt worden, genau wie der Saft durch die Bäume, dort durch die Leitungs­drähte zurück­gebraust, in die Generatoren, von da als simpler Magnetismus eben auch in die Erde.
Bis dahin haben auf den Feldern, nahe, aber unsichtbar, weil durch die Stämme und Zweige verdeckt, Maschinen gebrummelt. Dieses starke Geräusch wird nun seltener. Dafür ertönen des öfteren Zurufe, derbe Menschen­laute, die Tieren gelten, Pfer­den, Ochsen, Kühen gar wohl. Und das rasche Wechsel­spiel von Tag und Nacht, heller und düsterer Jahreszeit, darein der hier­her Verschlagene sich schicken muß, um diese Stunde, umhüllt ihn mit Fahlheit, einer überhellen Mondnacht gleich, ihn jagen Schauder. Die Humusschlcht des Wald­bodens konsti­tuiert sich, setzt sich weiter zusammen, fein der Reihe nach, zu all den Dingen, daraus sie nach und nach geworden ist, meist natür­lich nur Kiefern­nadeln und Föhren­zapfen, die in die Zweige empor und durch die Stämme und Wurzeln zurück zur Erde finden. Ein Teil der Humuskräfte entweicht.
Aus der wieder­erstandenen Grün­masse, die sich zurückbildet, saugt die Sonne, gewiß doch, hier scheint sie nicht, sondern saugt, saugt die Sonne ihren Betriebsstoff; kohlensaure Luft sickert schwerer zu Boden. Daher die Betäubung, mittags an dieser Stätte:
Selbstverständlich wird unter solchen Vorgängen auch eine Strahlung frei über dem struppigen Wald. Das Phänomen der Umwandlung von Masse in Energie geht um. Die Atmosphäre wird gewissermaßen aufgeladen, unmerklich, stetig. Und dazu wird es stiller. Der Zenit der Mittags­stunde ist erreicht. Insek­ten flirren. Ziellos ohnehin. Sie, die Säfte ihrer vielen, vielen Generationen, landen alle.
Stille also. Atempause.
Nun kommen Menschen, heben Grenzsteine aus dem Boden, setzen Pfähle dafür, mit Namen, deutsch und auch sorbisch klingenden, trans­por­tieren die Steine ab, erscheinen wieder, durchfluchten mit Meß­geräten den Wald. Wo sie auf Namens­pfähle stoßen, schlagen sie diese heraus. Alles Zugebilligte wird sorgfältig zurück­vermessen an wer weiß was für einen Besitzer. Doch nein. Das gerade nicht. Vermessungs­akte ge­hören selbst hier und um diese Stunde zu den echten Halluzi­nationen. Wer sollte denn Interesse an diesem geköpften, bru­tal ver­stümmelten, grotesk verwachsenen Dickicht, das niemals den Namen Stangen­holz sich erwachsen wird, bekunden, aus dem nichts zu machen ist, noch jemals zu machen sein wird, keine Bohle, kein gerades Brett, wo im Zeitgefühl bereits ein breiter Schrei nach Balken und Sparren schwingt?
So führt dieser "Jungwald" eine unvermessene, unbrauchbare Existenz und schrumpft im stillen weiter. Oben an den Zöpfen, wo die stattlichen Spitzen mit ellenlangen Trieben zu denken wären, werden bereits hier und dort, wenn auch verödet, Beil­hieb­narben sichtbar. Zwangsweise spreizen sich darunter die stärksten Nebenäste zu sperrigem, sich emporkrümmendem Baumersatz. Die Stille wird greifbar schier. Nur dieses Sausen ist da, darein sich jetzt ganz leise ein undefinierbares Klöppeln mischt.
Das Waldstück lädt die Atmosphäre weiter auf. Selbst die längst zu Erde gewordenen untersten Nadelschichten erstehen, stehen auf wie Bürsten­borsten, wie magnetische Stifte, den einen Pol erdhin, den anderen Pol erdabgewandt, bis sie sich lösen und so weiter. Die Stämme werden schmächtiger, die Borken feiner, dünnblättriger. Hier und dort, besonders auf den Wällen besagter eigenartiger Trichter, glatzt nun schon der bloße Sand. Traurige Dinge drängen herauf, schrumpelige Le­der­reste, Hadern, glotzende Fratzen mit Filterrüsseln, ganz einfach - Zeug. Das gewinnt im Sausen eine Art von Farbe, nämlich Gräue, und die Erde, unerträglich in Spannung ver­setzt, schwitzt einen widerwärtig rostgrindigen Schorf. Daraus krümelt sich allerhand Kleineisen her, mit und ohne Holz­beschlag, röhricht, spießicht, verbeult, zerschrammt und zer­schrottet. Fragwürdige Gegenstände setzen sich zusammen, Röhren mit faustartigen Aufsätzen, topfähnliche Halbschalen, eine Art von Kopfbedeckung, schwer, starr, unbequem und, wie scharfgezackte Löcher hier und dort beweisen, doch nicht ganz undurchlässig.
Ja, der Waldboden.
Das menschliche Auge ist eine wunderbare Einrichtung, aber seine Netzhaut verfügt nur über einen begrenzten Bereich des schärfsten Sehens. Wohin der auch gerichtet wird, überall tau­chen neue Altertümer auf, oft nur Kleinigkeiten, ein verwittert schwarzweißrotes Bändchen, ein von Grünspan unleserliches Blechplakettchen, ein Koppelschloß mit einem Stück Riemen dran ... Inzwischen huschen, bei fast voll­kom­me­ner Stille - an das Sausen hat man sich gewöhnt -, noch drei, zwei Jahres­wechsel vorüber.
Pilze schießen in die Erde, Schimmel fliegt an und vergeht, und wirkt wie Wundpuder, Schnee stiebt. Allerlei Wild hetzt dahin und daher. Bussarde kreisen hoch, hoch oben, horsten aber nicht. Krähen spähen und krächzen.
Endlich kommen wieder Menschen. Was bisher die Erde gebar, was vereinzelt hier und da wie zufällig zum Vorschein kam und wie vergessen herumlag, wird nun vermehrt, durch Men­schenhand planvoll auf den ganzen Wald verteilt. Unerhörte Vorbereitungen kommen in Gang. Messinghülsen mit und ohne Stahlspitzen werden ausgelegt, im Rückwärtsschreiten, so als dürfe kein Fuß die sinnvolle Unordnung wieder zerstören.
Und der Waldboden ersteht weiter, nunmehr zu dürrem Reisig, das die Form jener schlanken, gleichmäßig verzweigten, störri­schen Kiefernspitzen annimmt, die nun vertrocknet herum­liegen, anstatt grünend die Stämmchen zu schmücken. Zerbeulte Vehikel streben herein und schleppen die Pferde nach sich. Man spannt ab und läßt das rad- und reifenlose Gerümpel an der Stelle liegen, wo es zum Stillstand kam. Dann werden ganze Wagenladungen voller Kernschrott herbei­geschafft. Mit Schweißbrennern fügt man die Stahlbrocken an Ort und Stelle zusammen, es entstehen ungefüge, rohre­reckende, bunt­scheckige Kolosse. Die werden mit Laufrollen bestückt und mit Gleis­ketten versehen. Das erinnert an eine überdimensionale Tatort­rekon­struk­tion. Wie Ausgeburten eines Fiebertraumes kauern die Ungetüme hingeduckt unter den frisch gekappten Bäum­chen. Die Rekonstrukteure begutachten ihr Werk, werfen dann achtlos das Reisig darüber und lassen alles in einem seltsam unfertigen Zustand stehen.
Und das Uhrwerk schnarrt: Das ist der letzte Sommer. Hier und dort, als könnte die Erde nun nichts mehr hervorbringen, breiten sich dunkle Brandflecken aus. Eine Epoche der un­organisierten Besuche durch einzelne Individuen oder nur kleinere Trupps bricht an. Die steigen vorsichtig zwischen den Trümmern herum und sehen sich all das angelegentlich an. In ihren Gesichtern steht ein ängstlich erregtes Sich­verwundern. Immer in Erwartung von etwas Gräßlichem, der zugleich eine dunkle, lüsterne Begierde anhaftet, durchsuchen sie die Fahr­zeuge. Auch tragen sie dies und das mit sich, Werkzeuge und diverse Geräte. Sie montieren Reifen an die Fahrzeuge, ganze Räder und Achsen, setzen Motore instand, komplettieren Ar­maturen, bauen optische Anlagen in die Panzer ein, tragen, jeder nach seinem Ermessen, ein Scherflein zur Wiederherstel­lung der verlassenen Maschi­nerie bei, vergessen auch nicht, ihr Werkzeug in den dafür vorgesehenen Behältern an den Fahr­zeugen zurückzulassen. In stummer Erwartung unter den Kie­fern­kusseln lauert das leblose Eisen.
Da geht es wieder organisiert zu. Truppen erscheinen und stapeln Munition oftmals dicht neben den schwarzen Brand­flächen, legen auch sorgsam Blindgänger aus. Einer der Ihren bestückt die schweren Granaten an Ort und Stelle mit den empfindlichen Zündern, während die anderen sich in achtbarer Entfernung halten, darauf bedacht, daß auch keine Zivilperso­nen sich nähern. Im Vorübergehen wird herumliegendes Schnell­feuergerät rasch noch mit Patronengurten versorgt. Da nun dies alles vollbracht ist, wird eine Tafel am Wege entfernt, auf der geschrieben steht: Vorsicht, Lebensgefahr! Dann ziehen sie ab.
Und immer noch ist Besuchszeit, Zeit des Umherstreifens zwi­schen den halbgaren Trümmern, Zeit des gruseligen Staunens und fassungslosen Augenaufreißens. Immer wieder treten Ein­zel­personen auf den Plan, stolpern über die gilbenden Reiser, schauen nach, ob nicht hier und da etwas zu vervollständigen wäre aus privaten Beständen, die vorsorglich mitgebracht wur­den.
Das Wild meidet die Stätte nun.
Dafür tauchen Kinder auf. Hellwach, teils dreist, teils ängst­lich durchstreifen sie das Gelände. Ihnen obliegt es, den Geister­aufzug aus ihren kleinen Hosentaschen und Umhängebeuteln zu komplettieren. Oftmals verstohlen, damit es die Freunde nicht merken, denn alleine kommen sie nie, öfters aber mit Triumphgeschrei verstecken sie Pistolen und bunte Signal­munition in den verborgensten Winkeln. Auch Zigaretten, Kommiß­brot, Konserven schleppen sie herbei und verstauen diese Schätze in allen möglichen und unmöglichen Verstecken. Der Gespenster­wald ist zu einem halbhohen stichligen Dickicht geworden. Gelblich würden die frischen Wunden anstelle der Triebspitzen in den Himmel leuchten, wären nicht Moospolster, höchstwahrscheinlich von Hand, auf die verräterischen, tränen­den, Wunden gedrückt worden. Und die Kinder durchstreifen mit Luchsaugen das Gesträuch: Sie mühen sich, redlich, denn noch immer ist hier und da eine Kleinigkeit her­zu­richten. Und sie stülpen sich auch die schweren Helme über die Köpfchen, probieren gegeneinander deren Festigkeit, lassen Gewehr­schlös­ser schnappen, hantieren mit Handgranaten.. Wie im Traume bewegen sie sich. So interessant und so reichhaltig war die Welt für sie noch nie.
Das Klöppeln, es ist mehr ein Klappern, wird vernehmbarer, Das Wetter ist wunderbar. Blau strahlt der Himmel. Ein Früh­sommer ist das! Und das Uhrwerk schnurrt. Die brandigen Flächen auf dem Waldboden nehmen eine charakteristisch bei­ßende Ausdünstung an. Von Tannen­duft keine Spur. Eher streicht schon dumpf süsslicher Geruch wie Vor­ahnung über den Boden. Der liegt nun bloss. Der allerletzte Bodensatz setzt sich nicht mehr zu abgestorbenem Reisig zusammen, son­dern höchstens zu anderen Dingen, ganz im geheimen. Und die Kinder, ja die Kinder haben schärfere Augen als die gro­ßen erwachsenen Menschen. Auch kriechen sie mühelos in die allergeheimsten Winkel. Und der unfreiwillige Lauscher, der ja immer noch da ist, weil hier hereingeraten, um die Mittags­zeit, seitdem völlig umfangen, hört dann ein helles Kinder­stimmchen. Das schreit: Hier liegt noch einer! Und dann kom­men sie alle rückwärts aus dem Gebüsch, nur ein ganz klein wenig betreten. Sie verlassen den Wald und kommen nicht wieder. Statt der Bussarde kreisen Flugzeuge. Aber die Piloten dort oben sehen kein Kraftwerk jenseits des Spreewaldes und keine Überlandleitung hier neben­an vorüberführen, wiewohl doch überall Hochspannung zu spüren ist, auch keine ganz neue Stadt zwischen Frankfurt an der Oder und Guben. Sie sehen überhaupt keine ganze Stadt, geschweige eine neue. Alles Men­schenwerk ist spürbar heruntergewirtschaftet und blüht am modernsten noch in den lädierten buntscheckigen Stahlkarossen und anderem ungebräuchlichen unzivilen Geräte aus. Es wäre vielleicht ein Jammer, das in seiner ganzen Menge zu sehen, deckte nicht manches der schattige Wald. Dessen Stämmchen sind mittlerweile so jung und verwundbar geworden, daß der zartblätterige Bast an sehr vielen Stellen aufschwärt, und honig­farbene harzige Blessuren erscheinen, darinnen bräunliche Fremdkörper stecken. So. Und nun ist alles bereit, von der Zeit auf jenen Zustand gebracht, der nach beiden Richtungen hin, vor und zurück, die ungeahntesten Möglichkeiten bietet. Die Atmosphäre knistert vor Spannung, die also nicht, in starken Kabeln geführt, nutzbar dahinleitet, sondern vielmehr ein Ge­witter auflädt. Die vielen Trichter im Boden leuchten strand­hell. Auf ihrem kegelspitzigen Grunde und den aufgeworfenen Ringwällen liegt kein Blättchen, sprießt kein Hälmchen, krab­belt kein Kerf. Sand rieselt leis in die Trichterenge hinab. Sand.
Das Gewitter naht. Aus nordnordwestlicher Richtung. Es ist fünf Minuten vor eins. Die Mittagsstunde geht zu Ende. Aber die Dinge sind in Fluß. Das Klappern wird zum fernen mah­lenden Knattern. Der Boden erzittert. Schwere Kolonnen dröhnen am Dickicht vorüber. Fahrende Artillerie. Allgemeine Richtung des Stellungswechsels könnte das Rinder­stall­kombi­nat der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft von Alt Zauche sein - wenn es das gäbe, jetzt. Aus den brandigen Flächen neben den Munitionsstapeln zucken Flämmchen. Schüsse peitschen bedenklich nahe. Die Flämmchen lecken an den jun­gen Stämmchen empor. Die schmoren und zischen und löschen das magere Feuer mit ihrem eigenen Saft. Träger tragen auf Bahren stöhnende, in durch­blutetes Mull gewickelte Bündel herbei, in den Wald hinein, und kehren erleichtert zurück. Rus­sische Soldaten tauchen aus dem Gebüsch, aus nördlicher Rich­tung, durchstreifen, rückwärts springend, pirschend das Gehölz. Dessen forstwirtschaftlich exakte Bezeichnung ist "Schonung". Die Soldaten benutzen die buntscheckigen und zerkörnert her­um­stehenden Fahrzeuge, aus denen stinkende Flammen schla­gen, als Deckung. Sie achten der Flammen kaum. Sie gehen durchs Feuer, Deckung um Deckung, immer zurück und spähen voraus. Dazu schlagen sie ihre Waffen an und fangen mit be­merkenswertem Geschick in den engen Mündungen ganze Kugelserien ein. Schritt nach Schritt, Sprung hinter Sprung geben sie die Schonung frei. Einfach ist das nicht. Sie ducken sich in jeden Trichter, keuchen. Dann kommt der Augenblick, wo sie mit lautem "Urrraa !" im geschlossenen Sprung die Scho­nung gemeinsam verlassen. Und fehlt ihrer keiner. Einer liegt da, das Gesicht im Sand, wie für alle Zeiten. Aber die Scho­nung muß, freigegeben werden, denn das Spinnrad schnurrt ja noch immer. Da erhebt er sich denn, ein junger Soldat, wider­strebend, mit schwebender Bewegung, in ganzer schrauben­förmiger Drehung, wobei er die Waffe nicht aus der Hand läßt. Ein Feuerstrahl fährt aus seiner Brust. Nun erst ruft er "Urraa!" und rast mit den anderen zurück. Der Leuchtspur­strahl aus seiner Brust schlägt knallend in die Gewehrmündung eines graugrünen Landsers, der zögernd mit anderen aus nörd­licher Richtung herankommt. Das muß eben alles, alles zurück­genommen werden, bis auf die letzte Patrone, hier, fünf Minu­ten vor dem Glockenschlag.
Und die Netzhaut des menschlichen Auges hat eben nur diesen einen kleinen Punkt des schärfsten Sehens. Worauf soll der nun zuerst gerichtet werden? Der zufällig und zur Unzeit hier hereingeratene Beobachter muß ohnehin sehen, wo er bleibt, und dabei recht acht­geben, mit wem sein Herz schlägt. Nicht immer passiert dort, wo es am lautesten hergeht, auch das We­sentlichste. Das Ohr ist deshalb dem Auge hier ein untauglicher Ratgeber. Da geht zum Beispiel am Rande des Geschehens, genau dort, von wo der letzte Kinderschrei verkün­dete, daß da noch einer läge, ein schwacher Knall im Kampflärm unter. Und schon zieht ein buntscheckig gekleideter Offizier, zackige Runen am Helm, ein blondes, schmächtiges graugrünes Bürschelchen aus jenem Gebüsch. Er hat es am Kragen gepackt, mit einer Faust, und in der anderen Faust blinkt seine Pistole. So kom­men die beiden aus dem sticheligen Gefichtel, Nun läßt er das Bürschchen los. Das rennt sogleich, ohne Waffe und Helm übrigens, ganz im Gegensatz zu den anderen Graugrünen, rück­wärts, wo soeben die erdbraunen Soldaten mit "Urraal" die Schonung freigeben. Das vollzieht sich zwei Minuten vor der große Stille, die eintreten muß, sobald diese ungemütliche Stunde vorüber ist. Da beginnt der blanke märkische Sand zu bluten. Die entblößte Mutter Erde bricht Blut, das Letzte also, was von ihr kommt, nicht rückgabepflichtig, zumindest nicht auf Wurzelwegen an sie selbst. Manche Fahrzeuge, auf denen zuvor schwärzliche Asche gelegen, beginnen zu brennen. Aus den Flammen zeichnen sich glutende Reisig­gerippe ab. Grüne Baumspitzen, andernorts, wie wir wissen, durch moosige Tarn­kappen ersetzt, erstehen wie Phönix, während die Flammen und Flämmchen durch Luken und Ritzen in die Wagen krie­chen. Aus dem Sand schießt also Blut, zurück in gewaltsam er­öffnete Gefäße, die sich dann gleich schließen werden und so fort. Die Natur unseres Auges kommt uns hier gnädig zu Hilfe. Es kann einfach nicht alles zugleich fassen. Auch wäre ein längeres Hinsehen nach Einzel­heiten nicht zu ertragen. Der Blick hetzt umher, findet nirgends ein weiliges Plätzchen. Und da nun die Erde ihr Letztes hergegeben hat, so will ihr die Atmosphäre nicht nachstehen. Aufgeladen ist sie ja sattsam, und sinnvolle künstliche Energiefortleitungen sind nicht vor­handen. Da krampft sie sich zusammen, verdichtet sich zu Schwaden, zu Rauch­pilzen, zu Feuerkeilen, die trichterför­mig in die Erde rammen und aus zersiebten Fahrzeugflan­ken, aus gespickten Kieferstämmen, auch aus höheren organi­schen Substanzen, mit gewaltiger Kraft Unmengen Splitter an sich ziehen. Die Splitter bilden um die Feuerkerne auf dem Trichterboden stahlschwere Mäntel - vermutlich, denn schon fahren drehrunde konische Stahlspindeln aus der Erde und verschwinden, mit Sprengstoff, sogenanntem herkömmlichem, ausgegossen, unter Geheul auf ballistischer Bahn in südliche Richtung. Sand fegt in die Trichter, davon zuvor im Umkreis von fünfzig Schritten über sechzig gezählt worden sind, und füllt sie ganz.
Nun erst, mit dem Ausbruch blauheißer Splitter und gelber Explosionen aus ihrem Rümpfen sind die buntscheckigen Fahr­zeuge gebrauchs­fertig. Ihre Luken öffnen sich. Besorgte Augen spähen umher, heil stehen alle, die das Gehölz, vielmehr die Schonung eingenommen haben, von der Erde auf. Sie lauschen. Ihre Gesichter entspannen sich. Es ist ganz still geworden. Der schmächtige graugrüne Junglandser, der von seinem Führer weg rücklings in die vorderste Reihe der Gehölz­einnehmer gerannt ist, nach Zurücknahme einiger Formalitäten unter vier Augen, faßt wieder Hoffnung. Auch schieben sich aus, nördlicher Rich­tung noch ein paar kleinere Fahrzeuge (rückwärts) herein. Sie sehen aus wie Weihnachts­baum­transporter, so dicht sind sie mit abge­hackten Baumspitzen besteckt. Heraus springen bunt­scheckige Befehls­haber und richten mit umfassenden Gesten einen Befehlsstand ein, mitten im Gespensterwald.
Das Kriegsgeschrei ist längst verhallt. Es gibt keine Hoch­spannungs­leitung, weil es keinen Gedanken an eine neue Petrol­chemie weiter nördlich, keine Eisenhüttenstadt, überhaupt keine Ahnung von fried­lichen Energieverbrauchern gibt, weswegen auch kein Spreewald­kraft­werk vorhanden ist. Es gibt im wei­testen Umkreis eigentlich nichts, was imponieren könnte, nicht einmal einen genossenschaftlichen Rinderstall, hier ganz in der Nähe. Dafür wird im Epizentrum des Gespensterwaldes von Alt Zauche schnell noch ein Befehlsstand eingerichtet, sicherlich nur ein ganz kleiner, vielleicht nur ein Bataillonsgefechtsstand, Aber da schlägt es endlich dreizehn.
Zum Glück. Wer weiß, was noch alles gekommen wäre. Die Mittag­stunde ist vorüber. Hoch in die Atmosphäre sticht kome­tengleich ein Schnellflugzeug. Es hat mit seinem Knall und Schall auf die Minute genau dem Zauber ein Ende gesetzt. Wenn nun aber kein Überschall­flugzeug kommt? Wenn nichts, zur rechten Zeit mit einem Knalleffekt dieses elende Gespinst zerschlägt? Was dann? Dann muss der hier trotz aller War­nung durch eigene Schuld im Mittelpunkt des Geister­waldes um die Mittagszeit Ereilte und Gefangene selbst sehen, wie er mit heiler Haut davonkommt. Dann muß er mit diesem Spuk selber fertig werden, am besten, indem er sich weiter ausmalt, was nun noch kommen müsste, nachdem die Schonung von den erdfarbenen Soldaten freigegeben worden ist. Da sammeln sich also die graugrünen Truppen weiter. Immer mehr bunt­scheckige Führer kommen daher. Sie weisen die Landser ein. Sie weisen nach Süden, Westen, Norden, vor allem aber nach Osten. Die Landser werden kühner. Sie entfernen behutsam die Moospölsterchen von den Kopfstellen jener der Schonung be­dürftigen jungen Bäumchen und fügen die abgehackten Baum­spitzen mit wenigen Artschlägen wieder auf die Stämmchen. Unversehrt wachsen die jungen Kiefern nun in den märkischen Himmel. Die Truppen aber ziehen nach Osten weiter. Und dann wird er schon wieder zu sich kommen, der allzusehr in Bann Geschlagene, es könnte nämlich sein, er sieht sich mit­marschieren, sofern er der betroffenen Generation angehört. Und das, was dann kommt, wird er bestimmt nicht noch ein­mal erleben wollen. Für den Jüngeren aber wäre es ein Marsch ins Leere, Erinnerungslose. Dann schon lieber erwachen. Darum nur keine Angst. Es trägt ein jeder den zuverlässigen Wecker für die Rückkehr aus dem Gestern ins Heute selbst in sich. Und dieses Waldstück darf stehenbleiben, in seiner ganzen unschul­digen, sprechenden Verstüm­melung als lebendiges Mahnmal für uns alle.
1971


aus: Die Rettung des Saragossameeres - Märchen
herausgegeben von
Joachim Walther und Manfred Wolter
Buchverlag Der Morgen Berlin 1976

zur Seite "Werke und Texte"