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Erich Köhler
Erzählungen und Buchauszüge
Erich Köhler ca. 1990

 

Buch-Einband

Sätze
über einen von vielen, einen von, einen unter, durch, mit und für uns.

abgedruckt in:

Im Spiegel dein Gesicht
Vierzehn Nachfragen
Rostock Hinstorff Verlag 1971

Nicht irgendwo, sondern in einer Nummer (neun) der Neuen Berliner Illustrierten aus dem Jahre neunzehn­hundert­sechsund­sechzig, damals bereits koloriert, steht ein interessanter Satz von »Philosophen im Dril­lichzeuge, bezogen auf zweitausend junge Arbeiter, weltanschauliche Grund­fragen behandelnd, indem sie anstelle der Trümmerstätte einer im Krieg zerstörten Siemens-Strombude das neue Kraftwerk errichteten, Trattendorf.

Das auf sowjetischen Befehl bereits am 12. Mai 1945 wieder in Betrieb genommene Kraft­werk Trattendorf wurde 1954/59 als er­stes Groß­kraft­werk des Bezir­kes Cottbus und als zentrales Jugend­objekt aus­gebaut. Der VEB Jugend­kraft­werk »Artur Becker« (Be­triebs­museum) war zunächst mit seiner 450-MW-Leis­tung das größte und modern­ste Kraft­werk der DDR, ein Eck­pfeiler des Kohle- und Energie­programms (März 1957), ist aber seit den 60er Jahren von den Ener­gie­riesen in Lübbenau-Vetschau und Box­berg über­flügelt worden.
(Historischer Führer Urania-Verlag Leipzig 1982)

Den Journalisten empfing er bereits als Werkdirek­tor des VEB Kraftwerke Trattendorf, schränkte aber ein, er habe seinerzeit als Schlosser - denn dieses De­tail fand der Bericht­erstatter besonders attraktiv - nicht einfach die Putz­wolle aus der Hand gelegt, um sich hinter einen Schreibtisch zu klemmen; dazu habe es mannigfacher Einsichten bedurft, denen Grund­erlebnisse voraus­gegangen waren, wie sie im Grunde jeder volljährige Bürger der DDR kennt.

Erzählten wir an dieser Stelle seinen Lebenslauf, so stellte sich uns ein fast allzu musterhaftes Beispiel an­gewandter Erkenntnistheorie dar, denn angefangen bei der Wahr­nehmung (einer offenbar höchst unvollkom­menen Umwelt) über das Bewußtsein (der gesell­schaftlichen Problemsituation) und die Parteinahme (für den als richtig erkannten Lösungsweg), und zwar abhängig von seinem persönlichen, intellektuellen und klassenbedingten Verhältnis zur Wirklichkeit, weiter über die Einordnung (ins zweckbestimmte System, nach dem Maße seiner Fähigkeiten) bis hin zur befrei­enden Praxis (die ihn, nunmehr Werkdirektor, vor eine Reihe neuer Probleme stellte) ließen sich alle Stationen dieses Fortschreitens hübsch nacheinander nachweisen.

Nur einen Aspekt, der Wahrnehmung zugeordnet, suchten wir dabei vergeblich: die Betrachtung.

Der NBI-Reporter spielte bereits damals darauf an und nannte es ahnungsvoll die große, die bohrende und zugleich beschwichtigend die letzte Frage: »Ist da nicht manchmal ein großes Wundern, über sich selbst, so in der Rückschau?«

Die Antwort darauf steht vorweggenommen, wäre in zwei Worten gesagt und ist unschwer zu erraten. Einzelheiten eines solchen Lebenslaufes, nicht daß sie austauschbar wären, dürfen wir uns desto eher sparen, als auch er sich nicht gern wiederholt und noch weni­ger gern damit paradieren möchte, sondern der Mei­nung ist, daß es jedem selbst überlassen bleiben muß, Grundbegriffe der Erkenntnis und des Lebens stets aus eigener Begegnung mit Sinn zu erfüllen.

Nun könnte aber jene selbstgewählte Metaphrase von der Putzwolle das Bild eines Veteranen heraufbe­schwören, dabei war er Jugendfunktionär, als er vor­erwähnten zweitausend angehörte, und hatte - ein­schließlich eines Landes­jugend­schul­lehrganges, einiger zehntausend Gleichschritte in der blauen Kolonne der Jugend - außer der Schule des kollektiven Frierens und Magenknurrens und Volksbegehrens von Anno fünfundvierzig bis neunundvierzig noch keine gelehr­teren Mittel aufzubringen als offene Augen und ein parteiliches Herz.

Als die Sozialistische Einheitspartei dann aber zur Lösung der genannten Grundfragen aufrief, konnte er mit der Summe aller seiner Mittel doch einen be­trächtlichen Beitrag dazu leisten, daß in knapp neun Monaten Bauzeit der erste Dampferzeuger in Betrieb genommen wurde; ein besserer Würstchenkessel üb­rigens, vom Standpunkt eines jeden selbstbewußten Kraft­werkers in Lübbenau, wo er heute Werkdirek­tor ist und vierundzwanzig Prozent des gesamten Elektro­energie­aufkommens unserer DDR, nunmehr einer der zehn führenden Industriestaaten der Welt, repräsentiert.

Großkraftwerk Lübbenau - Vetschau 1980

Wer? Nun, Albert Dieter.

Seit Ausbringung jener leicht patinierenden Putzwol­lenmetapher sind kaum vier Jahre vergangen, und von Vollendung ist er noch ebenso weit entfernt wie alle, die wir sie uns erträumen und erstreben.

Das DDR-Kohle- und -Energieprogramm vom März 1957 wurde vor allem mit dem Wiederaufbau des Großkraftwerkes Tratten­dorf (Spremberg, Nennleistung: 450 MW) und dem Aufbau der ersten Elektroenergie­giganten der DDR, der Großkraftwerke Lübbenau (1957/64, Nennleistung: 1300 MW) und Vet­schau (1960/67, Nennleistung: 1200 MW), beide 1968 zum VEB Kraftwerke Lübbenau-Vetschau vereinigt, verwirklicht. Für die bei­den Werke wurden die Braunkohlen-Tage­baue Schlabendorf-Nord (1959/6 1), Seese (1962/64) und Schlabendorf-Süd durch den VEB Braunkohlenwerk »Jugend« Lübbenau aufge­schlossen.
(Historischer Führer Urania-Verlag Leipzig 1982)

Hier wäre nun einzusetzen, wäre, statt Biographie, die Frage von damals, jene große, bohrende, angeblich letzte Frage nach der Draufsicht, Übersicht, nach be­trachtender Zusammen­fassung, ohne die jede Wahr­nehmung letzten Endes unvollkommen und jede Tat im Grunde für den Akteur sinnlos wird, wieder auf die Tagesordnung zu heben.

Aber dürfen wir denn überhaupt?

Legierung der Substanzen Schlosser, Jugendfunktio­när, Philosoph der Tat, Familienvater, Ingenieur, Eigenleben, letzteres vielleicht nur noch als Spuren­element (Haben Sie ein Hobby?) vorhanden, über der Flamme Zeit als heißestem Begriff und nach den Ge­setzen der Notwendigkeit verschmolzen, darf man diesen wertvollen Stoff ohne Laborversuch, denn einen solchen gibt es hierbei nicht, mit Fragen nach Besinnung ätzen?

In seinem Rücken, das sei nur recht vergegenwärtigt, wenn er hier vor uns ersteht, tosen achtundzwanzig Kraftwerkseinheiten, Blöcke, davon jeder einzelne ein Vielfaches jener ersten Turbine von Trattendorf be­deutet und für deren konstante Leistungs­abgabe er uns verantwortlich ist.

Auch ist er durchaus ein Gesteuerter, wenn wir unter Steuern Stelleingriffe ohne direkte Rück­koppelungs­möglichkeiten verstehen wollen, denn jeder Bürger, der zu Hause oder im Betrieb einen elektrischen Ar­beits­widerstand einschaltet, was unter den Bedingun­gen der wissenschaftlich-technischen Revolution so selten nicht vorkommen soll, stellt eine gesellschaft­liche Anforderung gleichsam per Draht an ihn.

Die Summe aller energetischen Anforderungen ballt sich zur Führungs­konzeption der VVB Kraftwerke für ihre Werk­direktoren, und sie lautet konkret für die­sen Fall: Sicherung einer stabilen Grundlast­fahrweise laut Plan mit minimalstem gesellschaftlichem Auf­wand.

An der Klärung von Grundfragen des Lebens wird weiter gearbeitet, nicht mehr mit Hacke und Spaten, sondern mit Maschinen, immer größeren, stärkeren, kraftbedürftigeren, für deren Einsatz er die energe­tische Grundlast tragen muß.

Wer versichert uns aber, daß durch unsere Frage nicht irgendeine Schutzschicht weggeätzt wird und daß er sich danach - da doch das Drillichzeug nun mal heute gleichfalls metaphorisch geworden so wie eh die Putz­wolle -, nach allem Sturm und Drang seiner Aufbau­jahre, vielleicht nur noch als Grundlast -, also Bürdenträger der ständig und planmäßig erweiterten Produktion empfindet?

Ist es denn Leitern, Organisatoren, Verantwortlichen überhaupt möglich, Sinn fürs gedanklich Reflexive zu erübrigen, oder bleibt diese der Beschaulichkeit ver­dächtige Spezialstrecke arbeitsteilig anderen zur Übung überlassen, Berichterstattern, Schreibern aller Art, weniger grundbelasteten Leuten?

Schweifen wir doch lieber ab.

Mit dem Energieaufwand von einem Watt können Sie, so hat man überschlagen, eine Tasse Kaffee oder ein Glas Wein, roten oder weißen, vom Tisch zum Munde führen.

Als nun vor nur ganz wenigen Jahren es schien, als wäre mit dem Probelauf der ersten Trattendorfer Ma­schine Grundlegendes geschaffen, da wollten sich einige erklärte Freunde, abendländisch überlegen, einlachen über die fünfundzwanzig Millionen Tas­senhübe pro Sekunde, wobei sie einiges außer acht ließen, Wesentliches der Wahrnehmung, eben die Be­trachtung, obwohl sie dafür genügend Zeit gehabt hätten.

Mittlerweile ist das Gelächter von dort versackt. 100-MW-Turbinen aus der volkseigenen Produktion schöpfen dampfstöhnend die Kraft des Erdmagnetis­mus und spannen damit Energien in der Form von Kilovolten mal Ampere gegen alle Widerstände auf unserem erklärten Weg.

Die Fundamente für die dritte Maschinengeneration mit 500-MW-Generatoren werden bereits gestampft, und statt der überheblichen Variante wahrnehmungs­armer Sinnesblödheit trägt uns der Westwind Ver­leumdungsruch daher.

Es ist nun einmal so, daß halt der Mensch als solcher wahrnehmend nicht nur sieht, sondern sich etwas an­schaut, daß er nicht bloß hört, sondern auch zuhört, herhört auf das, was wir zu sagen haben, daß er auf­merksam den bisher nie vernommenen Tönen, etwa Lenins These vom Kommunismus oder dem Singen volkseigener Turbinen, lauscht, daß er eine Tätig­keit der Sinne ausübt, die darauf gerichtet ist, sich ein wahres Bild von der wandelbaren Umwelt zu ma­chen; und wer das nicht tut, aus Arroganz, aus Gnatz, aus Angst (das gibt's ja auch), verpaßt den Anschluß, der wird dem neuen Bild der Welt gegenüberstehen mit dem Begriffsvermögen eines hochentwickelten Primaten aus dem Tierreich, höchstens.

Nun aber wagen wir die Gretchenfrage »Wie hältst du's mit der Betrachtung«? erst recht noch nicht zu stellen, wegen der Zwei-Worte-Antwort, die wir be­fürchten und deren Ursache vielleicht ebenso ein­schränkend auf die Wahrnehmung wirken könnte, und gehen deshalb lieber noch ein bißchen um den heißen Brei.

Denn siehe, Wärmekraftwerke sind bei uns trotz ih­rer komplizierten und aufwendigen Technik schneller gewachsen als die dafür benötigten Kraftwerker. Alle bisher bekannt gewordenen Aktivitäten sagen über die Leistungen der Bauleute, Monteure, Kon­strukteure und Organisatoren aus, aber kein einziger Wartungsmaschinist, Reparaturschlosser, Meß- und Regeltechniker, Dispatcher, Ökonom, Abteilungslei­ter, Werkdirektor lag solange typenzettelfertig auf Abruf im Regal, und keiner legte, wie gehabt, besag­tes grobe Handpflegemittel beiseite, um sich hinter ein Steuerpult oder an den Elektronenrechner zu setzen.

Die Belastungsganglinie der eben in Betrieb genom­menen Anlagen und der Bildungsgang derer, die da­mit umgehen sollten, die ungewohnte Arbeit mit nie zuvor gekannten Maßstäben und Parametern und zu­gleich die höchsten Anforderungen aus der Republik, das alles stand eher zueinander im Gegensatz als in einem günstigen, um nicht zu sagen optimalen Ver­hältnis. Bald bekamen sie als Anfänger statt Blumen harte Kritik verpaßt; es fiel das Wort vom großen neuen Großkraftwerk als Hemmnis und von den Kraft­werkern als unsicheren Partnern der Volkswirtschaft. So wurde, beinahe über Nacht, die ganze Republik zur Bühne für die Faust- und Erdgeistszene: »Hab ich die Kraft, dich anzuziehn, besessen ... «

Der Westwind trieb die Sporen her, vom dort ge­platzten Stinkbovist, und 's lispelte mephistophelisch: Ranklotzen, grobe Arbeit schuften, mehr können die nicht; aufrichten, gut, aber nicht aufrechterhalten, schon gar nicht jenen komplizierten spannungsvollen Energiezustand heraufbeschworener Erdgeistkräfte, und wenn das Volk dort drüben überhaupt etwas zu­stande brachte, dann nur der SED zum Trotz.

Doch unbeirrt von solchem schweflichten Geschwa­fel übten die Genossen auf ihrem siebenten Parteitag erst einmal Kritik an der Energiewirtschaft und lei­teten dann den Kampf um die Stabilisierung der Kraftwerke ein.

Die Betriebsparteiorganisation in Lübbenau wandte sich in einem offenen Brief an die Kraftwerker mit der Losung: »Bei uns gilt das Wort der Arbeiter!« Genosse Albert Dieter, dem die Funktion des Werk­direktors übertragen wurde, hat seither auf weiter nichts zu achten, als darauf, daß neben den umfang­reichen Instandhaltungsaufgaben, neben der Erpro­bung eines neuen ökonomischen Modells der Planung und Leitung, neben dem Ingenieurprojekt »Planmäßig vorbeugende Instandhaltung«, neben den Forschungs- und Entwicklungs­themen der ständigen sozialistischen Rationalisierung und der Kaderausbildung für den ge­samten Bereich volkseigener Kraftwerke, neben dem großangelegten technischen Stabilisierungsprogramm - alles Forderungen der Arbeiter - der Produktions­plan erfüllt wird.

Welche Mittel stehen ihm für diese neuen Aufgaben heute zu Gebot?

Betrachtungsweisen, auf die wir so erpicht sind?

Kaum. Man hat als hervorragendes Stabselement ein Organisations- und Rechenzentrum mit modernen elektronischen Einrichtungen und hochqualifizierten Fachkräften zur Seite.

Man operiert in AK (Arbeitskräften) und hat es dabei mit lebendigen Menschen zu tun. Die haben es zwar fertiggebracht, als Antwort auf den offenen Brief der Parteileitung, die Stillstandszeiten bei Generalrepara­turen innerhalb Jahresfrist von achtundvierzig auf fünfunddreißig Tage zu verkürzen, doch eine jede AK hat ihr eigenes Gesicht, ihr eigenes Leben, das ge­schätzt, geachtet und umsorgt werden will, hat ihrer­seits ständig steigende Bedürfnisse und kann nicht allein als abstrakte Potenz betrachtet werden.

Man stützt sich vor allem auf jene, die sich ihrer Rolle als Produktivkraft und progressiver Faktor so bewußt geworden sind, daß sie, zur Partei vereint, die Rich­tung und das Tempo bestimmen.

Und schließlich hat man doch die eigene AK, nur mit dem Unterschied, daß kaum jemand für deren Erhal­tung und erweiterte Reproduktion besondere Bedin­gungen voraussetzt oder gar Schwierigkeiten in Be­tracht zieht.

Was ermutigt uns denn nun immer noch, dieses Ob­jekt im Sinne der Betrachtung nach der bewußten, sattsam umschriebenen und als weich, wund, wenn auch vielleicht verhärtet angenommenen Stelle fra­gend abzutasten?

Wir kennen, dank NBI, das Bild eines starkknochigen jungen Mannes in vertrauenerweckender Nachkriegs­magerkeit, der einen Niethammer handhabt und die Ohren steifhält. Sämtliche Proportionen in bezug auf letztere haben sich inzwischen zugunsten der Stirn und der Schulterbreite entwickelt.

Wir können übrigens, hier nicht und nirgendwo sonst, dem seligen Johann Kaspar Lavater den Rang ablau­fen wollen, und nach Schiller ist es ohnehin der Geist, der sich den Körper schafft. So viel dürfte höchstens gelten bleiben, daß Physiognomien mit dem Maße tätig ausgeübter Menschlichkeit, wozu denn doch in jedem Falle ein grundlastfester Charakter gehört, nur immer ausdrucksvoller werden, die Augen dunkler, die Stirn höher, breiter, Falten, so sich kerben, wenn­schon tiefer oder mitunter steiler, niemals aber härter, gar verbissen wirken werden und sich ohnehin mehr um die äußeren Augenwinkel sammeln.

Der Schnitt des Mundes, diese leicht verkürzte, emp­findsam bis empfindlich unsymmetrisch aufgezogene Oberlippe, warnt vor allzu neugierigem Zudringen auf bestimmte Weise, was bereits der vorige Reporter verstanden haben muß.

Indes, was hilft's, wir kennen aus der Mythologie die Fabel, wie Herakles dem Schicksal ewigen Globus-Tragen-Müssens durch die List entkam, daß er Atlas­sen um die Gunst bat, sich die Stirn mit Stricken umwinden zu dürfen, damit ihm nicht vor Last die Schädelnähte platzten, und wie er statt dessen, wäh­rend Atlas noch den Globus unterstützte, Reißaus nahm, und da wollen wir halt wissen: Ist einer, tra­gend, Atlas ohne oder Herakles mit Stirnreif?

Zu diesem Zwecke haben wir unsere Neugier gleich gebunden und geheftet und mit dem Anspruch auf belletristische Gehobenheit in einem Verfahren an den Mann gebracht, das, obschon nicht eben fein, den Vorteil hat, daß er nicht umhin kann, des breiteren sich herbeizulassen, denn seht, ihr Hosenlacher, wir als weniger belastete Systempoeten verlangen von unseren Werkdirektoren nicht bloß ökonomische Ge­winne, sondern daß sie auch noch unsere Werke schreiben helfen.

Freilich ward unsere höhere Schrift nur »aus reiner Disziplin« studiert, wie er zu Anfang unseres Werks­gespräches rundheraus versichert, und nur aus diesem Grundmotiv begibt sich der Wirtschaftsfunktionär auf das künstlich unterkühlte Glatteis der Ästhetik, ver­kündet in der literarischen Runde aber bald sein Wohlbefinden, was uns insgeheim und boshaft Goe­thes Fliegentodparabel in Erinnerung bringt:

»Sie saugt mit Gier (hier Disziplin) verrät'risches Getränke,
unabgesetzt, vom ersten Zug verführt;
sie fühlt sich wohl, und längst sind die Gelenke
der zarten Beinchen schon paralysiert.«

Indes, man geht sofort zum Angriff über: »Als Werk­direktor ist es meine Pflicht, dafür zu sorgen, daß durch richtige Leitungsmethoden alles aus dem Weg geräumt wird, was uns an der maximalen Kraftent­faltung hemmt. Danach schätze ich die Kunst und auch den Autor ein. Die Geschichte, die mir da vor­gelegt wurde, wird mir nicht griffig. Was soll die intellektualisierende Spinnerei beim Tauchen im kühlen Grubensee? Was soll die brechende Elefan­tenherde?« ( - in einer Erzählung aus dem Kraft­werkmilieu, so fügen wir im stillen hinzu - ) »Was soll die Leiche im Glaskasten?« (Es war nur eine Schaufensterpuppe, vom Autor ganz mit Vorbedacht als Sinnbild gegenständlicher Betrachtung sprach­gewandt in eine städtische Schauvitrine hineinspekta­kuliert, was man auch wohl begriffen hat, warum sonst, und nicht weniger boshaft, »Leiche«? )

Dann zitiert er »Fern von Moskau«, memoriert über das Verhältnis Mensch - Taiga, führt wieder einen Seitenblick, um nicht zu sagen -hieb, nach lebens­fremden Schreibern mit verklemmtem, weil vorwie­gend sentimentalem Naturverhältnis, geht zu »Schlacht unterwegs« über und baut sich so, anstatt sich zu verlieren, auf.

Auf alle Fälle aber ist die befürchtete Zwei-Worte-Antwort vermieden worden und gebannt, statt deren 880 Seiten Ashajew und eine Einladung, seinen, des Werkdirektors, Arbeitstag, einen ganz beliebigen, kennenzulernen, und das ist mehr, als der gerissenste Diplomat erhoffen durfte.

Ein solcher Arbeitstag beginnt spätestens um halb sieben mit dem Rapport über Zustand und Leistung aller achtundzwanzig Kraftwerksblöcke per Einzel- oder Konferenzschaltung über die Rufanlage. Knopfdruck, Knacken irgendwo in der Leitung, und der, dem es gilt, vernimmt die Stimme Zeus', womög­lich gar von unterhalb der Zimmerdecke aus dem stoffbespannten Trichter, vernimmt mit Tagesanbruch die erste, die wirklich große bohrende Frage: Wieviel MW? Ist - Soll - Abweichung, und wenn Minus, warum?

Die Informationslaute kommen je nach Gehalt opti­mistisch klar oder dumpf gequetscht durchs Mega­phon, auch ist man des Verfremdungseffektes durch das technische Mittel noch nicht gänzlich Herr ge­worden, sucht nach einem speziellen Mikrophon­deutsch, räuspert, haspelt, verspricht sich, fühlt sich irgendwie als Teil des Mechanismus, noch.

Den Beobachter wandelt Mitleid an.

Was Abteilungsleiter? Was Werkdirektor? Lebender Universalprozeßcomputer mit selbständiger Program­mierung nach Führungsgrößen, in Abhängigkeit von laufenden Dateneingaben auf die ständig unterein­ander kommunizierenden ingenieurtechnisch, finanz­ökonomisch, organisationswissenschaftlich, politisch, pädagogisch reflektierenden und nun auch noch ethisch-ästhetisch funktionieren sollenden Gehirnröh­ren.

Für heute hat sich eine Vertreterin der Industrie- und Handels-Bank angekündigt; es geht um den Zinsfuß für den nächsten Kreditfall, und man läßt sich dabei von den Direktoren für Erzeugung, für Ökonomie und vom Hauptbuchhalter sekundieren.

Die Dame, unterstellen wir, sieht sich umringt von vier rauhen, mit allen Hunden gehetzten, mit allen Salbengesalbten Burschen. Die Szene ist bühnenreif. Aus der Miniurwaldecke verstaubter Blattpflanzen­gewächse schummert Moritatensängerstimmung. Gar viel ist's nicht, was wir begreifen, nur daß der Welt in jedem dieser gegenwärtigen, auf den Perspek­tivplan orientierten Tatkraftburschen ein beachtliches Erzählertalent verlorengegangen ist.

Andächtig, fast ergriffen lauscht die kleine Blonde den eindringlichen Schilderungen vom harten Winter­kampf, von der Senkung des spezifischen Brennstoff­wärmeverbrauchs, der damit verbundenen Kohle­minderabnahme aus der Grube und den daraus resul­tierenden Vertragsschwierigkeiten mit dem Braun­kohlenwerk; vom schwer beherrschbaren Problem der Fallrohrbiegungsovalität und endlich von der Solida­rität mit anderen Betrieben der Branche.

Ihre Blauaugen schimmern. Ihr Mund ist leicht geöff­net. Doch sie hat ihre Instruktionen, erinnert sich gerade noch rechtzeitig und seufzt. So packenden Ge­schichten wie der Odyssee vom kostspieligen Trans­port eines Großtransformators auf zwanzigachsigem Spezialschnabelwagen ab Werksgelände Saporoshje durch die Sowjetunion und ganz Polen, mitten im hohen Schneewinter, nur um einem anderen Kraft­werk aus der Patsche zu helfen, hat sie nichts annä­hernd Gleichwertiges entgegenzuhalten. Vielmehr ist sie dazu verdammt, daß zwischen ihren Lippen all die lebendigen Bilder zu so abstrakten Begriffen gerinnen müssen, wie sie Verwaltungsinstitute von Volksver­mögen einmal nicht anders kennen, und so bringt sie tapfer die Rede auf Bruttoproduktion, Fondsrentabi­lität, Betriebsergebnis, Produktivitätsnachweis, Um­schlagzahl und sogar auf die Nettogewinnabführung, obwohl es ihr sichtlich leid ist, der Stunde damit ihren Glanz zu nehmen.

Es gibt, ihr Männer, im Interesse der Volkswirtschaft auch diesmal nur Kredit zu jenem erzieherisch her­aufgesetzten Zinssatz, an dem zugleich der Makel bedingter Kreditwürdigkeit haftet.

Die Oberlippe zuckt. Man ist, liebe Leute, von einer Großbaustelle zur anderen, von Aufbauschwerpunkt zu Aufbauschwerpunkt bis her zur Grundlast gezogen, hat an des Erdgeists heißer Sphäre gewissermaßen lang gesogen. Nun ist er da, der Geist, und steht zu Diensten.

Ist das der Dank?

Was bisher wohl um jeden Preis geschah,
ihn billiger zu halten, bin ich da
und scheue weder Fleiß noch Kraft.
Kennt denn die Bank noch eine Sippenhaft?

Die Finger der rechten Hand tasten über die Tisch­platte, als tupften sie Brotkrumen fort.

Und nicht der Erdgeist, nein, die Bank ist erschienen, schaut ihn sich an, unschuldig blond, aus blauen Augen, wie er da so sitzt, im weißen Rollkragenpull­over zum Jackett, und tupft: Wo bist du, Faust, des Stimme mir erklang? Und wo bleibt der kühne Satz: Geschäftiger Geist, wie nah fühl ich mich dir?

Zugleich erhellt uns dieser Augenblick: Ganz anschaulich wird der im Grunde nur durch die Pupil­len einer Frau, und das Ergebnis dürfte lauten: Mann? Nein. Großer Junge, aufgeweckte, drangvolle, sicherlich zum Teil auch bengelige, Jugendträumen nie entwachsende, immer auch und leicht verletzliche stets heilende naive Jungenseele, die nicht weiß, was über­legen abgeklärte, gesetzte, steifleinene Väterwürde ist.

Jetzt blickt er zu Boden, tupft und fühlt sich ursachlos gescholten, hat er doch die Grundlast ohne Stricke um die Stirn auf sich genommen.

Nur bedingt kreditwürdig. Ist das des schweren ein­satzfreudigen Wirkens höchstes Resultat und Ansatz für das »... große Wundern, so aus der Rückschau, über sich selbst ... «, ein blauer Blick, ein kühles Prädikat?

Wir fühlen uns versucht, Partei zu nehmen.

Sollte sich die Bank nicht manchmal überlegen, wem gegenüber und zu welcher Zeit ihr spezifisches System der materiellen Hebel erzieherisch und wann nur deprimierend wirken muß?

Doch, weiß der Teufel, wer hier recht hat, am Ende alle beide, und unsere mit leicht toxisch präparierten Instrumenten angesetzten Tiefenbohrungen nach wei­chen Stellen stoßen womöglich gerade hier auf den Granit einträchtiger Ergänzung; ist ein Prinzip ja nur so lange gut, als es anderen auch wirtschaftlich über­legen, und ein Charakter nur so lange fest, als er sich auch den ökonomischen Kriterien des Vergleiches unterwirft.

Der Tagesarbeitsplan liegt günstig, denn es folgt nun eine Leitungssitzung der Betriebsparteiorganisation. Hier kann man das soeben Durchgemachte in größere Zusammenhänge bringen. Das Neueste: man hat den Kanzler jenes anderen Prinzips, des Geistes, der stets verneint, an den Verhandlungstisch gebracht - Genossen, nicht zuletzt mit volkseigener Energie, trotz unserer augenblicklichen Verzinsbarkeit zu fünf statt drei Prozent. Abwandelnd jenes urproletarische Sprichwort von der Stadtluft, kann man sagen: Kraft­werksluft macht durstig, aber frei. Welche Perspek­tiven öffnen sich erst im Hinblick auf die zu erklim­mende Kreditwürdigkeitshöhe!

Und das große Sich-Verwundern wird zu dem, was es seinem Wesen nach immer war und bleibt, nämlich kein Gefühl der Rückschau, sondern Bestandteil einer Gegenwartsaufgabe und des Ausblicks.

Nachher, in der Plandiskussion mit sämtlichen Direk­toren und Abteilungsleitern, da staucht man weiter an der ökonomischen Frage. »Das Mädchen von der Bank hat uns im Grunde recht human behandelt"«

Noch später, in einer Problemdiskussion, man hat in­zwischen Kadergespräche geführt, und die ersten Normalschichtler verlassen bereits das Werktor, las­sen sich Verbindungen zwischen Rationalisierung und Finanz-, besonders Prämienentwicklung vorzeichnen, da zwei Prozent mehr oder weniger abzuführende Zin­sen bei den Umlaufmitteln sich, für alle spürbar, auf den Prämienfonds auswirken, womit dann wieder die materielle Attraktivität des Kraftwerkerberufes zu­sammenhängt.

Zwischendurch, in einer Beratungspause, muß man einem Stadtrat auf die Sprünge helfen, von wegen der Zusammenarbeit mit dem Territorium: Womit in diesem merkwürdigen Frühjahr zum Ersten Mai die Straßen geschmückt werden sollen, da die Natur noch kein einziges grünes Blättchen hervorgebracht? »Haut zwanzig, dreißig Birken um, stellt sie in unsere Maschinensäle; in zwei, drei Tagen sind sie grün, und dann hinaus damit auf die Straßen.«

Aha! Wir leben nicht eben in Sibirien, doch könnten ja die Birken von den Rändern der ohnehin wälder­verschlingenden Tagebaue genommen werden. - Da­gegen zerbricht man sich anschließend über Maßnah­men gegen unzulässige Verschmutzung der Biosphäre durch allzu dicken Schornsteinqualm und wasserlös­liche Chemikalien den Kopf nicht eigentlich der schönen Natur zuliebe als vielmehr wegen der gesetz­lich angedrohten materiellen Sanktionen.

Da wir unseres gestörten, weil vorwiegend sentimen­talen Naturverhältnisses allzu unterlegener Sklave sind, suchen wir bei nächster Gelegenheit Zuflucht bei Ashajew, frischen Taigaduft aus Bücherseiten einzuschlürfen, doch es schlägt eine ganz andere Seite auf.

Wir lesen, ganz wie's kommt: »Dann ging er zu Bat­manow und berührte seine Schulter. ›Ich kann und will dich nicht trösten. Es gibt keine Worte, die dir deinen Sohn zurückgeben. Doch Anna darfst du nicht allein lassen. Sie liebt dich und muß unbedingt hierher kommen. Es ist gut, daß du den Wert der Familie stärker gespürt hast. Ich bin fest davon überzeugt, du wirst dein Lied auch noch vertonen, lieber Freund.‹« Nun gut, wir finden hier auf Anhieb keine Zusam­menhänge und wollen auf die Dauer auch keine su­chen, wenn auch der Kampf um die Treibstoffversor­gung der Sowjetarmee im sibirischen Frost so unvergleichbar nicht ist mit den Hitzeschlachten an den Kesseln eines Großkraftwerkes um jede Kilo­wattstunde zum Volkswirtschaftsplan.

Eine Prognose läßt sich dazu ruhig stellen: weder Albert Dieter noch die an seiner Seite werden ihr Lied von selbst vertonen.

Noch ist das utopische Zeitalter aber nicht herbei­gezwungen, da Energie im Überfluß vorhanden und ihre »Erzeugung« kaum mehr der Rede wert ist. Vorerst haben wir unter unseren primärenergetischen Bedingungen die unvollkommene Einrichtung höchst angestrengter, den stürmischen Bedarfszuwachs nie völlig abdeckender, aufwendiger Grundlasttragweise mit den stärksten jeweils vorhandenen Maschinen und Charakteren.

Und was ein echter Atlas ist, der hat für das große Wundern, noch dazu über sich selbst, selbst in der Vorausschau, die uns zum Schluß, wie wir es gern haben möchten, das artikulierte Pathos vom bewußten Sein liefern soll, nach wie vor, auch wenn er uns zu­liebe gerne wollen würde, KEINE ZEIT.

Denn er muß fahren, reparieren, fahren; fahren, repa­rieren, fahren bis ins Jahr 2000.

Halt! Kommt dann also auch hierzulande Wesent­liches der Wahrnehmung doch zu kurz?

Gewiß, gäb's nicht noch Höheres- die Mitteilung. Und so, in stetem Ringen um die höchste Produktion begriffen, teilt er sich in seiner ganzen unzerstörten Einheit zwischen Tun und Denken und Betrachten mit dem gesamten Kraftwerkskollektiv, durch das Betriebsergebnis, über die Energiefortleitung uns am ausdrucksvollsten mit.

Im Spiegel dein Gesicht. Vierzehn Nachfragen Rostock Hinstorff Verlag 1971

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