Sätze
über einen von vielen, einen von, einen unter, durch, mit und für uns.
abgedruckt in:
Im Spiegel dein Gesicht
Vierzehn Nachfragen
Rostock Hinstorff Verlag 1971
Nicht irgendwo, sondern in einer Nummer (neun) der Neuen Berliner Illustrierten aus dem Jahre neunzehnhundertsechsundsechzig, damals bereits koloriert, steht ein interessanter Satz von »Philosophen im Drillichzeuge, bezogen auf zweitausend junge Arbeiter, weltanschauliche Grundfragen behandelnd, indem sie anstelle der Trümmerstätte einer im Krieg zerstörten Siemens-Strombude das neue Kraftwerk errichteten, Trattendorf.
Das auf sowjetischen Befehl bereits am 12. Mai 1945 wieder in Betrieb genommene Kraftwerk Trattendorf wurde 1954/59 als erstes Großkraftwerk des Bezirkes Cottbus und als zentrales Jugendobjekt ausgebaut. Der VEB Jugendkraftwerk »Artur Becker« (Betriebsmuseum) war zunächst mit seiner 450-MW-Leistung das größte und modernste Kraftwerk der DDR, ein Eckpfeiler des Kohle- und Energieprogramms (März 1957), ist aber seit den 60er Jahren von den Energieriesen in Lübbenau-Vetschau und Boxberg überflügelt worden.
(Historischer Führer Urania-Verlag Leipzig 1982)
Den Journalisten empfing er bereits als Werkdirektor des VEB Kraftwerke Trattendorf, schränkte aber ein, er habe seinerzeit als Schlosser - denn dieses Detail fand der Berichterstatter besonders attraktiv - nicht einfach die Putzwolle aus der Hand gelegt, um sich hinter einen Schreibtisch zu klemmen; dazu habe es mannigfacher Einsichten bedurft, denen Grunderlebnisse vorausgegangen waren, wie sie im Grunde jeder volljährige Bürger der DDR kennt.
Erzählten wir an dieser Stelle seinen Lebenslauf, so stellte sich uns ein fast allzu musterhaftes Beispiel angewandter Erkenntnistheorie dar, denn angefangen bei der Wahrnehmung (einer offenbar höchst unvollkommenen Umwelt) über das Bewußtsein (der gesellschaftlichen Problemsituation) und die Parteinahme (für den als richtig erkannten Lösungsweg), und zwar abhängig von seinem persönlichen, intellektuellen und klassenbedingten Verhältnis zur Wirklichkeit, weiter über die Einordnung (ins zweckbestimmte System, nach dem Maße seiner Fähigkeiten) bis hin zur befreienden Praxis (die ihn, nunmehr Werkdirektor, vor eine Reihe neuer Probleme stellte) ließen sich alle Stationen dieses Fortschreitens hübsch nacheinander nachweisen.
Nur einen Aspekt, der Wahrnehmung zugeordnet, suchten wir dabei vergeblich: die Betrachtung.
Der NBI-Reporter spielte bereits damals darauf an und nannte es ahnungsvoll die große, die bohrende und zugleich beschwichtigend die letzte Frage: »Ist da nicht manchmal ein großes Wundern, über sich selbst, so in der Rückschau?«
Die Antwort darauf steht vorweggenommen, wäre in zwei Worten gesagt und ist unschwer zu erraten. Einzelheiten eines solchen Lebenslaufes, nicht daß sie austauschbar wären, dürfen wir uns desto eher sparen, als auch er sich nicht gern wiederholt und noch weniger gern damit paradieren möchte, sondern der Meinung ist, daß es jedem selbst überlassen bleiben muß, Grundbegriffe der Erkenntnis und des Lebens stets aus eigener Begegnung mit Sinn zu erfüllen.
Nun könnte aber jene selbstgewählte Metaphrase von der Putzwolle das Bild eines Veteranen heraufbeschwören, dabei war er Jugendfunktionär, als er vorerwähnten zweitausend angehörte, und hatte - einschließlich eines Landesjugendschullehrganges, einiger zehntausend Gleichschritte in der blauen Kolonne der Jugend - außer der Schule des kollektiven Frierens und Magenknurrens und Volksbegehrens von Anno fünfundvierzig bis neunundvierzig noch keine gelehrteren Mittel aufzubringen als offene Augen und ein parteiliches Herz.
Als die Sozialistische Einheitspartei dann aber zur Lösung der genannten Grundfragen aufrief, konnte er mit der Summe aller seiner Mittel doch einen beträchtlichen Beitrag dazu leisten, daß in knapp neun Monaten Bauzeit der erste Dampferzeuger in Betrieb genommen wurde; ein besserer Würstchenkessel übrigens, vom Standpunkt eines jeden selbstbewußten Kraftwerkers in Lübbenau, wo er heute Werkdirektor ist und vierundzwanzig Prozent des gesamten Elektroenergieaufkommens unserer DDR, nunmehr einer der zehn führenden Industriestaaten der Welt, repräsentiert.
Wer? Nun, Albert Dieter.
Seit Ausbringung jener leicht patinierenden Putzwollenmetapher sind kaum vier Jahre vergangen, und von Vollendung ist er noch ebenso weit entfernt wie alle, die wir sie uns erträumen und erstreben.
Das DDR-Kohle- und -Energieprogramm vom März 1957 wurde vor allem mit dem Wiederaufbau des Großkraftwerkes Trattendorf (Spremberg, Nennleistung: 450 MW) und dem Aufbau der ersten Elektroenergiegiganten der DDR, der Großkraftwerke Lübbenau (1957/64, Nennleistung: 1300 MW) und Vetschau (1960/67, Nennleistung: 1200 MW), beide 1968 zum VEB Kraftwerke Lübbenau-Vetschau vereinigt, verwirklicht. Für die beiden Werke wurden die Braunkohlen-Tagebaue Schlabendorf-Nord (1959/6 1), Seese (1962/64) und Schlabendorf-Süd durch den VEB Braunkohlenwerk »Jugend« Lübbenau aufgeschlossen.
(Historischer Führer Urania-Verlag Leipzig 1982)
Hier wäre nun einzusetzen, wäre, statt Biographie, die Frage von damals, jene große, bohrende, angeblich letzte Frage nach der Draufsicht, Übersicht, nach betrachtender Zusammenfassung, ohne die jede Wahrnehmung letzten Endes unvollkommen und jede Tat im Grunde für den Akteur sinnlos wird, wieder auf die Tagesordnung zu heben.
Aber dürfen wir denn überhaupt?
Legierung der Substanzen Schlosser, Jugendfunktionär, Philosoph der Tat, Familienvater, Ingenieur, Eigenleben, letzteres vielleicht nur noch als Spurenelement (Haben Sie ein Hobby?) vorhanden, über der Flamme Zeit als heißestem Begriff und nach den Gesetzen der Notwendigkeit verschmolzen, darf man diesen wertvollen Stoff ohne Laborversuch, denn einen solchen gibt es hierbei nicht, mit Fragen nach Besinnung ätzen?
In seinem Rücken, das sei nur recht vergegenwärtigt, wenn er hier vor uns ersteht, tosen achtundzwanzig Kraftwerkseinheiten, Blöcke, davon jeder einzelne ein Vielfaches jener ersten Turbine von Trattendorf bedeutet und für deren konstante Leistungsabgabe er uns verantwortlich ist.
Auch ist er durchaus ein Gesteuerter, wenn wir unter Steuern Stelleingriffe ohne direkte Rückkoppelungsmöglichkeiten verstehen wollen, denn jeder Bürger, der zu Hause oder im Betrieb einen elektrischen Arbeitswiderstand einschaltet, was unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution so selten nicht vorkommen soll, stellt eine gesellschaftliche Anforderung gleichsam per Draht an ihn.
Die Summe aller energetischen Anforderungen ballt sich zur Führungskonzeption der VVB Kraftwerke für ihre Werkdirektoren, und sie lautet konkret für diesen Fall: Sicherung einer stabilen Grundlastfahrweise laut Plan mit minimalstem gesellschaftlichem Aufwand.
An der Klärung von Grundfragen des Lebens wird weiter gearbeitet, nicht mehr mit Hacke und Spaten, sondern mit Maschinen, immer größeren, stärkeren, kraftbedürftigeren, für deren Einsatz er die energetische Grundlast tragen muß.
Wer versichert uns aber, daß durch unsere Frage nicht irgendeine Schutzschicht weggeätzt wird und daß er sich danach - da doch das Drillichzeug nun mal heute gleichfalls metaphorisch geworden so wie eh die Putzwolle -, nach allem Sturm und Drang seiner Aufbaujahre, vielleicht nur noch als Grundlast -, also Bürdenträger der ständig und planmäßig erweiterten Produktion empfindet?
Ist es denn Leitern, Organisatoren, Verantwortlichen überhaupt möglich, Sinn fürs gedanklich Reflexive zu erübrigen, oder bleibt diese der Beschaulichkeit verdächtige Spezialstrecke arbeitsteilig anderen zur Übung überlassen, Berichterstattern, Schreibern aller Art, weniger grundbelasteten Leuten?
Schweifen wir doch lieber ab.
Mit dem Energieaufwand von einem Watt können Sie, so hat man überschlagen, eine Tasse Kaffee oder ein Glas Wein, roten oder weißen, vom Tisch zum Munde führen.
Als nun vor nur ganz wenigen Jahren es schien, als wäre mit dem Probelauf der ersten Trattendorfer Maschine Grundlegendes geschaffen, da wollten sich einige erklärte Freunde, abendländisch überlegen, einlachen über die fünfundzwanzig Millionen Tassenhübe pro Sekunde, wobei sie einiges außer acht ließen, Wesentliches der Wahrnehmung, eben die Betrachtung, obwohl sie dafür genügend Zeit gehabt hätten.
Mittlerweile ist das Gelächter von dort versackt. 100-MW-Turbinen aus der volkseigenen Produktion schöpfen dampfstöhnend die Kraft des Erdmagnetismus und spannen damit Energien in der Form von Kilovolten mal Ampere gegen alle Widerstände auf unserem erklärten Weg.
Die Fundamente für die dritte Maschinengeneration mit 500-MW-Generatoren werden bereits gestampft, und statt der überheblichen Variante wahrnehmungsarmer Sinnesblödheit trägt uns der Westwind Verleumdungsruch daher.
Es ist nun einmal so, daß halt der Mensch als solcher wahrnehmend nicht nur sieht, sondern sich etwas anschaut, daß er nicht bloß hört, sondern auch zuhört, herhört auf das, was wir zu sagen haben, daß er aufmerksam den bisher nie vernommenen Tönen, etwa Lenins These vom Kommunismus oder dem Singen volkseigener Turbinen, lauscht, daß er eine Tätigkeit der Sinne ausübt, die darauf gerichtet ist, sich ein wahres Bild von der wandelbaren Umwelt zu machen; und wer das nicht tut, aus Arroganz, aus Gnatz, aus Angst (das gibt's ja auch), verpaßt den Anschluß, der wird dem neuen Bild der Welt gegenüberstehen mit dem Begriffsvermögen eines hochentwickelten Primaten aus dem Tierreich, höchstens.
Nun aber wagen wir die Gretchenfrage »Wie hältst du's mit der Betrachtung«? erst recht noch nicht zu stellen, wegen der Zwei-Worte-Antwort, die wir befürchten und deren Ursache vielleicht ebenso einschränkend auf die Wahrnehmung wirken könnte, und gehen deshalb lieber noch ein bißchen um den heißen Brei.
Denn siehe, Wärmekraftwerke sind bei uns trotz ihrer komplizierten und aufwendigen Technik schneller gewachsen als die dafür benötigten Kraftwerker. Alle bisher bekannt gewordenen Aktivitäten sagen über die Leistungen der Bauleute, Monteure, Konstrukteure und Organisatoren aus, aber kein einziger Wartungsmaschinist, Reparaturschlosser, Meß- und Regeltechniker, Dispatcher, Ökonom, Abteilungsleiter, Werkdirektor lag solange typenzettelfertig auf Abruf im Regal, und keiner legte, wie gehabt, besagtes grobe Handpflegemittel beiseite, um sich hinter ein Steuerpult oder an den Elektronenrechner zu setzen.
Die Belastungsganglinie der eben in Betrieb genommenen Anlagen und der Bildungsgang derer, die damit umgehen sollten, die ungewohnte Arbeit mit nie zuvor gekannten Maßstäben und Parametern und zugleich die höchsten Anforderungen aus der Republik, das alles stand eher zueinander im Gegensatz als in einem günstigen, um nicht zu sagen optimalen Verhältnis. Bald bekamen sie als Anfänger statt Blumen harte Kritik verpaßt; es fiel das Wort vom großen neuen Großkraftwerk als Hemmnis und von den Kraftwerkern als unsicheren Partnern der Volkswirtschaft. So wurde, beinahe über Nacht, die ganze Republik zur Bühne für die Faust- und Erdgeistszene: »Hab ich die Kraft, dich anzuziehn, besessen ... «
Der Westwind trieb die Sporen her, vom dort geplatzten Stinkbovist, und 's lispelte mephistophelisch: Ranklotzen, grobe Arbeit schuften, mehr können die nicht; aufrichten, gut, aber nicht aufrechterhalten, schon gar nicht jenen komplizierten spannungsvollen Energiezustand heraufbeschworener Erdgeistkräfte, und wenn das Volk dort drüben überhaupt etwas zustande brachte, dann nur der SED zum Trotz.
Doch unbeirrt von solchem schweflichten Geschwafel übten die Genossen auf ihrem siebenten Parteitag erst einmal Kritik an der Energiewirtschaft und leiteten dann den Kampf um die Stabilisierung der Kraftwerke ein.
Die Betriebsparteiorganisation in Lübbenau wandte sich in einem offenen Brief an die Kraftwerker mit der Losung: »Bei uns gilt das Wort der Arbeiter!« Genosse Albert Dieter, dem die Funktion des Werkdirektors übertragen wurde, hat seither auf weiter nichts zu achten, als darauf, daß neben den umfangreichen Instandhaltungsaufgaben, neben der Erprobung eines neuen ökonomischen Modells der Planung und Leitung, neben dem Ingenieurprojekt »Planmäßig vorbeugende Instandhaltung«, neben den Forschungs- und Entwicklungsthemen der ständigen sozialistischen Rationalisierung und der Kaderausbildung für den gesamten Bereich volkseigener Kraftwerke, neben dem großangelegten technischen Stabilisierungsprogramm - alles Forderungen der Arbeiter - der Produktionsplan erfüllt wird.
Welche Mittel stehen ihm für diese neuen Aufgaben heute zu Gebot?
Betrachtungsweisen, auf die wir so erpicht sind?
Kaum. Man hat als hervorragendes Stabselement ein Organisations- und Rechenzentrum mit modernen elektronischen Einrichtungen und hochqualifizierten Fachkräften zur Seite.
Man operiert in AK (Arbeitskräften) und hat es dabei mit lebendigen Menschen zu tun. Die haben es zwar fertiggebracht, als Antwort auf den offenen Brief der Parteileitung, die Stillstandszeiten bei Generalreparaturen innerhalb Jahresfrist von achtundvierzig auf fünfunddreißig Tage zu verkürzen, doch eine jede AK hat ihr eigenes Gesicht, ihr eigenes Leben, das geschätzt, geachtet und umsorgt werden will, hat ihrerseits ständig steigende Bedürfnisse und kann nicht allein als abstrakte Potenz betrachtet werden.
Man stützt sich vor allem auf jene, die sich ihrer Rolle als Produktivkraft und progressiver Faktor so bewußt geworden sind, daß sie, zur Partei vereint, die Richtung und das Tempo bestimmen.
Und schließlich hat man doch die eigene AK, nur mit dem Unterschied, daß kaum jemand für deren Erhaltung und erweiterte Reproduktion besondere Bedingungen voraussetzt oder gar Schwierigkeiten in Betracht zieht.
Was ermutigt uns denn nun immer noch, dieses Objekt im Sinne der Betrachtung nach der bewußten, sattsam umschriebenen und als weich, wund, wenn auch vielleicht verhärtet angenommenen Stelle fragend abzutasten?
Wir kennen, dank NBI, das Bild eines starkknochigen jungen Mannes in vertrauenerweckender Nachkriegsmagerkeit, der einen Niethammer handhabt und die Ohren steifhält. Sämtliche Proportionen in bezug auf letztere haben sich inzwischen zugunsten der Stirn und der Schulterbreite entwickelt.
Wir können übrigens, hier nicht und nirgendwo sonst, dem seligen Johann Kaspar Lavater den Rang ablaufen wollen, und nach Schiller ist es ohnehin der Geist, der sich den Körper schafft. So viel dürfte höchstens gelten bleiben, daß Physiognomien mit dem Maße tätig ausgeübter Menschlichkeit, wozu denn doch in jedem Falle ein grundlastfester Charakter gehört, nur immer ausdrucksvoller werden, die Augen dunkler, die Stirn höher, breiter, Falten, so sich kerben, wennschon tiefer oder mitunter steiler, niemals aber härter, gar verbissen wirken werden und sich ohnehin mehr um die äußeren Augenwinkel sammeln.
Der Schnitt des Mundes, diese leicht verkürzte, empfindsam bis empfindlich unsymmetrisch aufgezogene Oberlippe, warnt vor allzu neugierigem Zudringen auf bestimmte Weise, was bereits der vorige Reporter verstanden haben muß.
Indes, was hilft's, wir kennen aus der Mythologie die Fabel, wie Herakles dem Schicksal ewigen Globus-Tragen-Müssens durch die List entkam, daß er Atlassen um die Gunst bat, sich die Stirn mit Stricken umwinden zu dürfen, damit ihm nicht vor Last die Schädelnähte platzten, und wie er statt dessen, während Atlas noch den Globus unterstützte, Reißaus nahm, und da wollen wir halt wissen: Ist einer, tragend, Atlas ohne oder Herakles mit Stirnreif?
Zu diesem Zwecke haben wir unsere Neugier gleich gebunden und geheftet und mit dem Anspruch auf belletristische Gehobenheit in einem Verfahren an den Mann gebracht, das, obschon nicht eben fein, den Vorteil hat, daß er nicht umhin kann, des breiteren sich herbeizulassen, denn seht, ihr Hosenlacher, wir als weniger belastete Systempoeten verlangen von unseren Werkdirektoren nicht bloß ökonomische Gewinne, sondern daß sie auch noch unsere Werke schreiben helfen.
Freilich ward unsere höhere Schrift nur »aus reiner Disziplin« studiert, wie er zu Anfang unseres Werksgespräches rundheraus versichert, und nur aus diesem Grundmotiv begibt sich der Wirtschaftsfunktionär auf das künstlich unterkühlte Glatteis der Ästhetik, verkündet in der literarischen Runde aber bald sein Wohlbefinden, was uns insgeheim und boshaft Goethes Fliegentodparabel in Erinnerung bringt:
»Sie saugt mit Gier (hier Disziplin) verrät'risches Getränke,
unabgesetzt, vom ersten Zug verführt;
sie fühlt sich wohl, und längst sind die Gelenke
der zarten Beinchen schon paralysiert.«
Indes, man geht sofort zum Angriff über: »Als Werkdirektor ist es meine Pflicht, dafür zu sorgen, daß durch richtige Leitungsmethoden alles aus dem Weg geräumt wird, was uns an der maximalen Kraftentfaltung hemmt. Danach schätze ich die Kunst und auch den Autor ein. Die Geschichte, die mir da vorgelegt wurde, wird mir nicht griffig. Was soll die intellektualisierende Spinnerei beim Tauchen im kühlen Grubensee? Was soll die brechende Elefantenherde?« ( - in einer Erzählung aus dem Kraftwerkmilieu, so fügen wir im stillen hinzu - ) »Was soll die Leiche im Glaskasten?« (Es war nur eine Schaufensterpuppe, vom Autor ganz mit Vorbedacht als Sinnbild gegenständlicher Betrachtung sprachgewandt in eine städtische Schauvitrine hineinspektakuliert, was man auch wohl begriffen hat, warum sonst, und nicht weniger boshaft, »Leiche«? )
Dann zitiert er »Fern von Moskau«, memoriert über das Verhältnis Mensch - Taiga, führt wieder einen Seitenblick, um nicht zu sagen -hieb, nach lebensfremden Schreibern mit verklemmtem, weil vorwiegend sentimentalem Naturverhältnis, geht zu »Schlacht unterwegs« über und baut sich so, anstatt sich zu verlieren, auf.
Auf alle Fälle aber ist die befürchtete Zwei-Worte-Antwort vermieden worden und gebannt, statt deren 880 Seiten Ashajew und eine Einladung, seinen, des Werkdirektors, Arbeitstag, einen ganz beliebigen, kennenzulernen, und das ist mehr, als der gerissenste Diplomat erhoffen durfte.
Ein solcher Arbeitstag beginnt spätestens um halb sieben mit dem Rapport über Zustand und Leistung aller achtundzwanzig Kraftwerksblöcke per Einzel- oder Konferenzschaltung über die Rufanlage. Knopfdruck, Knacken irgendwo in der Leitung, und der, dem es gilt, vernimmt die Stimme Zeus', womöglich gar von unterhalb der Zimmerdecke aus dem stoffbespannten Trichter, vernimmt mit Tagesanbruch die erste, die wirklich große bohrende Frage: Wieviel MW? Ist - Soll - Abweichung, und wenn Minus, warum?
Die Informationslaute kommen je nach Gehalt optimistisch klar oder dumpf gequetscht durchs Megaphon, auch ist man des Verfremdungseffektes durch das technische Mittel noch nicht gänzlich Herr geworden, sucht nach einem speziellen Mikrophondeutsch, räuspert, haspelt, verspricht sich, fühlt sich irgendwie als Teil des Mechanismus, noch.
Den Beobachter wandelt Mitleid an.
Was Abteilungsleiter? Was Werkdirektor? Lebender Universalprozeßcomputer mit selbständiger Programmierung nach Führungsgrößen, in Abhängigkeit von laufenden Dateneingaben auf die ständig untereinander kommunizierenden ingenieurtechnisch, finanzökonomisch, organisationswissenschaftlich, politisch, pädagogisch reflektierenden und nun auch noch ethisch-ästhetisch funktionieren sollenden Gehirnröhren.
Für heute hat sich eine Vertreterin der Industrie- und Handels-Bank angekündigt; es geht um den Zinsfuß für den nächsten Kreditfall, und man läßt sich dabei von den Direktoren für Erzeugung, für Ökonomie und vom Hauptbuchhalter sekundieren.
Die Dame, unterstellen wir, sieht sich umringt von vier rauhen, mit allen Hunden gehetzten, mit allen Salbengesalbten Burschen. Die Szene ist bühnenreif. Aus der Miniurwaldecke verstaubter Blattpflanzengewächse schummert Moritatensängerstimmung. Gar viel ist's nicht, was wir begreifen, nur daß der Welt in jedem dieser gegenwärtigen, auf den Perspektivplan orientierten Tatkraftburschen ein beachtliches Erzählertalent verlorengegangen ist.
Andächtig, fast ergriffen lauscht die kleine Blonde den eindringlichen Schilderungen vom harten Winterkampf, von der Senkung des spezifischen Brennstoffwärmeverbrauchs, der damit verbundenen Kohleminderabnahme aus der Grube und den daraus resultierenden Vertragsschwierigkeiten mit dem Braunkohlenwerk; vom schwer beherrschbaren Problem der Fallrohrbiegungsovalität und endlich von der Solidarität mit anderen Betrieben der Branche.
Ihre Blauaugen schimmern. Ihr Mund ist leicht geöffnet. Doch sie hat ihre Instruktionen, erinnert sich gerade noch rechtzeitig und seufzt. So packenden Geschichten wie der Odyssee vom kostspieligen Transport eines Großtransformators auf zwanzigachsigem Spezialschnabelwagen ab Werksgelände Saporoshje durch die Sowjetunion und ganz Polen, mitten im hohen Schneewinter, nur um einem anderen Kraftwerk aus der Patsche zu helfen, hat sie nichts annähernd Gleichwertiges entgegenzuhalten. Vielmehr ist sie dazu verdammt, daß zwischen ihren Lippen all die lebendigen Bilder zu so abstrakten Begriffen gerinnen müssen, wie sie Verwaltungsinstitute von Volksvermögen einmal nicht anders kennen, und so bringt sie tapfer die Rede auf Bruttoproduktion, Fondsrentabilität, Betriebsergebnis, Produktivitätsnachweis, Umschlagzahl und sogar auf die Nettogewinnabführung, obwohl es ihr sichtlich leid ist, der Stunde damit ihren Glanz zu nehmen.
Es gibt, ihr Männer, im Interesse der Volkswirtschaft auch diesmal nur Kredit zu jenem erzieherisch heraufgesetzten Zinssatz, an dem zugleich der Makel bedingter Kreditwürdigkeit haftet.
Die Oberlippe zuckt. Man ist, liebe Leute, von einer Großbaustelle zur anderen, von Aufbauschwerpunkt zu Aufbauschwerpunkt bis her zur Grundlast gezogen, hat an des Erdgeists heißer Sphäre gewissermaßen lang gesogen. Nun ist er da, der Geist, und steht zu Diensten.
Ist das der Dank?
Was bisher wohl um jeden Preis geschah,
ihn billiger zu halten, bin ich da
und scheue weder Fleiß noch Kraft.
Kennt denn die Bank noch eine Sippenhaft?
Die Finger der rechten Hand tasten über die Tischplatte, als tupften sie Brotkrumen fort.
Und nicht der Erdgeist, nein, die Bank ist erschienen, schaut ihn sich an, unschuldig blond, aus blauen Augen, wie er da so sitzt, im weißen Rollkragenpullover zum Jackett, und tupft: Wo bist du, Faust, des Stimme mir erklang? Und wo bleibt der kühne Satz: Geschäftiger Geist, wie nah fühl ich mich dir?
Zugleich erhellt uns dieser Augenblick: Ganz anschaulich wird der im Grunde nur durch die Pupillen einer Frau, und das Ergebnis dürfte lauten: Mann? Nein. Großer Junge, aufgeweckte, drangvolle, sicherlich zum Teil auch bengelige, Jugendträumen nie entwachsende, immer auch und leicht verletzliche stets heilende naive Jungenseele, die nicht weiß, was überlegen abgeklärte, gesetzte, steifleinene Väterwürde ist.
Jetzt blickt er zu Boden, tupft und fühlt sich ursachlos gescholten, hat er doch die Grundlast ohne Stricke um die Stirn auf sich genommen.
Nur bedingt kreditwürdig. Ist das des schweren einsatzfreudigen Wirkens höchstes Resultat und Ansatz für das »... große Wundern, so aus der Rückschau, über sich selbst ... «, ein blauer Blick, ein kühles Prädikat?
Wir fühlen uns versucht, Partei zu nehmen.
Sollte sich die Bank nicht manchmal überlegen, wem gegenüber und zu welcher Zeit ihr spezifisches System der materiellen Hebel erzieherisch und wann nur deprimierend wirken muß?
Doch, weiß der Teufel, wer hier recht hat, am Ende alle beide, und unsere mit leicht toxisch präparierten Instrumenten angesetzten Tiefenbohrungen nach weichen Stellen stoßen womöglich gerade hier auf den Granit einträchtiger Ergänzung; ist ein Prinzip ja nur so lange gut, als es anderen auch wirtschaftlich überlegen, und ein Charakter nur so lange fest, als er sich auch den ökonomischen Kriterien des Vergleiches unterwirft.
Der Tagesarbeitsplan liegt günstig, denn es folgt nun eine Leitungssitzung der Betriebsparteiorganisation. Hier kann man das soeben Durchgemachte in größere Zusammenhänge bringen. Das Neueste: man hat den Kanzler jenes anderen Prinzips, des Geistes, der stets verneint, an den Verhandlungstisch gebracht - Genossen, nicht zuletzt mit volkseigener Energie, trotz unserer augenblicklichen Verzinsbarkeit zu fünf statt drei Prozent. Abwandelnd jenes urproletarische Sprichwort von der Stadtluft, kann man sagen: Kraftwerksluft macht durstig, aber frei. Welche Perspektiven öffnen sich erst im Hinblick auf die zu erklimmende Kreditwürdigkeitshöhe!
Und das große Sich-Verwundern wird zu dem, was es seinem Wesen nach immer war und bleibt, nämlich kein Gefühl der Rückschau, sondern Bestandteil einer Gegenwartsaufgabe und des Ausblicks.
Nachher, in der Plandiskussion mit sämtlichen Direktoren und Abteilungsleitern, da staucht man weiter an der ökonomischen Frage. »Das Mädchen von der Bank hat uns im Grunde recht human behandelt"«
Noch später, in einer Problemdiskussion, man hat inzwischen Kadergespräche geführt, und die ersten Normalschichtler verlassen bereits das Werktor, lassen sich Verbindungen zwischen Rationalisierung und Finanz-, besonders Prämienentwicklung vorzeichnen, da zwei Prozent mehr oder weniger abzuführende Zinsen bei den Umlaufmitteln sich, für alle spürbar, auf den Prämienfonds auswirken, womit dann wieder die materielle Attraktivität des Kraftwerkerberufes zusammenhängt.
Zwischendurch, in einer Beratungspause, muß man einem Stadtrat auf die Sprünge helfen, von wegen der Zusammenarbeit mit dem Territorium: Womit in diesem merkwürdigen Frühjahr zum Ersten Mai die Straßen geschmückt werden sollen, da die Natur noch kein einziges grünes Blättchen hervorgebracht? »Haut zwanzig, dreißig Birken um, stellt sie in unsere Maschinensäle; in zwei, drei Tagen sind sie grün, und dann hinaus damit auf die Straßen.«
Aha! Wir leben nicht eben in Sibirien, doch könnten ja die Birken von den Rändern der ohnehin wälderverschlingenden Tagebaue genommen werden. - Dagegen zerbricht man sich anschließend über Maßnahmen gegen unzulässige Verschmutzung der Biosphäre durch allzu dicken Schornsteinqualm und wasserlösliche Chemikalien den Kopf nicht eigentlich der schönen Natur zuliebe als vielmehr wegen der gesetzlich angedrohten materiellen Sanktionen.
Da wir unseres gestörten, weil vorwiegend sentimentalen Naturverhältnisses allzu unterlegener Sklave sind, suchen wir bei nächster Gelegenheit Zuflucht bei Ashajew, frischen Taigaduft aus Bücherseiten einzuschlürfen, doch es schlägt eine ganz andere Seite auf.
Wir lesen, ganz wie's kommt: »Dann ging er zu Batmanow und berührte seine Schulter. ›Ich kann und will dich nicht trösten. Es gibt keine Worte, die dir deinen Sohn zurückgeben. Doch Anna darfst du nicht allein lassen. Sie liebt dich und muß unbedingt hierher kommen. Es ist gut, daß du den Wert der Familie stärker gespürt hast. Ich bin fest davon überzeugt, du wirst dein Lied auch noch vertonen, lieber Freund.‹« Nun gut, wir finden hier auf Anhieb keine Zusammenhänge und wollen auf die Dauer auch keine suchen, wenn auch der Kampf um die Treibstoffversorgung der Sowjetarmee im sibirischen Frost so unvergleichbar nicht ist mit den Hitzeschlachten an den Kesseln eines Großkraftwerkes um jede Kilowattstunde zum Volkswirtschaftsplan.
Eine Prognose läßt sich dazu ruhig stellen: weder Albert Dieter noch die an seiner Seite werden ihr Lied von selbst vertonen.
Noch ist das utopische Zeitalter aber nicht herbeigezwungen, da Energie im Überfluß vorhanden und ihre »Erzeugung« kaum mehr der Rede wert ist. Vorerst haben wir unter unseren primärenergetischen Bedingungen die unvollkommene Einrichtung höchst angestrengter, den stürmischen Bedarfszuwachs nie völlig abdeckender, aufwendiger Grundlasttragweise mit den stärksten jeweils vorhandenen Maschinen und Charakteren.
Und was ein echter Atlas ist, der hat für das große Wundern, noch dazu über sich selbst, selbst in der Vorausschau, die uns zum Schluß, wie wir es gern haben möchten, das artikulierte Pathos vom bewußten Sein liefern soll, nach wie vor, auch wenn er uns zuliebe gerne wollen würde, KEINE ZEIT.
Denn er muß fahren, reparieren, fahren; fahren, reparieren, fahren bis ins Jahr 2000.
Halt! Kommt dann also auch hierzulande Wesentliches der Wahrnehmung doch zu kurz?
Gewiß, gäb's nicht noch Höheres- die Mitteilung. Und so, in stetem Ringen um die höchste Produktion begriffen, teilt er sich in seiner ganzen unzerstörten Einheit zwischen Tun und Denken und Betrachten mit dem gesamten Kraftwerkskollektiv, durch das Betriebsergebnis, über die Energiefortleitung uns am ausdrucksvollsten mit.
Im Spiegel dein Gesicht. Vierzehn Nachfragen Rostock Hinstorff Verlag 1971