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Erich Köhler
Erzählungen und Buchauszüge
Erich Köhler ca. 1990

 

ein Kapitel aus:
 
Der Krott oder das Ding unterm Hut

BKV

Betriebskollektiv-Vertrag

»Ihr armen, armen Menschen. Wie wollt ihr an dem Wettstreit Freude haben, wenn ihr ständig zu organisieren, zu berücksichtigen, aufzuschlüsseln, aufzudecken, für Abläufe zu sorgen, zu überprüfen, maßzunehmen, abzuleiten, durchzusetzen, zu übermitteln, übertragen, überwinden, fortzusetzen, zu erhöhen, einzuführen, durchzuführen, auszuführen, festzulegen, zu richten und zu verantworten, und das alles auch noch auszudrücken habt?

Wir sagen: Sprache ist die Daseinsform der Gedanken. Hier gehn die Gedanken wie auf Reißzwecken.«

Tiefe Nacht. Am Schreibtisch meiner Frau. Und das hat sie geschrieben. Vorbereitungen für den Unterricht. Beispiele für den Gebrauch des Infinitivs mit »zu« in der deutschen Muttersprache.

Großkraftwerk Lübbenau - Vetschau 1980

»Die Ziele des sozialistischen Wettbewerbs sind gemeinsam mit den Werktätigen auszuarbeiten und haben auf die Schwerpunkte zur Entwicklung der Produktion und die Durchsetzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu orientieren, um ein Höchstmaß an volkswirtschaftlicher Effektivität und Produktivität zu erreichen, wobei die Belange des vorbeugenden Gesundheits-, Arbeits- und Brandschutzes zu berücksichtigen sind.«

Das DDR-Kohle- und Energie­pro­gramm vom März 1957 wurde vor allem mit dem Wieder­aufbau des Großkraftwerkes Tratten­dorf (Spremberg, Nennleistung: 450 MW) und dem Aufbau der ersten Elektroenergie­giganten der DDR, der Großkraftwerke Lübbenau (1957/64, Nenn­leistung: 1300 MW) und Vet­schau (1960/67, Nenn­leistung: 1200 MW), beide 1968 zum VEB Kraftwerke Lübbenau-Vetschau vereinigt, verwirklicht. Für die bei­den Werke wurden die Braunkohlen-Tage­baue Schlabendorf-Nord (1959/6 1), Seese (1962/64) und Schlabendorf-Süd durch den VEB Braunkohlenwerk »Jugend« Lübbenau aufge­schlossen.
(Historischer Führer Urania-Verlag Leipzig 1982)

Das ist Absatz 1.02 aus dem Artikel »Maßnahmen und Methoden zur Sicherung der wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Revolution durch die Einbeziehung der Erfahrungen der Schrittmacher, Neuerer und sozialistischen Kollektive in die Leitungstätigkeit und die Entwicklung der Initiative der Werktätigen im sozialistischen Wettbewerb.«

O treuherzig blaublickende weibliche Verworfenheit!

Das Kraftwerk ist neu. Die Belegschaft ist neu, aus allen Teilen der Republik herbeigekommen. Zum erstenmal ein eigenes Kraftwerk auf grüner Wiese aus dem Boden gestampft. Erstmalig das reine Blockprinzip angewandt; bei vielen Aggregaten Grenzleistungen in Anspruch genommen; mit maximalen Drücken und Temperaturen an die Werkstoffe Höchstanforderungen gestellt; ganze Baugruppen ohne langwierige Typenerprobung und Prüfstandbelastung in Serie gefertigt; erstmalig zur zentralen Leitstandfahrweise übergegangen; erstmalig so massierte Leistung auf so engem Raum geschaffen; die Ventilatorkühlung in dieser Größenordnung gewagt; eine Kraftwerksbelegschaft nach kürzester Ausbildungszeit in größter Zahl eingesetzt, in diesen Dimensionen auf die Intelligenz der Arbeiter, Angestellten, Ingenieure vertraut; einen Reparaturbetrieb in bisher nie gekanntem Ausmaß aufgebaut; eine Betriebsorganisation entwickelt und nicht zuletzt eine neue Wohnstadt mit allen Nachfolgeeinrichtungen hochgezogen.

Erzähle deinen Kindern lieber von der Kühnheit, vom Mut, von dem Elan zu diesem Unternehmen. Und wenn dieses »zu« durchaus zum Unterricht gehören muß, dann nimm in Teufels Namen irgendeinen Erlaß irgendeines Friedrichwilhelm. Aber von uns laß ab. Bei uns ist jeder Satz vom Geist der planmäßig erweiterten Reproduktion durchdrungen. Unser Betriebskollektivvertrag ist kein Roman, sondern Rechtsgrundlage, Ausdruck unserer Entwicklungstriebkräfte. Dieses Werk will mit dem Finger auf der Zeile studiert werden. Die Zahlen müssen stimmen.

Ich blättere im BKV. »Als Vereinbarung zwischen dem Werkdirektor und der Betriebsgewerkschaftsleitung ist der BKV Kampf- und Leitungsinstrument für die erfolgreiche Erfüllung unserer Planaufgaben in der sozialistischen Volkswirtschaft und die weitere Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Betriebsangehörigen.«

Ja, dafür muß einer doch erst einmal etwas getan haben, ehe er am Stil herumkritteln darf!

Natürlich hat es etwas zu bedeuten, daß sie ausgerechnet in meinem Exemplar des Vertrages herumgestrichelt hat. Ich schüttle das Heft in Richtung Schlafzimmer, daß die Blätter rascheln. Auswendig sage ich dir jede beliebige Stelle her: »Die für den Besuch des Metropol-Theaters und der Staatsoper vom Betrieb zu tragende Summe beläuft sich auf zwanzigtausend Mark jährlich.« - Artikel 1.09 über die Bildung und Verwendung des Kultur- und Sozialfonds.

Allein dieser Teil des Vertragswerkes hat einundzwanzig Bestimmungen.

Todmüde plötzlich, obliege ich den letzten Verrichtungen für einen kurzen, sicher traumlosen Schlaf.

Ein Blick noch auf das Lager der Frau. Nichts als die Nüstern und ein blonder Kringel gutzen oben aus dem Deckbett.

Am Ende ihrer Betrachtungen hat sie noch geschrieben: »Ein Werk wie dieser Betriebskollektivvertrag, geboren letzten Endes aus dem Kommunistischen Manifest und dessen konsequente Fortsetzung, muß auch so gut und schön wie jenes verfaßt sein. Es muß ein erbaulich Lesen darin sein, und nicht nur seines Inhalts wegen. Große und richtige Gedanken müssen schlicht und schön gesagt werden. Mut und Freude müssen sie verbreiten: Seht, das haben wir uns vorgenommen!«

Mit letzter Kraft richte ich mich noch einmal empor und berge die Broschüre unter meinem Kopfkissen. Recht mag sie haben mit dem letzten. Aber im BKV wird nicht herumexperimentiert, auch nicht zu schulischen Zwecken, und schon gar nicht, um den Gebrauch des Infinitivs zu demonstrieren! Morgen werde ich es ihr in aller Form verbieten.

Was ist das überhaupt ...

 
 

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