Schirokij

erschien 1996 in "Blasmagorien"
im Spotless-Verlag, Berlin

Du bist inzwischen ein älteres Semester geworden, aber in deiner Brust lauert das Gemüt eines Elfjährigen. Oder wie erklärst du dir diese Sehnsucht, auf einem Schimmel steil in die Höhe und hoch durch die Luft zu reiten? Das Pferd fehlt. Woher soll es kommen, von wo aufsteigen, wohin, mit wem noch? Aha! Die erste Liebe. Emma. Elfjährig auch. Ihr habt einander an Händen gehalten. Ihr habt gesungen. Draußen war es dunkel. Zu Hause dann hat man euch gefragt, jeden für sich: Woher diese Rotzschlegel? Im Haar, auf Schultern und Brustlatz, sogar auf dem Rücken. Und dir wird klar, mit wem du die Reise antreten wirst.
Du fährst an den Ort deiner Kindheit. Dort lebt sie noch. Nur von dort steigt der Gaul empor, vorausgesetzt, du kannst dieses nunmehr auch schon ältere Mädchen überreden. Du kommst in das Dorf jenseits der Grenze. Die Deutsche Mark macht's möglich. Du suchst das Haus, darin sie wohnt. Es steht noch. Sie spricht beschwerlich deutsch und wie geschmiert tschechisch. Sie stellt dir ihren Mann vor, Vaclav, Bauer, alt. Die Kinder, fünf an Zahl, sind aus dem Hause, haben selber welche. Emma und Vaclav wissen nicht recht mit dir was anzufangen, miteinander auch nicht mehr. Sie leben halt. Nur wenn die Enkel kommen, ej, da geht es hoch her.


»Schiroka
strana moja rodnaja«
»DAS LIED
VOM VATERLAND
«

Vaterland, kein Feind soll dich gefährden!
Teures Land, das unsre Liebe trägt!
Denn es gibt kein andres Land auf Erden,
Wo das Herz so frei dem Menschen schlägt.


Aber nicht so hoch wie mit dem Pferd, wendest du ein. Emma fragt: Von wo, bittschön, soll es aufsteigen? Von da, wo wir gesungen haben. - Wir und die anderen, ver­genauert Emma mit Seiten­blick auf Vaclav.
Sie führt dich an die Stätte, nachdem sie Vaclav, obwohl der deutsch kann, auf tschechisch etwas angewiesen hat. Das hat mit dir, mein Alter (oder so ähnlich) nichts zu tun. Ihr kommt vor die Ruine. Ihr geht hinein. Damals war das Haus noch ganz aber schon leer. SHF-Leute, die Schlag­truppler der Sudeten­deutschen Heimat­front, hatten diese tschechische Schule in dem deutsch­sprachigen Gebiet in der ehemaligen Tschecho­slowakei kurz vor dem Einmarsch des Führers ausgeräumt.
Hier drinnen also habt ihr danach noch gesungen, ihr und auch ältere Menschen, leise. Das Echo, erinnert Emma, hallte trotzdem von den leeren Wänden. Du hast mich bei der Hand gehalten. Und sie stimmt das Lied an, wie damals mit gedämpfter Stimme:

Schiroka strana moja rodnaja
Du fällst auf deutsch, aber ebenso verhalten ein:

Sowjetland, das unsere Liebe trägt
denn es gibt kein anderes Land auf Erden
wo so frei das Herz im Menschen schlägt ...

Die Deutschtschechin singt auf russisch, du in deiner Muttersprache, aber das Echo schweigt. Kein Dach hält es zurück. Ihr beide habt das Lied damals gar nicht so recht begriffen. Die Deutschtümler haben die leere Schule hernach noch angezündet. Die Tschechen haben die Ruine so belassen. Und Emma stimmt noch so ein Lied von damals an, und du singst mit, zwei ältliche Kinderstimmchen:

... drum höher und höher und höher
wir steigen trotz Haß und Hohn
und jeder Propeller singt surrend
wir schützen die Sowjetunion...

Du guckst in die Sterne und sagst: Siehst du, daß das Pferd jetzt kommen und mit uns beiden aufsteigen muß, von hier.
Draußen, sagt Emma, lungerten die Henleinleute. Als wir hinauskamen, spuckten sie auf uns. Es hat nicht weh getan. Mein je, was hab ich mir anhören müssen, zu Hause, voller gelber Schlegel.
Du nimmst ihre Hand, du sagst: Wir sind dann tief gefallen, haben andere Lieder geleiert, das Horst-Wessel-Lied, das Lied von den morschen Knochen... ich als Hitlerjunge, du als BDM-Mädel. Und die Älteren, erinnert Emma, die dabei waren, wurden abgeholt. Aber tief drinnen, sagst du, da blieben die ersten Lieder, und die Nazibrocken schwammen obenauf.
Wind erhebt sich, zieht durch die Fensterhöhlen. Hinter Wolkenfetzen schwimmt der Mond. Schneeflocken wirbeln. Auf einen Hang jenseits des Tales flackern Talglichter über Gräbern. Emma schauert. Allerheiling fällt der Schnee geiling, flüstert sie. Du sagst: Ich kam zur Heimatflak. Und du, du hast diesen Tschechen geheiratet, obwohl die Siegermächte bestimmt hatten, daß alle Deutschen ausgewiesen werden sollten, heim ins Reich.
Und du meinst, sagt Emma, dieses Pferd wird kommen? Sie sah, das mußt du jetzt zugeben, die Welt schon immer nüchterner als du. Das Pferd kommt, Emma. Es muß kommen. Um Mitternacht. Da - ich höre es trappen.
Gelblicher Schein geistert durch den Flockenwirbel. Einsamer Hufschlag tappt heran. Ein Klepper biegt in die Toreinfahrt. Der wird von einer Windlaterne beschienen. Ihr Lichtfleck verbirgt den Kutscher. Durch Nacht und Schneegestöber kratzt Vaclavs Stimme: Es wird nicht kommen, euer Flugroß. Da dacht ich mir, nimmst den Einspänner. Paar Decken hab ich auf dem Wagen, paar Bunde Heu, paar Brote für die Reise, weit, breit, endlos.
Vaclav! sagt Emma.
Drüber hinreiten hilft nicht. Das muß erfahren werden, durch und durch. Vaclav, wiederholt Emma. Weiß ich doch, wie ich heiße, sagt der Alte. Euch bleiben Anfang und Ende, mein war die Mitte. Kinder ausgeflogen. Enkel versorgt, um Vieh kümmert
sich die Kooperative. Ich bringe euch und fahre dann, so Gott will, und Gaul durchhält, wieder nach Hause.
Du und Emma, ihr kraxelt auf den Wagen. Vaclav wendet sein Gespann, zieht den Kopf zwischen die Mantelklappen und treidelt euch ostwärts. Niemals wendet er sich nach euch beiden um. Ihr hockt auf Heubunden, in Decken gehüllt, und haltet einander bei den Händen.

aus:
Erich Köhler

Blasmagorien

Spotless Verlag Berlin 1996

»DAS LIED VOM VATERLAND«

Vaterland, kein Feind soll dich gefährden!
Teures Land, das unsre Liebe trägt!
Denn es gibt kein andres Land auf Erden,
Wo das Herz so frei dem Menschen schlägt.

Vom Amur bis fern zum Donaustrande,
Von der Taiga bis zum Kaukasus,
Schreitet froh der Mensch in unsrem Lande,
Ward das Leben Wohlstand und Genuß.
Mächt'ge Kraft ist unserm Land entsprungen,
Mächtig wie die Wolga braust ins Meer.
Uberall die Bahn frei unsern Jungen!
Überall dem Alter Schutz und Ehr!

Vaterland, kein Feind ...

Herrlich liegt die Zukunft uns erschlossen.
Kühn erbaun wir unsre neue Welt.
Sagen wir das stolze Wort - Genossen -,
Fühlen wir, was uns zusammenhält.
Nicht mehr Haß der Rassen und Nationen!
Gleiches Recht für jeden, der hier schafft!
Uberall, wo unsre Völker wohnen,
Hat das Wort Genosse Klang und Kraft.

Vaterland, kein Feind ...

Atmet tief! Der Völker Frühlingsmorgen
Leuchtet hell, von Wolken ungetrübt,
Denn befreit von Sklavennot und Sorgen
Wuchs die Welt, die fröhlich lacht und liebt.
Aber drohn die feindlichen Banditen,
Wir sind da und wachsam und bereit
Dieses Land, wir werden es behüten.
Unser Herz gehört ihm allezeit.

Vaterland, kein Feind soll dich gefährden!
Teures Land, das unsre Liebe trägt!
Denn es gibt kein andres Land auf Erden,
Wo das Herz so frei dem Menschen schlägt.

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