zur Eingangsseite

STIFTUNG

Biografisches

Werke ...

.. und Texte

Rezensionen

Sekundärliteratur

P.E.N.-Ausschluss

Das Kleine Blatt

Zur Poetik
anderer Autoren

Impressum

 

Sitemap

 

 

Stichwortsuche:


powered by FreeFind

 

Banner
Erich Köhler
Erzählungen und Buchauszüge
Erich Köhler ca. 1990

 

der Junge und Petro

Petro -- kuda?

abgedruckt in:

Ebereschentage
10 Erzählungen
vom gewöhnlichen Faschismus
Der Kinderbuchverlag Berlin 1971


Heuer bin ich aus der Schule gekommen. Jetzt verbringe ich meinen Landdienst. Nach Beendigung seiner acht Klassen Volksschule muß jeder deutsche Junge mindestens sechs Wochen Landdienst ableisten. Dann kriegt er seine Lehrstelle. Nach der Lehre kommt er zum Reichsarbeitsdienst oder gleich zum Militär. Dann sieht die Welt für mich schon anders aus.

Bauer und Bäuerin sitzen mit dem Jungen am Tisch; Petro muss abseits sitzen

In den Krieg werde ich wahr­schein­lich nicht mehr ein­grei­fen kön­nen. Wir schrei­ben ja schon Som­mer neun­zehn­hundert­zwei­und­vier­zig. Un­se­re Trup­pen ha­ben die Städ­te Mai­kop und Kras­no­dar im Kau­ka­sus erobert. Das liegt gleich hin­term Schwar­zen Meer. Deut­sche Pan­zer­ver­bän­de sto­ßen auf Stalin­grad vor. Wenn ich mich frei­wil­lig melde, neh­men sie mich viel­leicht schon mit sech­zehn. Bis da­hin sind es noch zwei Jah­re. Dann wer­de ich wohl nur noch für den Be­satzungs­dienst in Fra­ge kommen. Jetzt bin ich zum erstenmal in meinem Leben für längere Zeit von zu Hause fort. Und gleich so weit, mindestens fünfundzwanzig Kilometer Luftlinie. Ich muß hier Kühe hüten, fünfe an der Zahl. Die erste Kuh heißt Streusel; weil ihr Fell so gesprenkelt ist; die zweite Kuh heißt Sterl, weil sie einen stern­förmigen Fleck an der Seite hat; die dritte und vierte Kuh heißen elendes Aas, verdammte Sau, Mistvieh und noch anders, nicht weil sie dreckig wären, ich muß sie ja jeden Tag putzen, sondern weil sie ihren eigenen Willen haben. Du gehst ahnungslos vorbei, und sie hauen dir den frisch eingetunkten Schwanz um die Ohren. Du stehst da und guckst, und sie donnern dir eins mit den Hinterhaxen. Du machst sie von der Kette, und sie geben dir mit der Vorderklaue eine Nuß, daß dir schwarz vor den Augen wird. Kühe können auch, wenn sie wollen, unangenehm nach der Seite aushauen. Die beiden, die dritte und die vierte, wollen. Du badest im Stall in einem Trog. Eine von den beiden kommt garantiert herbei und säuft dir das Badewasser aus, obwohl sie zuvor getränkt worden sind. Die fünfte Kuh heißt Liese. Niemals legt sie sich in ihren eigenen Dreck. Es gibt Kühe, die tun das gern, weil der Dreck warm ist. Liese ist eine Feine. So etwas merkst du dir, wenn du die Tiere täglich vor dem Weideaustrieb putzen und ihnen die Schwänze waschen mußt, damit sich der Bauer vor den Leuten nicht zu genieren braucht. Du merkst dir überhaupt mancherlei, wenn du zum erstenmal so weit von zu Hause weg bist, ganz allein. Ein Soldat ist auch in der Fremde, aber niemals so einsam. Da gibt es die Ka­meraden. Du bist mitten in einem Heerhaufen. Hunderttausende teilen mit dir das gleiche Los. Außerdem hast du ein Gewehr.

Meine Freunde sind überall verstreut. Ich bin der einzige fremde Hütejunge weit und breit. Die Gegend ist mir unbekannt. Der Bauer ist knauserig, die Bäuerin scheinheilig, die Tochter schnippisch. Zudem ist sie noch faul. Die Berghänge sind so steil, daß dir die Kühe beim Ackern auf die Ohren treten, wenn du beim Führen nicht achtgibst. Die dritte und die vierte Kuh haben beide einen schlechten Charakter. Sie laufen, wohin sie wollen, natürlich dorthin, wo das Gras am saf­tigsten ist. Das gehört just nicht meinem Bauern, sondern einem, der noch knauseriger ist. Der macht dann meinem Bauern die Hölle heiß, und ich muß dafür büßen. Schlagen tut er mich nicht, das darf er nicht, aber er kann mich mit einer Sichel und einem Buckelkorb nach Brennesseln schicken. Er hat nicht so viel Land, daß er seine fünf Kühe ordentlich ernähren kann. Deshalb müssen Brennesseln ran, die er dann als Häcksel, mit Spreu vermischt, zufüttert. Ich muß die Nesseln eintrichtern, und er nimmt das Häckerling, das längst nicht mehr so brennig ist, von der Schütte ab, angeblich, weil ich das Schwungrad mit den Hackmessern nicht drehen kann. Meine Hände, Arme, Beine, Füße sind blasenhitzig vom Nesselfieber.

Oder er läßt mich beim Dachteeren den Kübel voller Karbolineum die Leiter hinaufschleppen. Natürlich schwappt mir das Zeug auf die Haut und ätzt wochenlang, besonders wenn die Sonne draufbrennt. Ich habe doch nur ein paar kurze Lederhosen. Schuhe und Strümpfe sind für gut, wenn ich mal wieder nach Hause kann. Oder ich muß die 146 Spannkühe beim Kopf halten, in der Grummeternte, bei Gewitter­schwüle, damit sie vor den Bremsen und Stechfliegen nicht durch­gehen. Dann bin ich den Blutsaugern mit ausgesetzt, Stich um Stich, da hilft kein Zappeln und Umsichschlagen. Der einzige Trost ist, daß es den Tieren genauso schlecht geht.

Wenn aber die Kühe nicht in fremdes Eigentum gehen und kein Grund zur Beschwerde über mich vorliegt, dann bleibt mir trotzdem nichts erspart. Früh um fünfe muß ich aufstehen, ausmisten helfen, Dungstapeln, Kühe putzen, auch die beiden unbändigen. Frühstücken darf ich mit den Bauersleuten. Wochentags essen wir jeden Morgen Eingebrocktes, das ist Brot in Malzkaffee mit Milch, so dick, daß der Löffel drin steht. Zu Mittag wird es seltsam. Da füllt mir die Bäuerin dreimal nach, ehe ich den Teller zu einem Viertel ausgelöffelt habe. Dann sagt sie: Heute hat er wieder drei Teller voll verdrückt. Alle Arbeiten, die ich nur halbwegs packen kann, muß ich verrichten. Zu Hause war ich so frei wie ein Vogel. Nie zuvor habe ich eine Mistgabel in der Hand gehabt. Jetzt ist mein Tag von früh bis spät genau eingeteilt. Auch das Land ringsum, die Berghänge, Talwiesen, Weidedriften, ist genauestens eingeteilt. Auf der Weide fängt mein Elend erst richtig an. Manche Weideplätze sind kilometerweit weg. Das Vieh muß über schmale Landwege dorthin getrieben werden. Zu beiden Seiten liegen fremde Felder, Wiesen oder Weiden. Die Kühe wissen schon nach den ersten paar Schritten in der eingeschlagenen Richtung, wohin es gehen soll. Das wäre kein Problem. Aber sie sind immer hungrig. Das Gras am Weg hat irgendein anderer Mensch gepachtet. Kein Maul voll darf davon genommen werden. Auch das wissen die Kühe, aber verstehen tun sie's nicht. Deshalb gucken sie mich verwundert und vorwürfig an, wenn ich sie mit dem Stecken weiterjage. Die beiden Äser glotzen auch böse. Die Tiere können sich nicht daran gewöhnen. Und immer steht irgendwo einer und paßt auf, ob meine Kühe nicht vielleicht doch die Mäuler voll nehmen, unterwegs.

Auf der Hutung angekommen, stehen die Viecher herum und können sich nicht denken, was das soll, denn es ist kaum noch etwas zum Fressen da. Der Rasen ist bis auf die Wurzeln abgenagt. Dann rennen sie auseinander und gehen einzeln über die Flurgrenzen in fremdes Gebiet, in den Schaden, wie der Bauer sagt. Mich nennt er dann Schadenhüter. Ich renne hierhin und dorthin. Während ich die eine Kuh ins Nichts hereinkehre, denn eine Weide ohne Gras ist nichts, fressen die anderen gierig drauflos. Am bravsten und einfältigsten ist Sterl, die Kuh mit dem Sternfleck. Sie geht als Leittier im Gespann. Sie hat genausoviel Hunger wie die anderen Tiere. Aber sie kennt die Zurufe, und vor allem hat sie ein frommes Gemüt. Sie streckt den Hals hinüber in das andere Revier. Aus ihrem Maul sabbert der Speichel. Ich schreie: Sterl, gehst herumma! Da kehrt sie wie ein gescholtenes Kind um und läßt den Kopf hängen. Mit ihren großen dunklen Kuhaugen schaut sie mich traurig an. Ihre Wamme ist eingefallen, die Knochen stehen erbärmlich heraus. Angewidert verbeißt sie die Geilstellen, das sind dunkelgrün strotzende Grasringe rund um den gefallenen Kuhdreck, die kein Tier mag. Das Herz tut einem weh bei dem Anblick. Meist lasse ich sie eine Weile beim Nachbarn grasen, ehe ich sie zurückrufe. Wie macht man einem Rindvieh klar, was Grundbesitz ist? Sterl, glaub ich, weiß es, und wenn ich sie nicht aus Mitleid fremdes Gras rupfen ließe, würde sie vor lauter Bravheit Hungers umstehen. Da sind die beiden Äser ganz andere Typen. Wenn sie angerufen werden, rennen sie erst recht weiter in das andere Besitztum hinein. Dabei fressen und fressen sie, daß es eine Schande ist. Das tun sie aus reiner Schlechtigkeit. Ihnen gegenüber wende ich deshalb eine eigene Taktik an. Wenn die im Schaden stehen, dann hilft nur eins: anschleichen. Anschleichen, und dann wie, das Donnerwetter über sie her, gleich mit dem Stecken drauf! Elendiges Aas, verrecktes. Abends im Stall oder morgens beim Putzen zahlen sie mir's dann heim, mit Tritten in den Hintern oder gegen die Beine. Oder sie treten mir auf den Fuß und tun so, als merkten sie nichts. Aber satt werden sie immer, die beiden Wänster. Wenn ich eintreibe, schaut der Bauer nach den Futterlöchern, das sind die ein­gefallenen Stellen überm Pansen bei Wiederkäuern. Wie kann ein Mensch vom anderen das Unmögliche erwarten? Fünf Kühe ohne Schaden satt zu hüten., das ist hier das Unmögliche. Das alles macht mir Kummer. Mit niemandem kann ich darüber sprechen. Mit dem Bauern ist nicht zu reden, der lebt schon immer so. Nachts liege ich oft wach und heule in mein Kissen und ärgere mich sogleich über soviel Wehleidigkeit. Das ganze nachtschwarze Tal ist voll von meinem Heimweh. Aber ausreißen, bei Nacht und Nebel auf und davon gehen, das gibt es nicht. Das wäre glatte Fahnenflucht. Ich muß flink werden wie ein Windhund, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl, so will es der Führer. Dazu ist der Dienst bei einem Bauern, der zwar wenig Land hat, aber viel Vieh halten will, gerade richtig. Wenn ich dann später zu den Soldaten komme, habe ich das Schlimmste bereits hinter mir. Außerdem muß ich hier arbeitsmäßig den Sohn des Bauern vertreten, der an der Front kämpft. So beiße ich die Zähne zusammen und halte aus. Sechs Wochen können nicht ewig dauern. Ich halte zu Sterl, zu Streusel und zur Liese, die wird nämlich auch so eine brave dämliche Kuh. Ich halte aus und führe meinen Kampf mit den beiden Äsern, die immer satt von der Weide kommen, trotz Anschleichens und Drauf­hauens mit dem Stecken. Jeden Tag sehne ich Regen her, damit das Gras schneller nachwächst. Wenn es dann regnet, steht der Bauer am Bach und fischt im trüben. Es gibt gebackene Forellen zu Mittag. Auch ich krieg eine. Der Bauer schaut mich dazu an, als hieße das: So wird's gemacht, du Trottel. Um mir meine Nichtigkeit klarzumachen, braucht es keiner großen Worte, die der Bauer sowieso nicht hat. Ich weiß, daß ich elend und verlassen bin.

Der Regen hält nicht lange an. Die Sonne brennt wieder. Das Gras verdorrt. Der Bach wird wieder rein und klar. Die Kiesel leuchten auf dem Grund. Die Forellen sehen zwar wieder gut, wissen aber kaum wohin, so niedrig steht das Wasser. Ich hüte am Bach. Die Kühe brechen in das Uferdickicht ein, finden hier und da noch etwas Grünes und geben Ruhe. Da sehe ich die Forellen fahren. Im seichten Bachbett steige ich ihnen nach. Wo ein unterspülter Stein liegt, lange ich drunter und hole sie hervor, die flinken Fische, denen die Heimat ausgelaufen ist. Das ist ebenso gemein wie das Fischen im trüben. Die Forellen, wenn ich sie mit festem Griff aus ihrem letzten Unterschlupf her­vorhole, schnappen stumm mit dem Maul, schnellen hilflos mit dem Schwanz und gucken mich aus ihren klaren runden Augen voller Schrecken an. Damit ich diesen Blick nicht länger ertragen muß, er­schlage ich sie mit einem Stein. Gnadenlos zerknirsche ich ihnen den Kopf. Sind die Fische einmal tot, ist auch für mich alles ausgestanden. Das ist, als töte ich mit jedem Schlag etwas in mir ab. Ich spüre, wie ich wild werde, vom Töten. Wo soll's hinaus, das leidige Mitgefühl. Wenn du so willst, ist die ganze Welt voller Augen. Jeder Heuschreck glotzt dich ängstlich an. Was soll denn einmal für ein Soldat aus mir werden, wenn sogar der stumme Fisch mich dauert? Ich will nach Afrika, Asien oder wenigstens in die Ukraine, das Großdeutsche Reich vor seinen Feinden schützen.

Stolz überreiche ich der Bäuerin meine Beute. Sie reicht für eine ausgiebige Forellenmahlzeit. Das Knirschen der Hirnschalen ist ver­gessen. Knusprig knirscht es zwischen den Zähnen. Vergessen ist der stumme Fischblick. Ich habe acht, daß der Bauer diesmal anders guckt. Ich werde wieder Forellen greifen, solange die Wassernot im Bach anhält.

Am anderen Morgen steht ein Gendarm vor dem Haus, ein vier­schrötiger Kerl mit einem Bierwanst und 'nem Bullen­beißer­gesicht. Jetzt ist es aus mit mir. Jetzt kriegt er mich am Hals wegen der Wild­fischerei oder wegen des Schadenhütens oder wegen beidem oder nur deshalb, weil ich meine Pflicht so und so nicht erfülle. Da erst fällt mir der schmächtige Kerl auf, den er am Kragen festhält. Es geht also gar nicht um mich, stelle ich erleichtert fest. Es geht um den da mit der gelblichbraunen Militärhose und der russischen Militärbluse. Seine Füße stecken mit Fußlappen in Holzschuhen, woran gleich zu sehen ist, daß die Russen nicht einmal Stiefel haben. Sein Kopf ist rund und kahlgeschoren, sein Gesicht fahlgrau, und der Hosenboden hängt ihm in den Kniekehlen.

Da bringe ich euch also so ein Bürschchen, poltert der Gendarm. Ausreißen wird er nicht, denn er kommt nicht weit. Und wenn wir ihn dann kriegen, ist es aus mit ihm. Das weiß er. Der ist heilfroh, daß er für 'ne Weile Landluft kriegt. Wenn er aber Zicken macht, wenn er faul ist oder Eier findet und sie nicht abgibt, sondern aussäuft, müßt ihr das melden. Dann kommt er sofort ins Lager zurück, und dann...
Was dann mit dem Gefangenen geschehen wird, sagt der Gendarm nicht, aber das wird er schon selber wissen.
Wie heißt er denn? fragt mein Bauer.
Name! herrscht der Gendarm das Soldatenbürschchen an.
Petro, sagt er.
Mein Bauer geht hin und befühlt seine Muskeln. Bäume reißt der nicht aus, brabbelt er.

Das ist der erste gefangene Untermensch in meinem Leben. Er ist höchstens zwei Jahre älter als ich. Mit sechzehn werde auch ich Soldat sein, aber kein Gefangener, sondern als Besatzung. Vielleicht aber dauert der Krieg doch noch eine Weile, damit auch ich noch an die Front komme. Viel Aussicht besteht dafür freilich nicht, wenn die ihre Sechzehnjährigen jetzt schon ins Feuer schicken.

Als erstes muß ich ihn an den Bach führen. In der Hand trage ich ein Stück Tonseife. Das darf ich ihm erst am Wasser aushändigen. Er soll sich abseifen, und dann muß ich die Seife sofort wieder in Empfang nehmen. Läßt er sie ins Wasser fallen und das Stück wird fortgespült, wird der Fall gemeldet. Dann marschiert er zurück ins Lager. Und dann ...

Ich achte darauf, daß er sich richtig wäscht. Vielleicht hat er Läuse, dieser Petro. Dabei betrachte ich seine mageren Arme, die hervorste­henden Rippen und die grützgraue Gänsehaut, die er von dem bißchen kalten Wasser gleich bekommt. Mit so einem Menschenmaterial können die freilich keinen Krieg gewinnen. Jetzt fühle ich mich schon eine ganze Klasse besser. Ich bin nicht mehr der Niedrigste in diesem Tal. Einer ist noch unter mir und muß tun, was ich befehle. Im Bauernhause bekommt er seinen eigenen Blechnapf und sein bestimm­tes Eßbesteck, so als ob er giftig wäre. Auch darf er nicht mit uns an einem Tisch essen. Mit seinem Napf zwischen den Knien hockt er auf der Ofenbank. Satt kriegen wir ihn, das ist keine Frage. Die Bäuerin füllt ihm dreimal nach, ehe er ein Viertel seiner ersten Portion auf hat. Dann sagt sie: Der putzt aber drei Teller weg. Daß sie es mit ihm genauso macht wie mit mir, gibt mir zu denken. Das ist ja gerade so, als wäre der Unterschied zwischen ihm und mir, von den Bauersleuten aus gesehen, gar nicht so groß. Ich fühle mich nicht mehr ganz so überlegen. Aber das Heimweh, das mich so lange geplagt hat, ist fast ganz verschwunden.
Die Bäuerin fragt: Du Russki?
Er antwortet: Ja, Ukraine.
Ist doch ganz egal, brummt der Bauer. Dort stehn jetzt Unsere. Da hebt sich alles andere auf.

Ich ziehe mit Petro auf die Hut. Er muß unsere Grenzen kennen­lernen, damit er mein Amt übernehmen kann, denn die sechs Wochen Landdienst gehen endlich doch vorüber. Er versteht kaum ein Wort Deutsch. Ich zeige auf eine Kuh und sage: Kuh.

Er nickt und sagt: Ukraine - Korowa. So tauschen wir unsere Sprache aus, Ding für Ding und Wort für Wort. Petro, wie heißt das Horn von der Kuh? Wie heißt der Schwanz von der Kuh? Petro, wie heißt das, was die Kuh unterm Schwanz hat? Petro lacht, zum ersten­mal seit er bei uns ist. Wir lachen gemeinsam, zwei Hütejungen auf der Weide. Dann zeige ich ihm die Grenzen unserer Hutung. Ich trample auf unserem kahlgefressenen Land herum und sage: Hier gut. Du bleiben. Petro grinst. Ich trete auf die saftige Nachbarsflur über und sage: Hier nix gut. Du Lager. Petro vergeht das Grinsen. Er wird trotzdem nicht lange bleiben, soviel ist mir jetzt schon klar. Ich tu, was ich kann. Ich zeige ihm, wie man die beiden Äser hereinkehrt. Ich schleiche mich an wie noch nie und lasse meinen Haselstecken sausen. Gehst herumma, Sauluder, dreckertes! Petro vergißt seinen Kummer. Er feixt übers ganze Gesicht. Es gibt noch andere Mittel, Kühe bei­zukehren. Man kann mit Erdbatzen nach ihnen schmeißen. Mit Knütteln oder notfalls auch mal mit einem Stein. Aber diese Methode zeige ich ihm nicht. Wenn ihn dabei einer beobachtet, ist es aus mit ihm. Außerdem halte ich diese Methode selber für ungut, sogar den beiden Äsern gegenüber. Es wird ihm alles nichts helfen. Die beiden Mistviecher werden weiter in den Schaden gehen. Er, Petro, wird sie zurückholen, wie ich es ihm beigebracht habe. Sie werden ihm dafür die Schwänze um die Ohren hauen, im Stall, wenn er gerade nicht daran denkt. Kein Mensch kann ständig vor ihrer Tücke auf der Hut sein. Sie werden ihm in den Hintern treten, vielleicht gerade in dem Augen­blick, wo seine Gedanken weit weg sind, zu Hause in der Ukraine. Und eines Tages, soviel ist sicher, wird ein Nachbar die Trittsiegel und die Fraßstellen in seinem Revier entdecken. Dann, Petro, ade. Was dann im Lager mit dir geschieht, das weißt du allein. Noch kann ihm nichts passieren. Noch bin ich der Oberhirte und trage die Verantwortung.
Ich frage: Petro, was heißt Grenze?
Ukraine nix Graniza, sagt er.
Wie denn, keine Grenzen? So etwas gibt es ja gar nicht.
Nix Grenzen, wiederholt Petro und macht eine ausholende Be­wegung über das ganze Tal. Kolchos, verstehn?

Ich habe natürlich schon davon gehört. Das muß ja eine schöne Schlamperei sein, denke ich. Aber das wird anders. Jetzt sind die Unsrigen dort. Die werden schon Ordnung schaffen, verlaß dich drauf.

Für mich kommen herrliche Tage. Wir hüten zu zweit. Petro muß erst alle Grenzen und Driften kennenlernen. Er muß begreifen lernen, was Grenzen überhaupt sind, Ordnungslinien, die das ganze Leben bestimmen. Wehe, wer sie übertritt. Dann erst kann ich ihm den Hirtenstab übergeben, meinen guten Haselstecken. Denn ich gehe bald nach Hause. Ich will keine schlechte Ablösung zurücklassen. Petro muß also laufen, je mehr, desto besser. Ich stehe wie ein Feldherr auf der Anhöhe, weise hierhin und dorthin und befehle, wann und nach welcher Kuh er laufen muß. So lernt er das Land am besten kennen. Ich werde dir schon beibringen, was Grenzen sind, Petro. Schau mal, dort! Was machen die beiden Äser in dem Hafer? Dort dürfen sie nicht sein, das ist doch klar. Es ist nicht einmal unser Hafer. Lauf, Petro, lauf! Kehr sie herum! Petro wetzt los. Mit seinen plumpen Holzkloben trabt er dahin. Der hat im ganzen Leben noch keine Kuh getrieben. Anstatt sich anzuschleichen, poltert er wie ein lahmer Gaul durch die Gegend. Anstatt die Ausbrecher zu umgehen, rennt er auf sie zu, rennt er hinter ihnen her, wohin die mit ihm wollen. Kuda? schreit er mit seiner kehligen Stimme. Kuda? Kuda? - Als ob das etwas wäre. Die beiden Ausreißer tun natürlich so, als wüßten sie nicht, was er von ihnen will. Niemand kann ihnen das verübeln. Was heißt schon: Kuda?

Ein solches Wort haben sie noch nie gehört. Das heißt: Herumma!, du Hornochse, schreie ich ihm nach. Aber das hört er nicht. Die Jagd geht über Stock und Stein, quer durch die ganze Haberleite, daß es nur so rauscht. Mit steil aufgerichteten Schwänzen, an denen die weiß­gewaschenen Quasten wie Fähnchen wehen, stürmen die beiden Äser durch die Landschaft. Jetzt haben sie schon zwei, drei Grenzen über­treten, und der seltsame erdbraune Kerl mit seinem komischen Kuda strampelt ihnen immer noch keuchend hinterdrein. Um Himmels willen. Mir wird ganz heiß. Ich schau nach fremden Beobachtern aus. Dann flitze ich los, barfuß. Petros Rufe klingen fern. Nach langer Hatz komme ich den Viechern entgegen. Die anderen drei Kühe grasen inzwischen seelenruhig auf verbotenem Gebiet, da brauche ich mich gar nicht umzusehen. Hol die anderen zurück! befehle ich. Die beiden überlaß nur mir. Arg haben sie's mit ihm getrieben, ärger als jemals mit mir. Was hast du bloß mit deinem dämlichen Kuda? Wie soll das überhaupt heißen? Du kannst doch eine Kuh, die dir davonläuft, nichts fragen wollen, Petro ist vollkommen fertig. Er kann es mir jetzt und später nicht erklären. Kuda heißt jedenfalls nicht: Kuh da! Das wäre wenigstens ein Anruf. Es ist kein Ding, auf das man zeigen kann. Kuda ist etwas Unfaßbares. Man muß es ausrufen, wenn fremde Kühe in einem fremden Land über unbekannte Grenzen stürmen. Dann klingt es wie ein Hilferuf. Aber helfen tut es nicht, und es gibt wenig Hoff­nung, daß ein anderer hilft, schon gar nicht, wenn ich erst einmal von hier fort bin. Mehr kriege ich darüber nicht zusammen.

Meine Zeit ist um. Ich ziehe Schuh und Strümpfe an. Er ist ge­wachsen, sagt der Bauer und meint mich. Wenn er jeden Tag drei Teller leerputzt, sagt die Bäuerin und meint auch mich. Noch ehe es ans Abschiednehmen geht, kommt ein Anrainer mit dem Gendarmen daher. Er hat auf seiner Grummetwiese Kuhfladen entdeckt. Mir ist klar, daß diese Falldrecker nur von den beiden Schindludern stammen können. Da steht nun der geschädigte Bauer. Den Gewaltmenschen hat er gleich mitgebracht. Wer hat gehütet? fragt der Gendarm und stiert, als wenn er mich fressen wollte. Ich frage dich noch einmal: Wer hat gehütet? Wenn du das warst, dann kannst du gleich noch drei Wochen dableiben. Du wirst den Schaden abarbeiten. Wenn es der da war, nehm ich ihn gleich mit, und damit hat sich's.

Ich habe mich wie ein kleines Kind auf zu Hause gefreut, und das will etwas heißen, wo ich doch gewachsen bin. Noch drei Wochen dableiben, bei einem anderen Bauern Strafe abdienen, das halte ich nicht aus. Ich spüre, wie mir die Tränen rollen. Dagegen kann ich rein gar nichts tun. Und Petro steht dabei mit versteinertem, aschgrauem Gesicht. Ich brauche nur mit dem Kopf nach ihm zu deuten. Darauf will der Gendarm sicherlich hinaus. Das wäre die einfachste Lösung. Und sie wäre nicht einmal erlogen. Ich habe Petro richtig eingewiesen. Er hat nicht darauf gehört, ist den Viechern bloß nachgerannt, kopflos, über und über. Ob ich jetzt nach Hause gehe oder er ins Lager, ich sehe ihn sowieso niemals wieder. Ich quetsche noch ein paar Tränen mehr heraus. Es fällt mir nicht schwer. Vielleicht sind das meine letzten Kindertränen. Ich greine: Wir waren doch beide zusammen.

Mit dieser dritten Möglichkeit hat der Gendarm anscheinend nicht gerechnet. Verdattert schaut er von einem zum anderen. Dann sollen sie nur beide zusammen ins Lager, tobt der Geschädigte. Da gehören sie nämlich hin. Ja, das wäre vielleicht am besten, wettert mein Bauer und gibt dem anderen recht, nur, um ihn noch einmal zu beschwich­tigen. Und dabei bleibt es für diesmal auch. Ich muß mir sagen lassen, daß ich um nichts besser bin als dieser Iwan und daß ich vielleicht mit ihm gemeinsame Sache mache. Da brülle ich noch mehr. Im Moment weiß ich nicht, was schlimmer sein könnte, noch drei Wochen Straf­arbeit oder mit Petro ins Gefangenenlager. Einen richtigen Unterschied zwischen ihm und mir haben die Bauersleute ja doch nie gemacht. Jedenfalls wäre ich dann nicht so allein wie hier. Aber es bleibt dabei: Ich darf nach Hause. Den Petro aber werden sie doch noch erwischen, morgen oder übermorgen, er mag sich anstrengen, wie er will.

Ich gehe in den Stall und nehme Abschied. Ich umhalse Streusel und Sterl, die beiden dummen, gutmütigen Kühe. Mir ist weh ums Herz, wenn ich daran denke, wie sie eines Tages doch geschlachtet werden, so gut sie zu den Menschen auch immer waren. Ich denke an den stummen Blick der Fische, den ich eiligst ausgelöscht hatte, mit einem Stein, um ihn nicht länger ertragen zu müssen. Es ist etwas Trauriges in der Welt, ich weiß nicht, was. Ich klopfe der feinen Liese auf die Kruppe und schau mich noch einmal nach den beiden um, die ich nie mit Namen nannte. Sie sind gut genährt und lebenslustig. Na, dann geh ich, sage ich.
Kuda? fragt Petro.
Nach Hause, du verstehn? Nach Hause? Petro verstehn, sagte er leise.
Mich würgt es im Halse, ganz anders als vorhin. Behüt dich Gott, Mensch!

Anmerkung:
das russische Wort "kuda?" bedeutet "wohin?"

Petro -- kuda?
veröffentlicht in der Anthologie
Ebereschentage -
10 Erzählungen vom gewöhnlichen Faschismus

erschienen 1971 im
Kinderbuchverlag Berlin

   

zurück zur Seite "Werke und Texte"