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Erzählungen und Buchauszüge
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Rufmord an
Erich Köhler

Beurteilung des Weskottschen "Forschungs"- Berichts

 

Die Bürde der Höflichkeit
Reise-Skizzen aus Volkschina

abgedruckt in:

"Ruf in den Tag"
Jahrbuch 1962
Institut für Literatur "Johannes R. Becher"
Paul List Verlag, Leipzig

Vorbei an endlosen Straßenbaukolonnen, an einem Ameisen­gewimmel von Menschen, an Straßenbaumaschinen, Ochsen­karren und Handkarren mogelt sich ein "Pobeda". Das Quiet­schen ungeölter Karrenräder, das Stampfen von Preßluftanlagen, einzelne melodische Rufe aus dem Stimmengewirr der Strecke dringen bis hinein in den Wagen. Auf einem Damm, der die Straße in einiger Entfernung begleitet und wahrscheinlich ein Flußufer säumt, flammen hellrote Wimpel auf. Man sieht wenig Bäume. Die winterliche Landschaft ist kahl und schneelos. Da­für ragen Fahnen wie Bäume in den tiefhängenden Himmel. Und überall, wo die Fahnen stehen, sind Menschen, wird gehackt, ge­schaufelt, getragen, gestampft, gewuchtet, gesungen. Zu Dutzen­den, zu Hunderten, zu Tausenden. Man könnte durch das ganze Riesenland Volkschina fahren. Überall das gleiche Bild. Die Chi­nesen sind stolz darauf. Den Europäer, den sie hier in ihrem Wagen haben, beeindruckt es gewaltig. "Mein Gott", so mur­melt er, "was die überall wühlen. Das Unterste kehren sie nach oben. Kein Krümel bleibt auf dem andern."

Chinesischer Fischer - Holzschnitt von Chuan Hsien-Kuang

Sie fahren aus der Dreistädtestadt Wuhan in nördlicher Rich­tung. Ihr Ziel ist eine Volkskommune. Durch den Rückspiegel kann der Fahrer zwei vertraute Gesichter sehen, das des Sekre­tärs der Gesellschaft für Kunst und Kultur aus Wuhan und das des Dolmetschers. Daneben hockt ein wenig blaß und fahlblond mit sehdurstigen Augen ein Fremder. Ein Schriftsteller aus der befreundeten DDR, denkt der Fahrer. Eine Volkskommune will er sehen. Er will dort mitarbeiten. Wie er sich das vorstellt. Sol­len wir einen Gast vielleicht arbeiten lassen?

Und der Sekretär der Gesellschaft für Kultur und Kunst denkt: 'Ganze fünf Tage ist er bei uns in Wuhan. Davon will er drei Tage in einer Volkskommune arbeiten. Wie er sich das vorstelle? Was soll er denn da bei uns sehen? Wir haben genausoviel auf zuweisen wie Shanghai, Tschungking, Tschöngtu, Lojang und auch Peking.'

Als der Wagen in eine kleine Nebenstraße einbiegt, fängt der Gast an zu rechnen. 'Drei Tage habe ich vor mir. Um neun Uhr sind wir losgefahren: um dreizehn Uhr werden wir dort sein. Wie ich die Dinge kenne, wird es nicht ohne längere Einleitung gehen. Der erste Tag ist also schon futsch. Hinzu kommt ein halber Rückreisetag. Bleiben ganze anderthalb Tage zum Arbeiten.' So sehr hat er sich in seine fixe Idee verbohrt, wenigstens einen kleinen Teil der Aufmerksamkeit, die man ihm als Gast in diesem Land widmet, abzuarbeiten, daß er die kostbaren Stun­den, die er so dahinfährt oder mit chinesischen Genossen am Tisch sitzt, gar nicht rechnet.

Aber er kann nichts dafür. Ihn bedrückt die Gastfreundschaft dieses Volkes. Und dann: 'Bei der Arbeit', denkt er, 'lerne ich die Menschen besser kennen.'

Sein Blick schweift über die Butzenscheibenflächen säuberlich ein­gedämmter Reisfelder, in denen das trübe Wasser schimmert. Die ganze Gegend scheint ihm künstlich gemacht. Selbst die Wasser­büffel, deren mächtige, geriefte, zurückgebogene Hörner in Kon­trast zu der eigentümlich sanften Kopfhaltung stehen, scheinen eigens für dieses Land erfunden.

Der Wagen hält. Sie sind in der Kommune. Das heißt, sie fuhren schon seit einer Stunde durch das Gebiet der Volkskommune. jetzt stehen sie vor dem Gebäude des ständigen Rates der Volks­kommune. Ein tristes Bauwerk, die Außenwände aus Ziegeln, anderthalb Stein dick. Weißgetünchte Zwischenwände aus Bret­tern, beiderseits mit Papier überklebt. Die Vorderfront hat eine Balustrade, eine Art durchgängigen Balkon, mit Pfeilern gestützt, so daß darunter ein Wandelgang entsteht. Es fehlt also ein innerer Korridor. Alle Zimmer, oder sagen wir Verschläge, sind nur von außen, vom Gang oder vom Balkon aus zugängig. Zweier­lei sieht man dem Bau auf den ersten Blick an. Erstens: Das Ge­bäude ist ein Provisorium. Zweitens: Es schützt mehr vor Hitze als vor Kälte. Der Vorsitzende der Volkskommune begrüßt den Gast mit den Worten: "Wenn wir soweit sind, reißen wir die Bretter hier 'raus und benutzen das Haus als Lagerschuppen für Baumwolle. Wir hatten noch keine Zeit, massiv zu bauen."

In einem der oberen Räume steht ein großer runder Tisch gleich am Eingang des länglichen Zimmers, das bis auf die Stuhlreihe ringsum leer ist. Das wird wohl das Versammlungszimmer sein, vermutet der Gast und denkt: 'Unseres ist ebenso kahl wie die­ses hier. Wenn man darin auf und ab geht, hallt es von den Wän­den.' Dann nehmen sie Platz. Der Vorsitzende gibt zu Ehren des Gastes einen Empfang. Während der Koch, er muß schon Stun­den vor Eintreffen der Gäste mit seinen Künsten begonnen haben, auftragen läßt, macht der Vorsitzende den deutschen Gast mit den wichtigsten Daten der Kommune bekannt. Der Deutsche, er hat ja keine anderen Vergleiche, denkt immer wie­der an seine Genossenschaft, der er angehört. "Zu Hause" sind sie eine LPG mit "lumpigen" eintausend Hektar Gesamtfläche. Er selbst ißt bescheiden und froh, daß er nicht auffällt, an dem ge­meinsamen Mittagstisch der LPG. Hier steht er auf einmal im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Menschen, deren Betrieb, wenn man so sagen darf, hundertundfünfzig Quadratkilometer groß ist. Sechs volkreiche Dörfer und zweihundert kleinere Ort­schaften gehören dazu. Die Gesamtmitgliederzahl beläuft sich auf vierzigtausend Menschen. Der Deutsche muß seinen Gastgeber mit einem Kreisratsvorsitzenden oder dem Oberbürgermeister einer mittleren Stadt vergleichen. 'Ich war noch nie beim Ober­bürgermeister zu Gast', denkt er und ist etwas verlegen. 'Wie sich verhalten, das ist die Frage.' Der "Oberbürgermeister" rückt sich die Mütze zurecht und langt dem Gast, der noch immer er­staunlich ungeschickt mit Stäbchen hantiert, einige Bissen hin­über. Dabei erzählt er, daß der Hauptbewässerungskanal der Kommune dreiundsiebzig Kilometer und das Autostraßennetz zweihundertundsechzehn Kilometer lang ist.

'Nur gut', denkt der Gast inzwischen flüchtig, 'daß die Geste des Helmabnehmens zum Zeichen friedlicher Gesinnung in diesem Land nicht zum Dogma geworden ist', und zieht seinerseits die Mütze in die Stirn. Ihn fröstelt. 'Es gab hier lange Zeit immer irgendeine starke Zentralgewalt. Die Feudalklasse konnte nicht in eine Schicht freier, einander ständig befehdender Raufbolde zerfallen, so daß auch das Mützenabnehmen kein Motiv fand-' So resümiert er bei sich. Dann hebt er sein Glas und trinkt mit den anderen zusammen süßen Wein auf die Freundschaft zwi­schen dem deutschen und dem chinesischen Volk. Sie sind am Tisch ihrer sieben. Da ist der Fahrer, der Wuhaner Kulturbund­sekretär, den der Deutsche bei sich nur den "K. u. K.-Sekretär" nennt, weil er "Gesellschaft für Kultur und Kunst" auf seine Weise abkürzt, da ist der Dolmetscher, der ihn durchs Land begleitet, da ist ein Redakteur der Kreiszeitung "Jün-Mung", welcher in der Kommune Beiträge sammelt, dann der Vorsitzende und schließlich noch der Parteisekretär der Volkskommune. Der letz­tere ist ein fast still zu nennender Genosse, groß von Gestalt, mit scharfgemeißelten Gesichtszügen und einem schmalen, kühnge­schnittenen Mund, der jedoch ständig in einer Weise lächelt, als ob er sich jeden Augenblick öffnen wollte, um etwas ungemein Gütiges zu sagen. Dieser Mann hat dichtes, gewelltes, mit silber­grauen Strähnen durchzogenes Haar. Er guckt den Gast an, lächelt und schweigt.

Nun wendet sich der Vorsitzende an den Gast und fragt, was er zu sehen wünscht. Der Gast antwortet nachdrücklich und genau: "Ich möchte in einer Brigade irgendeine Arbeit tun. Ich bin näm-lich vom Land. Früher war ich im Bergbau, aber dann bin ich aufs Land gegangen. Ich möchte, daß man von mir keine Notiz nimmt, daß man mich behandelt wie jeden anderen und mir eine Arbeit gibt, bei der ich mit vielen Menschen zusammen bin."

Das Mädchen, das die Speisen serviert hat, bringt jetzt ein Tisch­chen das gerade groß genug ist, um Teetassen und Zigaretten zu tragen. Sie gießt Tee ein, und die Gäste setzen sich um das Tischchen. Der Vorsitzende raucht mit sonderbar bekannten Be­wegungen einen Glimmstengel an. Der Deutsche beobachtet ihn schon eine ganze Weile. Die Art, wie der Mann seine Mütze zu­rechtschiebt, wie er in seinem Notizbuch blättert, alles an ihm kommt dem Fremden bekannt vor. Er denkt: 'Der K. u. K.-Mann will und will nicht abfahren.' Er wendet sich dunkler Ahnungen voll an den Dolmetscher: "Sag mal, Meister Jen. Der will doch nicht etwa hierbleiben die drei Tage über?" Sie haben sich rasch angefreundet, die beiden. "Aber natürlich, hast du etwas anderes erwartet?" - "Du lieber Himmel, was soll ich denn mit ihm an­fangen, wenn ich auf Arbeit gehe!" Der Dolmetscher macht schmale Augen. Dann sagt er halblaut: "Schlag dir das aus dem Kopf, Mann. Die werden dich arbeiten lassen! Du bist imstande und baust die Kommune in drei Tagen einzugsfertig auf. Und was bleibt dann für uns zu tun übrig?" Schon mischte sich der Vorsitzende ein. "Wir wollen natürlich, daß Sie so viel wie mög­lich sehen. Zum Beispiel ist die Kommune keineswegs mit einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft zu vergleichen. Sie umfaßt viel mehr: Landwirtschaft, Handel, Verkehr, Kultur und Bildung, staatliche und kommunale Verwaltung und be­müht sich in ganz besonderem Maße um den Aufbau einer neuen Industrie." Dann beginnt er zu erzählen:

"Vor der Befreiung des Landes durch ihre Volksbefreiungsarmee lebten diese Bauern wie das Vieh und mit dem Vieh zusammen, sofern sie welches hatten. Ihr ganzes Leben war bestimmt von drei großen Ängsten: Angst vor Überschwemmung, Angst vor Dürre, Angst vor Krankheit. Sie hatten Angst, weil sie machtlos dagegen waren. Jedes der 'großen Drei' bedeutete Mißernte, Zahlungsunfähigkeit vor dem Grundherrn, Bettelstab, Hungertod. Der Hunger war schon zu Zeiten durchschnittlicher Ernten der ständige Begleiter des Bauern. Das für diese Gegend lebens- notwendige Bewässerungssystem war durch jahrzehntelange Miß-wirtschaft durch die Feudaldespoten vernachlässigt worden. Die Arbeitsproduktivität war niedrig, die Ackergeräte blieben jahr-tausendelang die gleichen, aber der Pachtpreis für den Boden stieg und stieg. Unerbittlich trieb der Grundherr seine Rente ein, deren Höhe er willkürlich festlegte. Verkauf in die Sklaverei, in die Prostitution, um den Pachtpreis hereinzubekommen. das war das Los unzähliger Mädchen. Oft war das die letzte Rettung der übrigen Familie. Die Geburt eines Mädchens machte die Mutter von vornherein traurig. Um wenigstens den künfti-gen Verkauf des Mädchens zu sichern und dem Kind in der Sklaverei das Leben etwas erträglicher zu machen, wenn auch nur für die kurze Zeit seiner Jugendblüte, mußten die Eltern den Schönheitsidealen der Grundbesitzer, der herrschenden Feudalschicht, Rechnung tragen. Dem Mädchen wurden von Kind auf die Füße bandagiert; jede Zehe wurde einzeln und der Fuß im Ganzen kunstvoll verkrüppelt. Die Zähren der Mutter wurden in die Bandagen hineingewickelt. Ein grausamer und ohnmäch-tiger Liebesdienst. Der Sohn aber durfte zusammen mit der Mutter den Pflug ziehen und später auf seinem Rücken die Ernte zum Grundherrn schleppen. Eines Tages wurde er wie ein Stück seltenes Wild vom Felde weg für das Heer des erstbesten Militärdespoten, später Tschiang Kai-scheks eingefangen. Ob er je so viel Geld erhungern konnte, um sich eine Frau zu kaufen. wußte er nie. Und Frauen waren aus all den Gründen nur käuflich zu haben - je kleiner die Füßchen, um so teurer. Wie gut für ihn, daß er sich keine teure Frau leisten konnte, denn was nützte ihm eine verkrüppelte Frau?"

Die Stimme des Vorsitzenden klingt sarkastisch: "Kann sie viel­leicht vor dem Pflug gehen?"
Er fährt fort: "Die Hütten der Bauern waren mit selbstgefloch­tenen Reisstrohmatten gedeckt. Durch diese Matten regnete es auch eine Woche nach dem Regen, wenn draußen längst wieder die Sonne schien. Die Hütten glichen demzufolge feuchten Kel­lern. Krankheiten und Seuchen nisteten darin. Aber womit sollte der Bauer seine Unterkunft decken?"

Während der Vorsitzende erzählt, spinnt der Gast vor sich hin. 'Warum', so denkt er, 'haben sie das Lumpengesindel nicht zum Teufel gejagt?' Er denkt ein wenig an die Kolonen der Römer, an das Schicksal des Römischen Reiches. Er hat einiges aus der Geschichte der deutschen und der russischen Arbeiterbewegung ge­lernt, ein wenig von dem, was er selbst nicht miterlebte, gelesen. Der Vorsitzende erzählt von den Leuten, welche den Bauern das Mark aus den Knochen saugten, das Bewässerungssystem ver­fallen ließen, den Handel an ausländische Krämer verhökerten, die Ausbeutung der Städtebevölkerung durch ausländische Im­perialisten duldeten, mit ihnen ein Bündnis eingingen, von den Schmiergeldern für den Opiumhandel Paläste bauten und den Staat mit Land und Leuten verkauften.

Der Deutsche hat den Mantelkragen hochgeschlagen und wärmt sich die Hände über einem Becken mit glimmender Holzkohle, welches mittlerweile von dem Mädchen, das ihnen aufwartet, hereingebracht worden ist.

"Nachdem die Japaner vertrieben waren, wurden die reaktio­nären Kuomintangkräfte, die sich mit den Amerikanern verbün­det hatten, vernichtet. Danach erfolgte die Liquidierung der ver­streut im Lande sich haltenden Banden der Grundbesitzer. Dann, neunzehnhunderteinundfünfzig, machten wir die Bodenreform. Nun hatten unsere Bauern das Land, aber die Erträge waren nicht größer als zuvor. Sie waren eher noch geringer. Die Be-wässerung war durch den jahrelangen Kampf nicht besser ge­worden."

"Der Mangel an Arbeitsgeräten und Zugtieren zwang uns zur gegenseitigen Hilfe, bis wir schließlich zur gemeinsamen Bearbeitung der Felder auf der Grundlage landwirtschaftlicher Pro­duktionsgenossenschaften übergingen."

Der Erzähler zieht ausgiebig an seiner Zigarette und kneift die Augen zusammen. Ein nachdenklicher Zug gräbt sich in sein Gesicht. Er sieht sich vor der Aufgabe, dem Deutschen klarzu­machen, warum es nicht bei den Produktionsgenossenschaften geblieben war. Aus den Augenwinkeln schießt er einen kurzen Blick zu dem Gast und denkt: 'Soviel mir bekannt ist, haben die dort in Deutschland eine andere gesellschaftliche Struktur.' Und seufzend fährt er fort: "Aber das Einkommen der Genossenschaften blieb gering. Die Arbeitsproduktivität stagnierte fast. Die ideologische Entwicklung kam nicht schnell genug voran. Es war nötig, dem Haupt­übel der Not, der Trockenheit, energisch auf den Leib zu rücken. Die kleinen zersplitterten Wirtschaftseinheiten waren nicht im­stande, das gesamte wirtschaftliche und soziale Leben zu verbes­sern. Die Lage erforderte einen Generalangriff auf das Bewäs­serungssystem. Wir brauchten mehr Nahrung, mehr Kleidung, mehr Wohnung, mehr Industrie, mehr Bildung und Kultur, bes­seres Sozialwesen und dazu vor allen Dingen mehr Organisa­tion."

Der Vorsitzende machte eine Pause.
"Um es noch deutlicher zu sagen", fährt er dann fort und linst wieder zweifelnd zu dem frierenden Mann am Holzkohlenbek­ken hinüber, "unser Leben hängt in hohem Maße ab vom Goe­Fluß. In den vergangenen Jahrzehnten stieg er nach starken Regenfällen im Gebirge regelmäßig bei uns über die Deiche und überschwemmte weite Landstrecken. Das durfte in Zukunft nicht mehr vorkommen. Aber wer sollte den Fluß eindämmen? So ver­einigten sich in unserem Gebiet über dreißig Genossenschaften zur Volkskommune. Der große Sprung nach vorn war überhaupt nur in Verbindung mit der Volkskommune denkbar." Jetzt ist der Vorsitzende in richtiger Fahrt und spielt nacheinander die Trümpfe der neuen Organisation aus. Die verglimmende Holz­kohle im Becken wärmt gerade Gesicht und Hände, während die Wärmestrahlung von den übrigen Körperteilen durch die Kleidung ferngehalten wird. Dem Deutschen ist, als halte ihn von hinten Väterchen Frost persönlich umklammert. 'Diese Buden haben's in sich', denkt er zähneklappernd. 'Im Sommer müssen sie wunderbar kühl sein.' Neidisch und verstohlen be­trachtet er die Chinesen in ihren dicken Watteanzügen. Dabei hatte er anfangs ob der geringen Kältegrade über sie gelacht und gedacht: 'Die tun aber hier mächtig gefährlich.' Inzwischen hat ihn die konstante Temperatur um null bis minus ein Grad, draußen wie drinnen, zermürbt und entnervt. Er schlottert, ohne es verbergen zu können. Außer dem Gast friert nur noch der Dolmetscher. Er ist für den Aufenthalt in der Kommune nicht genügend vorbereitet. Aber er läßt sich nichts anmerken, be­herrscht sich mit dem für Europäer sprichwörtlich gewordenen fernöstlichen Gleichmut. Höchstens, daß er etwas mehr Tee trinkt. - Eine Pause entsteht. Dann fallen noch einmal, wie zur Bekräftigung und mit einem deutlich spürbaren Triumphgefühl in der Stimme, dieWorte des Erzählers: "Das war eine Schlacht." Er atmet befreit auf und fährt fort: "Damit war der Hunger endgültig besiegt. Wir konnten zu einer neuen Verteilung über­gehen. Von nun an wurden dreißig Prozent des Lohnes in Na­turalien - Reis, Weizen, Bohnen, Kohl und anderen Lebens­mitteln - ausgegeben. Für die Gemeinschaftsküchen wurden ausreichende Reserven bereitgestellt. Die ständige Sorge um die nächste Mahlzeit ist vertrieben. Reis ist genug da! Wir können in unserer Agitation für den Kommunismus mit einem neuen Verbündeten rechnen, mit dem vollen Magen! Er verschafft den Bauern ein nie gekanntes Gefühl, eine neue Erfahrung, die ihnen den Schluß erlaubt, daß sich ihr Leben mit der Kommune weiter verbessern wird. Ihre Gesichter sind heller geworden."

Der Gast aus dem Norden ist inzwischen krampfhaft bemüht, seine Teetasse wenigstens so ruhig zu halten, daß der Inhalt nicht über den Rand schwappt. Die Chinesen tun, als ob sie es nicht sähen. Der Gast überlegt: 'Das mag ja alles recht gut und in Ordnung sein. Wenn mich's nur nicht so hundsgemein fröre. Gleich stehe ich auf und laufe hinaus. Und wenn es bloß bis hinunter zum Lokus ist, aber man kann ja die Treppen auf be­sondere Art hinunter- und hinauflaufen, so daß dabei der größte Effekt an dynamischer Wärme herausspringt. Wer hätte denn gedacht, daß einem die lumpigen null Grad hier so in die Kno­chen fahren können, trotz des vielen heißen Tees, der einen noch ganz schwach macht.' Wieder mustert er den Vorsitzenden, und ihm geht plötzlich ein Licht auf. ja, das ist doch Ernst Lehmeier, die chinesische Ausgabe von Ernst Lehmeier, unserem Vorsitzen­den der LPG "V. Parteitag der SED"! Nein so was. Ganz der­selbe in jeder Faser. Aber das glaubt mir zu Hause sowieso kein Mensch.'

Er steht unvermittelt auf, murmelt: "Entschuldigung" und ver­schwindet hastig durch die Tür. Drinnen hören sie, wie er mit wahrer Vehemenz die steile Treppe hinunterhopst.

'Wozu', denkt er draußen, haben sie eigentlich Türen eingehängt, wenn sie die doch niemals schließen?' Und: 'Der Mann sieht aus wie Ernst Lehmeier. Seine Bewegungen, sein Gesicht, sein gan­zes Gehabe ist akkurat dasselbe, so wahr ich lebe! Nur - unser Lehmeier Ernst ist ein bißchen mehr Persönlichkeit, so ein richtiger LPG-Vorsitzender, und das sieht man ihm an. Dabei ist unsere LPG mit ihren vierzehn Männeken und einem Hund, der Rheuma hat, ein Bruchteil, ein winziges Splitterchen von die­sem kleinen Staat im Staate hier. Was sind das doch hier für komische Leute. Der Ernst, der geht durchs Dorf oder in der Stadt über die Straße, und man sieht es ihm an, daß er kein ge­wöhnlicher Mensch ist, sondern Vorsitzender einer Landwirt­schaftlichen Produktionsgenossenschaft. Diese Leute aber sitzen einem gegenüber, unscheinbar, gewöhnlich, ein bißchen undurch­dringlich auch, o ja, und man ist bereit, jeden für irgendwen zu halten, für den Hausmeister, für 'nen Klempnergesellen, für 'nen Transportarbeiter, für irgendeinen Kumpel. Und sie lächeln einen an, und dann stellt sich heraus, der, mit dem man zusammen­sitzt, ist ein berühmter Neuerer, ein Held der Arbeit, ein Werk­direktor, ein Schriftsteller, dessen Werke über ein Gebiet Ver­breitung haben, das zehnmal so groß ist wie ganz Deutschland, oder Vorsitzender einer Kommune mit vierzigtausend Mit­gliedern. Woran, zum Teufel, sollen denn die Mitglieder erken­nen, daß sie es mit ihrem Leiter zu tun haben? Wie, zum Kuckuck, kann sich so ein Mensch die Autorität erhalten, wenn ihm keinerlei Zeichen der Würde ins Gesicht geschrieben steht?'

Als er wieder in den Raum zu den anderen tritt, sind diese be­reits von ihren Sitzen aufgestanden. Der Dolmetscher sagt: "Hau dich ein bißchen hin", denn er hat diesen Ausdruck von dem Deutschen gelernt. In Wirklichkeit hatte der Vorsitzende gesagt: "Es würde uns freuen, wenn Sie sich jetzt ein wenig ausruhen wollten. Wir richten inzwischen ein bescheidenes Abendmahl her." Der Gast stöhnt. "Wir haben doch eben erst ge­gessen." - "Anschließend besuchen wir den Auftritt einer Volks­kunstgruppe, die heute zufällig hierherkommt." Der Gast räso­niert vor sich hin: "Zufällig? Das kennen wir schon, das ist die­selbe Masche wie in Tschöngtu, wo sie mir am andern Tag einen funkelnagelneuen 'Wolga' vor die Tür stellten, nachdem ich am Tag zuvor ein paar Augen auf so ein Fahrzeug geworfen hatte. Dabei war ich mit dem 'Pobeda', in dem sie mich bisher herum­kutschiert hatten, ganz und gar zufrieden. Ich hatte einen 'Wolga' nur noch nie gesehen."

"Morgen besichtigen wir dann: die Kugellagerfabrik, die Ze­mentfabrik, die Düngemittelfabrik, die Schule, die Kunstwerk­stätte, die Tischlerei, eine Gärtnerei, einen Aufforstungsbetrieb, den Feldbau im Bereich einer Brigadegruppe, eine Gemein­schaftsküche, eine Kinderkrippe, einen Kindergarten, ein Kran­kenhaus, eine Neusiedlung und ein 'Heim der Ehrerbietung für die Alten'."

"Und wann soll ich arbeiten?"
"Wie bitte?" Der Dolmetscher tut erstaunt.
Der Gast protestiert. "Du weißt doch ganz genau, was wir aus­gemacht haben. Sage bitte, daß ich darauf bestehe."

Dieser Ausbruch macht eine längere Diskussion unter den rat­losen Gastgebern nötig. Der Dolmetscher hält eine längere Rede auf chinesisch. Der Gast vermutet kaum, daß er für ihn plä­diert. 'Was wird er wohl sagen?' denkt er. Der Dolmetscher sagt aber: "Das ist ein ungewöhnlicher Fall. Den haben sie uns zu­geschickt, damit er möglichst viel sieht, weil er Schriftsteller ist. Er aber will sich am liebsten sechs Wochen in ein und derselben Kommune aufhalten und mitarbeiten. So lautet sein Wunsch." Der Vorsitzende hebt die Schultern. "Was will er denn dabei sehen? Wir können unseren Gast doch unmöglich arbeiten las­sen. Er muß vor allen Dingen unsere Einrichtungen kennen­lernen."

Der Dolmetscher wendet sich wieder an seinen Schützling. "Die Genossen meinen, daß du möglichst viel sehen solltest."

"Aber ich kann nicht dauernd wie Graf Koks mit Gefolge über die Felder und durch die Siedlung laufen und den Leuten bei der Arbeit zugucken. Das halte ich seelisch nicht aus. Davon be­komme ich Komplexe. So etwas muß man gelernt haben. Ich da­gegen komme aus der Landwirtschaft. Außerdem nützt mir die Anschauung nichts. Ich muß auch mal mit anfassen, versteht ihr?" Der Dolmetscher zuckt die Achseln. "Du kannst auch ar­beiten, wenn du durchaus willst."

Damit entläßt er den Gast. Während nun die Vorbereitungen zum Abendmahl getroffen werden, rollt draußen ein Lastwagen vor voll geschminkter junger Leute in bunten chinesischen Trach­ten und klassischen Kostümen. Eine Musikgruppe sitzt ab. Ein Teil der Musikanten bildet schnell einen Zug, der unter Pauken­schlag und vieltönigem Gescheppere der Gongs und Becken eine Runde durch das Dorf macht.

'Nun trommeln sie ihr Publikum zusammen', denkt der Gast. 'Das sollte bei uns einmal passieren, daß sich die Akteure ihr Publikum zusammenholen müssen! Da würden die Jungs ihre Instrumente leise weinend wieder einpacken und davonfahren. Höchstens, daß sie auf die Organisation schimpften.
Zum Dolmetscher sagt er: "Nun, Meister Jen, aber das brauchst du jetzt nicht gleich brühwarm zu übersetzen, das mit der Kul­turgruppe, das habt ihr doch nur wieder meinetwegen ange­strengt. Sei ehrlich. Ich kenne euch doch."
"Wie kommt das, daß du uns kennst?", fragt der Angesprochene zurück. "Manche Sinologen sind jahrelang in China und kennen uns noch immer nicht."

Während sich die Zuschauer im Erdgeschoß des Hauses auf dem Lehmstampfboden des provisorischen Kulturraumes einfinden, wetteifern oben sechs Mann, den Gast mit allerhand Bissen voll­zunudeln, als sei er am Verhungern. Zwischendurch bedauert der Vorsitzende: "Nun habe ich leider noch nicht alles über die Kommune erzählen können. Ich schlage vor, daß Sie einfach Fra­gen stellen über alles, was Sie wissen wollen."

'Ich werde ihn über den Perspektivplan der Kommune und über den Maßnahmeplan zur Erfüllung des Perspektivplanes fragen, weil er unserem Ernst zu Hause gar so ähnlich sieht', denkt der Gast. Dabei stöhnt er: "Genug, genug ihr lieben Leute. Ich kann doch nicht mehr. Ach du lieber Gott, noch ein Gang? Wer soll denn da nicht platzen. Aus. Ich streike." Die Apfelsinen, die zum Schluß gereicht werden, steckt er ein. Als sie endlich hinunter­gehen, ist der Saal schon proppenvoll. Nur in der vordersten Reihe sind Stühle reserviert und Tischchen davor mit Teegeschirr darauf. Ensemble und Publikum haben mindestens eine halbe Stunde lang auf das Erscheinen des Gastes gewartet. Als dieser endlich kommt, erbraust der Saal von Beifall. Die dichten Rei­hen öffnen sich zu einer Gasse. Der arme Mann muß hindurch­schreiten bis nach vorn an seinen Platz. Alle Augen sind auf ihn gerichtet, und er geniert sich. 'An ihrer Stelle würde ich mich ja auch freuen, daß es endlich losgeht', denkt er grimmig. 'Da sitzt man nun dort oben, schlägt sich den Bauch voll, und hier unten wartet ein Saal voller Menschen, die den ganzen Tag über schwer gearbeitet haben. Na, ich weiß nicht, ob das bei uns zu Hause möglich wäre. Die Leute sollen es nur nicht übertreiben.'

Indessen, es geht los.

Die Mädchen, mit ihren geschminkten Gesichtchen im improvi­sierten Rampenlicht lieblich anzusehen, eröffnen die Veranstal­tung. Sie haben bunte Seidentrachten übers Wattezeug gezogen. Die Bewegungen sind dadurch etwas in ihrer Anmut gedämpft. Aber es sind schöne Tänze. Ihr Inhalt: "Reispflanzen, Teepflücken, Weizendreschen und 'Volkskommune besiegt den Hunger'."Dann folgt ein Tanz zum Lob eines Neueres. Eine junge Lehrerin der Grundschule singt das Lied auf Mao Tse-tung in russischer Sprache. Es folgt ein kleines neckisches Liebesspiel. Dann singt ein Duo die "Zehn Dinge", an die man immer denken soll.

Der Kulturraum ist plötzlich in einen Hörsaal verwandelt. Die Zuschauer sind Studenten geworden. Eine Gruppe junger Bur­schen zeigt mit allerlei akrobatischen Sprüngen, was die Pflanze alles braucht, um zu wachsen: Wasser, Humus, Luft, Wärme, Mineralien und Bodenbakterien. Sie lassen spielend erkennen, daß sich der Ertrag bei jeder Pflanze stets nach jenem Element richtet, welches gerade am wenigsten vorhanden ist. So demon­strieren sie auf ihre Art die jedem deutschen Landwirt bekannte Liebigsche Minimumtonne. Langsam beginnt es dem Gast zu dämmern, mit welch vielfältigen Mitteln und in welchem Um­fange dieses Volk lernt und nachholt, was ihm eine fortschritts­feindliche Herrenkaste jahrtausendelang vorenthalten hat. Ganz China lernt, überall und immer. Ein Riesenvolk ist ständiger Hörer einer Riesenuniversität, der gewaltigen Hochschule der Kommunistischen Partei. Der Gast merkt, daß das ganze Pro­gramm eine klug durchdachte lehrhafte Absicht hat. Das ist Schule mit Hilfe der Volkskunst. Alte vertraute Weisen wer­den mit neuem Inhalt erfüllt; vertraute und kühne Agitation sind die Lieder und Tänze. Der Tanz der Stickerinnen: Er ist uralt. Aber die Mädchen sticken tanzend etwas auf ein rotes Tuch. Dann heben sie es empor. In leuchtenden Buchstaben ist zu lesen: "Renmingungse wansui! Es lebe die Volkskommune!"

Das Publikum verläßt den Saal nicht, ehe der Gast gegangen ist. Sein Abgang wird rhythmisch mit den Händen beklatscht. Drau­ßen fährt er den Dolmetscher böse an: "Das passiert mir nicht noch einmal, daß ich mich oben vollfresse wie ein großer Herr, während unten die Leute warten. Das sind ja schöne Manieren. Die gewöhnt euch nur schnell wieder ab. Hier geht die Höf­lichkeit zu weit." Er hatte nämlich die Entdeckung gemacht, daß die Küche hinten auf dem Hof lag. So mußte der Koch mit jedem einzelnen Essengang ums Haus herum und an der, natürlich offenstehenden, Saaltür vorbei, so daß jeder mitzählen konnte, wieviel Gänge oben verdrückt wurden. "Nee, das gewöhnt euch nur schnell wieder ab", wiederholt er und fügt hinzu: "Ihr wollt doch immer Kritik hören. Bitte sehr, hier ist sie."

Der Dolmetscher, ein kleines schmächtiges Bürschchen mit aku­rat gezogenem Scheitel, ist durchaus keine zarte Natur. "Du wirst die Kommune schon nicht arm fressen", herrscht er seinen Schützling an, "wenn du auch ein Kreuz wie ein Wasserbüffel hast. Was du gegessen hast, das ist von ihnen. Wenn sie die Gänge gezählt haben, so darum, ob es ihrer nicht etwa zuwenig seien, weil das eine Schande für die ganze Kommune wäre. Und deshalb haben sie auch so lange gewartet."

Die Nacht ist inzwischen ganz hereingebrochen. Die Volkskünst­ler klettern auf ihren Wagen. Der Wind weht steif aus Nord­ost. Der Gast steht auf der Balustrade und schaut hinunter. Eng aneinandergeschmiegt, die geschminkten Gesichtchen nach oben dem Gast zugewandt, stehen die Mädchen auf der Wagenfläche. Sie werden von den Jungen, so gut es geht, vor dem kalten Fahrt­wind geschützt. Der offene Wagen entschwindet mit seiner wert­vollen Fracht in der Dunkelheit. Sinnend starrt ihnen der Deut­sche nach. Der Dolmetscher läßt ihm aber keine Zeit zum Grü­beln. "Die fahren jetzt in ein anderes Dorf. Dort treten sie noch einmal auf. Sie stehen nämlich im Wettbewerb mit anderen Kulturgruppen der Kommune. Nur, damit du Bescheid weißt." Also doch nicht deinetwegen, soll das heißen. "Jetzt noch?" fragt der Gast schwach. 'Vielleicht sind sie doch nur meinet­wegen hier gewesen, und ihr eigentlicher Auftritt kommt erst in jenem anderen Dorf. Der Teufel kenne sich in diesen Leuten aus.' So denkt er. Als er in seinen Verschlag kommt, stehen dort fünf Mann um sein Bett herum und machen bedenkliche Ge-sichter. Zehn Hände prüfen, ob die Unterlage nicht zu hart sei. Für diese Annahme ist reichlich Grund vorhanden, denn die Unterlage besteht aus blanken Brettern mit einer Decke dar­über. Der Gast begreift blitzschnell seine Chance. Er klopft dem Vorsitzenden jovial auf die Schulter und sagt: "Das ist genau das, was ich mir wünsche." Endlich hat er Gelegenheit, auch ein­mal höflich zu sein.

Der Triumph währt jedoch nicht lange. Als die Genossen hinaus sind, stutzt er, streckt fühlend die Hand unters Bett, guckt dann mißtrauisch darunter und murmelt: "Haben sie mir doch ein Holzkohlenbecken unter die Pritsche geschoben, die Kerle." Und mit einem leisen, keineswegs ernst gemeinten Fluch entschlum­mert er.

Am anderen Morgen erwacht der Gast, weil im Nebenraum ein Mädchen etwas vor sich hinträllert, vermutlich einen Schlager. Langsam wickelt er sich aus seiner vom Holzkohlenglost wohlig durchwärmten Deckenumhüllung und gähnt. Dann guckt er, wie am Vorabend, unters Bett und fühlt, daß noch Wärme aus­geht von dem Becken, und denkt: 'Während ich schlief, müssen sie die Heizung erneuert haben. Das leichte Zeug hält doch nicht so lange vor.' Dann tastet er seinen von Hotelbetten ver­wöhnten Körper behutsam nach blauen Flecken ab und steigt, über das Ergebnis der Untersuchung einigermaßen befriedigt, langsam in die Beinkleider. Kaum ist er angezogen, öffnet sich die Tür, und ein Mädchen bringt eine Schüssel voll kalten Was­sers und einen kleinen Stapel feuchtheiß dampfender Hand­tücher. - 'Wie ist es nun Sitte?' denkt der Gast, allein gelassen. 'Erst heiß und dann kalt, oder umgekehrt?' Und aus praktischer Erwägung kommt er zu dem Schluß, daß es gut sein könnte, wenn man sich in dieser Gegend und dieser Jahreszeit das Wärmste für den Schluß aufspart.

Nach vollzogener Waschung erscheint das Mädchen, räumt das Geschirr fort und bringt ein paar chinesische Filzschuhe. Die zieht er sich über und denkt: 'Demnach geht es also heute an die Arbeit. Sonst würden sie mir diese Latschen nicht geben.'

Von den Gastgebern ist noch nichts zu sehen. Der Gast läßt sich auf den Pritschenrand nieder, kramt sein Notizbuch hervor und tut so, als sei er beschäftigt. - Vielleicht könnte man inzwischen eine Tasse Tee..., verdammt. Gibt es denn nichts anderes? So schnell hat man sich an das ungesüßte Zeug gewöhnt.'

Wieder wird die Tür geöffnet. Auf der Schwelle erscheint das Mädchen. Sie stellt eine Tasse hin, tut grüne Blätter hinein und gießt aus einer Thermosflasche heißes Wasser drüber. Es ver­breitet sich der würzige Geruch des mit Rosenblättern vermisch-ten grünen Tees.

"Nun reicht's mir aber", murmelt der Gast. Und während er seinen Morgentee schlürft, mustert er verstohlen die kahlen papierverklebten Wände seiner Schlafkammer. - 'Ob sie mich durch irgendeine Ritze heimlich beobachtet? Oder kann sie Ge­danken lesen?' Er tastet betont auffällig seine Taschen ab und mimt, um der Sache auf den Grund zu kommen: 'Zigaretten!' - Die Tür wird geöffnet und herein kommt - Meister Jen, der Dolmetscher.

"Guten Morgen! Hast du gut geschlafen?" "Ich schlafe immer gut."
"Möchtest du eine Zigarette?"
"Nein danke! Vor dem Frühstück rauche ich nie." Das klingt beinahe wütend.
"Dann gehen wir eben frühstücken."
Wieder sitzen sie ihrer sieben um den großen Tisch beisammen, wie am Mittag und am Abend des Vortages. Das Frühstück unterscheidet sich weder in der Zusammensetzung noch in der Anzahl der Gänge vom Mittag- oder Abendbrot, soweit das der Deutsche überhaupt beurteilen kann. Die Türen stehen wie am Vortage angelweit offen. Sie geben den Blick auf das gelblich­braune Land und den grauverhängten Himmel frei. Das Früh­stück zieht sich in die Länge. Ssün Tsan-hsn, der Org-Mann von der Kreisparteikommission, lächelt in gewohnter Weise und unterbricht dieses Lächeln höchstens, um gelegentlich aufzu­lachen, wenn einer einen Witz reißt. Das Witzereißen ist eine Unterhaltungskunst, die besonders der deutsche Gast übt. Zwei­ter in dieser Disziplin ist Jen, der Dolmetscher. Über Jens Witze lachen alle. Der Gast allerdings ein wenig säuerlich, weil sie fürchterliche Bärte haben. Sie stammen alle aus Jens Studenten­zeit, wo er sie von deutschen Kommilitonen übernommen hat. Der letzte Deutsche, den er durchs Land geführt hat, war ein Altertumsforscher. Von dem konnte Jen auf diesem Gebiet nichts lernen.

Der Deutsche wendet sich dem Vorsitzenden zu und sagt: "Die Kugellagerfabrik, die Zementfabrik, die Düngemittelfabrik und die Tischlerei sowie die Kinderkrippe und das Altersheim möchte ich gerne bei der Besichtigung übergehen. Solche Einrichtungen habe ich schon überall im Lande gesehen. Dafür möchte ich lie­ber irgendwo ein bißchen mitarbeiten, vielleicht in einer Bri­gade."

"Die Brigade", so erklärt nun der Vorsitzende, "ist eine selb­ständige Wirtschaftseinheit. Sie hat für die Löhne der Mitglie­der und für das Essen aufzukommen. Darüber hinaus muß die Brigade einen bestimmten Akkumulationsfonds, dessen Höhe von der Versammlung der Mitgliedervertreter aller Brigaden festgelegt wird, abführen. Mehrere Brigaden bilden mit ihrem Arbeitsbereich einen Bezirk. Unsere Kommune hat drei Bezirke, einen westlichen, einen zentralen und einen östlichen. Im west­lichen Bezirk ziehen wir Erdnüsse. Dort herrscht sandiger Boden vor. Im zentralen Bezirk ist guter Lößboden. Hier bauen wir Weizen und Baumwolle an. Der Ostbezirk hat einen tonhal­tigen Grund. Dort pflanzen wir Reis."

"Und wo kann ich nun mal mitarbeiten?" Im Gesicht des Gastes haben sich Züge des Eigensinns hartnäckig eingegraben.

Die Chinesen beraten. Der Gast versteht kein Wort. Aber das, was der Sekretär des Bundes für Kultur und Kunst aus Wuhan sagt, klingt in seinen Ohren wie: "Tut mir leid, aber der hat nun mal so 'ne Macke."

Dann fahren sie, sieben Mann in einem "Pobeda", durch die Felder, die sich flach und mit keimender Weizensaat unendlich weit hinziehen. Überall sind Menschengruppen beschäftigt. Der Gast läßt halten, steigt aus und besichtigt die Anbautechnik. Er stellt fest, daß der Wind dieser Dezembertage im Süden der großen chinesischen Tiefebene etwa die gleiche Qualität besitzt wie der Wind in der norddeutschen Tiefebene um die Zeit der Eisheiligen. Nur, daß er hier von Nordost und dort von Nord West kommt. Erstaunt betrachtet der Mann die Weizenkulturen. Die Saatreihen haben einen Abstand von etwa fünfzehn Zenti-metern. Der ganze Riesenschlag ist unterteilt. Der Länge nach ziehen sich Beete von Drillmaschinenbreite hin. Zwischen den Beeten, dort, wo sonst die Radspur geht, befinden sich flache, etwa fünfundzwanzig Zentimeter breite, sorgfältig gezogene Rinnen. Etwas weiter ab ist eine Gruppe von Männern dabei, einen schnurgeraden Quergraben mitten durch die Saatfläche zu ziehen. Der Quergraben ist breiter und tiefer als die Längsrin-nen zwischen den Beeten. Noch weiter hinten ist schon ein fer-tiger Quergraben gezogen. Weiter Horizont, grauverhangener Himmel, hellgrüne schachbrettartig durchschnittene, bis in die Ferne sich hinziehende Saaten, schneidender Nordostwind und wie Schachfiguren verteilte Menschengrüppchen auf dem weiten Plan.

"Das ist unser Bewässerungssystem", erklärt der Vorsitzende. "Die Quergräben nehmen ihren Anfang an einer Vorflut, die ihrerseits wieder vom Goe-Fluß kommt. Wenn wir die Vorflut abdämmen, steigt das Wasser, dringt in die Quergräben vor und rieselt durch die Bettfurchen über den ganzen Schlag. Die Quer-gräben müssen immer neu gezogen und instand gehalten wer-den, desgleichen die Bettfurchen. Die Bewässerung macht uns am meisten Arbeit." - 'Ich hätte mich lieber doch erst heiß und dann kalt waschen sollen statt umgekehrt', denkt der Deutsche. In dem Dorf, in das die Gesellschaft nun kommt, ist gerade Produktionsberatung. Soeben spricht ein Bauer mit dünnem Bärtchen. Er schlägt ein ähnliches Berieselungssystem für die Düngung vor. 'Wetten, daß sie es fertigbringen?' denkt der Gast. 'Das sind schließlich alle miteinander die reinsten Land­schaftskünstler.'

In einer Gemeinschaftsküche läßt er sich vom Koch erklären, wie man Reis zubereitet. Er schreibt sich das Rezept auf und sagt: "Damit meine Frau endlich aus erster Hand erfährt, wie man den Reis kocht." Der Koch grinst. "Was hat er?" - "Er meint", übersetzte Jen, "er habe eben erklärt, daß man den Reis nicht kocht, sondern dämpft." Und er fügt von sich aus hinzu: "Das lernt ihr eben nie."

Am Dorfausgang setzen einige Leute Pfähle aus grünem Holz von Kinderarmstärke in den Boden. "Wollen die etwas einzäu­nen? - "Nein, die pflanzen Bäume. im Frühjahr schlägt dieses Holz aus. Alle Wege werden wir auf diese Weise säumen."

Dann stoßen sie auf eine Gruppe Mädchen und Frauen. Diese schaffen in scheibenrädrigen Schubkarren Komposterde auf ein Ackerstück. Vom Komposthaufen bis zum Feld sind es etwa fünfzig Meter. Die Ladung einer solchen Karre schätzt der Mann auf höchstens zwanzig Pfund: Der Kompost ist sehr spreu­haltig. Der Vorsitzende räuspert sich und sagt: "Also, hier kön­nen Sie mitarbeiten." Und zum Zeichen, daß es ernst gemeint ist, greift der Wuhaner K. u. K.-Sekretär nach einer Karre, läßt sie sich volladen und prescht damit zum Acker. Der Gast guckt auf die Uhr. Es ist sowieso gleich Mittag. "Das habt ihr euch fein ausgedacht", murmelt er. Und laut: "Nehmt es mir nicht übel, Freunde, aber das ist keine Arbeit für mich. Das widerspricht allen meinen Vorstellungen. Ihr wißt doch, ich komme auch aus der Landwirtschaft." Der Kunst-und-Kultur-Sekretär stellt die Karre hin und zuckt resigniert die Achseln. Ssün Tsan hsn lächelt in gewohnter Weise. Schließlich sagt der Vorsitzende "Sie können auch andere Arbeit haben. Sagen Sie nur, welche." Hat er endlich aufgegeben? Jen, der übersetzt, fügt von sich aus hinzu: "Sei froh, daß sie dich davon abbringen wollen. Un-ser Leben würdest du doch nicht aushalten, Freundchen. Unser Aufbau ist erst zehn Jahre alt, und vordem waren wir am Ver­hungern."

Der Gast wendet sich um. Hinten am Horizont, nahe dem Dorf mit dem Hauptverwaltungssitz, weht ein Wald von Fahnen. Er deutet dorthin. Es ist, den Mantel lose über die Schulter ge- hängt, eine theatralische Geste.

"Dort möchte ich mitmachen, wenigstens einen Tag dort drü- ben." Der Vorsitzende nickt und sagt: "Na gut, morgen. Jetzt gehen wir essen."

Beim Mahle erklärt plötzlich der Redakteur des "Jün Mung", er wolle einen schreibenden Bauern besuchen, von dem er lange nichts mehr gehört habe. Er hoffe, etwas für seine Zeitung von ihm zu kriegen. Der Gast, des Drängens auf Arbeit endlich müde, zeigt sich interessiert, und so rücken sie dann alle dem ahnungslosen Mann auf die Bude. Kalt ist es dort wie im Ver-waltungsbau. Auch hier ist alles auf die große Zentralheizung Sonne eingestellt. Diese befindet sich zur Zeit in Reparatur. Dafür sind die Türen offen. Kohlenbecken gibt es diesmal keine, Tschin Wu, der schreibende Bauer, ist nicht zu Hause. Eine alte Frau, seine Mutter, schickt ein kleines Mädchen los, den Vater heimzuholen. Er arbeitet irgendwo draußen auf dem Feld. Die alte Frau weist den Gästen Platz an auf Körben, Hockern und Pritschen. Dann geht sie hinaus. Es dauert nicht lange, da erscheint sie wieder, verteilt Emailletassen und gießt jedem aus einer ungeheuren Thermosflasche heißes Wasser ein. Der Vor­sitzende erklärt, daß es vor der Befreiung im Gebiet der Kom­mune ganze neunundvierzig Thermosflaschen gegeben habe. Diese befanden sich im Besitz der Reichen. Jetzt verfügt jede Familie über diesen wichtigen Haushaltsgegenstand. Heißes Wasser, früher ein Luxus, könne sich heute jeder nach Belieben holen. Überall im Ort seien Kessel aufgestellt, in denen es dampft. Man brauche nur abzuzapfen.

Nach geraumer Zeit erscheint Tschin Wu. Er muß zunächst in der Tür stehenbleiben, um sich in dem dichten Qualm, der sein Zimmer füllt, zurechtzufinden. Dunkle Schatten sitzen hier im Kreis herum, trinken heißes Wasser und qualmen Zigaretten dazu. Ihrer sieben kann Tschin Wu ausmachen, dann muß er sich die Tränen aus den Augen wischen. - Tapfer begrüßt er seine Gäste, hockt sich zu ihnen und läßt sich einen Glimm­stengel geben. Jetzt erst bemerkt er, daß einer von ihnen ganz unchinesisch gekleidet ist. Ein Fremder. Dann beantwortet er die Fragen, die ihm der ziemlich bleiche, blaulippige Gast mit den fremdländisch geschnittenen Augen stellt. Also die Urkun­den an den Wänden gehören allesamt seiner Frau. Sie ist Best­arbeiterin. Jedes Jahr bekommt sie eine neue Urkunde dazu. Sie hat eine neue Engpflanzmethode mit vorgekeimter Baum­wollsaat eingeführt. Das hatte einen großen Erfolg gebracht. Im Augenblick befindet sie sich im Quartier einer anderen Brigade, um dort ihre Erfahrungen zu vermitteln. Die anderen Schrift­stücke an den Wänden sind Sprüche und Gedichte von ihm. Er schreibt die einzelnen Fassungen von der Rohform an mit Pin­sel und Tusche auf nebeneinander an die Wand geklebte Papier­bahnen und vergleicht sie miteinander solange, bis er mit der Arbeit zufrieden ist. Das ist seine Arbeitsmethode. Auf diese Weise hat er schon dreißig Gedichte und Sprüche verfaßt, die allesamt in der Kreiszeitung veröffentlicht worden sind. Die Wände des Zimmers sind voll. Wenn kein Platz mehr ist, klebt er die neuen Bahnen über die alten. Eine dekorative Schreibweise. Das Schreiben hat er in der Befreiungsarmee gelernt. Später hat er sich in dieser Kunst, die er früher für Zauberei hielt, in der Erwachsenenschule des Dorfes vervollkommnet.

Es wird gemütlicher. Die Großmutter bringt eine neue Kanne heißes Wasser. Der kleine, etwas strubblige Bauer, dessen Haut wie vergilbtes Pergament schimmert, beginnt von seiner Militär­zeit zu erzählen. Er hat die letzten Tschiang Kai-schek-Bunker vor Wuhan mit erstürmt. Auf den Hügeln vor der Dreistädte-stadt hatte sich der Feind wie für alle Ewigkeit festgesetzt. Aber in seinem Rücken lag der Jangtsekiang breit und strömend. Nur eine Fährverbindung gab es zum anderen Ufer. Und als die Be- freiungsarmee von drei Seiten anrückte, da hatten die Kuomin-tangleute auf einmal nicht mehr genug Vertrauen zu dieser Fährverbindung. Sie hielten eine feste Landverbindung mit ihrem Hinterland für sicherer und setzten in der Nacht nach dem ersten Kampftag, nachdem sie zuvor ihre Stellungen ver-mint hatten, still und leise über.

Man kommt ins Erzählen. Auch der Deutsche berichtet, daß er im Krieg war. Leider auf der falschen Seite. "Ich war von Kind auf im Geiste der Eroberung erzogen worden. Wir Jungend liebten Deutschland und jubelten Hitler zu, weil er das deutsche Volk groß machen wollte. Wer hinter der Führergestalt stand, das wußten wir nicht, wollten wir gar nicht wissen. Zur Ver-nunft kamen wir erst, als Deutschland in Trümmern lag. Als Deutschland dann wieder aufgebaut wurde, gehörte ich zur Partei der Arbeiterklasse. Woran ich heute leide, ist, daß mir die Beziehungen zur illegalen Kampfzeit der Partei fehlen." Dann spricht Ssün Tsan-hsn. "Die illegale Kampfzeit der Partei", so sagt er, "ist eine große Schule für diejenigen, die sie durchlebt haben. Aber es gibt in jeder Arbeiterpartei, die ge-siegt hat, dieses Problem, daß die jungen Genossen, denen die Verwirklichung der Träume der Alten obliegt, naturgemäß nichts mehr oder wenig von der klassischen Kampfzeit der Partei aus eigener Erfahrung kennen. Aber die Welle weiß nichts von dem Stein, der ins Wasser plumpst, und sie schwingt doch weiter bis ans Ufer." - "Das heißt", wirft der Vorsitzende ein, "eine Welle teilt der anderen ihre Energie, die vom Stein ausgeht, mit. Der Stein, das ist die Revolution."

Es ist mittlerweile Abend geworden. Rasch bricht die Dämme­rung herein.

(...)

Der dritte Tag in der Volkskommune beginnt mit Sonnenschein. Aber auf den kleinen Pfützen, die vom starken Nachttau her­rühren, haben sich Eiskristalle gebildet. Im Schein der Morgen­sonne leuchtet die Seide der Fahnen auf dem Damm wie hellrote Glut herüber. Der Goe-Fluß bekommt ein neues breiteres Bett. Er soll sich bequem drin wälzen können. Nie wieder sollen seine Wellen anders die Fluren benetzen als durch das Adernetz der künstlichen Bewässerung. Die ahlreichen Windungen des alten Laufes, an die sich der alte Damm sklavisch anschmiegte, und in denen sich bei Hochwasser die Fluten stauten, werden nach dem unbeugsamen Willen der befreiten Menschen ausgebügelt. Über die Ebene bewegt sich eine Gruppe Menschen zum Damm. Allen voran geht einer in wehendem, lässig über die Schultern geworfenen Lodenmantel, barhäuptig, mit zerzaustem Blond­haar. Um nicht aufzufallen, hatte er darauf bestanden, den Weg zum Damm zu Fuß zurückzulegen. Doch ebenso unauf­fällig könnte ein Pinguin vom Tierpark zum Berliner Rathaus marschieren. Vom Damm aus kann man die herannahende Gruppe, aus der der Gast in seinem fremdländischen Anzug klar hervorsticht, schon von weitem erkennen. Auf dem Damm geht daher auch, noch ehe der Gast dorthin gelangt, eine Verände­rung vor sich. Der Bau am Kanal wird von den Menschen der Kommune in militärischer Ordnung durchgeführt. Wie bei einer regulären Truppe bilden die Bauleute Regimenter, Bataillone, Kompanien, Züge und Gruppen. Die Schlacht der Tausende gegen das Hochwasser verlangt diese Organisation. Der Abschnitt, dem der Gast nun zusteuert - in dem Wahn, er könne dort, mit seiner Begleitung im Kielwasser, unauffällig untertauchen - gehört einem Regiment. Das Regiment verfügt selbsl redend über eine Regimentskapelle, die den Kämpfern während der Arbeit aufspielt. Der Punkt, auf den der Gast zugeht, liegt am rechten Flügel des Regimentsabschnitts. Daher wird die Kapelle, die bisher im Zentrum stand, eilig auf den rechten Flügel dirigiert. Wie nun der Gast den neuen Damm erklimmt, der bereits bis zu halber Höhe emporgewachsen ist, wird er von schmetternder Marschmusik empfangen. Er wirft nach dem ersten Schreck einen flehenden Blick auf seine Begleiter, erkennt aber auf deren Gesichtern nur einen vor Zufriedenheit strahlenden Ausdruck, der besagen soll: 'Gelt, das haben unsere Leute wieder einmal fein hingekriegt.' Da weiß der Mann, daß von dieser Seite kein Erbarmen zu erwarten ist und wendet sich ab. Zufällig gleitet sein Blick noch weiter nach rechts, und sein Un-terkiefer klappt herunter. Von rechts kommt die Kapelle des Nachbarregiments gezogen und stellt sich an der Grenze ihres Abschnittes auf, die Trichter ihrer Trompeten auf den Gast gerichtet.

Der Deutsche verschluckt sich, reißt sich zusammen, schließt den Mund wieder und schickt ein Stoßgebet gen Himmel: 'Nun bist du Gott sei Dank Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Tau­senden, du Rindvieh. So halte dich denn tapfer, mach deiner Heimat keine Schande, und löffle diese Suppe, die du dir eingebrockt hast, in Ehren aus!'

Dann geht er auf der Flußseite den Damm hinab, nimmt eine Tragstange, läßt sich Erde in die Tragkörbe füllen und reiht sich in die Reihe der Träger ein. Behutsam schaukelt er empor zum Rist des Dammes. Auch seine Begleiter, der Vorsitzende, der Kulturfunktionär aus Wuhan, der Fahrer, der Redakteur der Kreiszeitung "Jün Mung" und der Dolmetscher greifen zu den Tragstangen, während Ssün Tsan-hsn Erde vom alten Damm abgräbt. So pendeln sie unter dem Getöse zweier um die Wette spielender Kapellen, eingereiht in die lange Reihe der Träger, zwischen dem alten und dem immer höher wachsenden neuen Damm hin und her und schaffen ameisengleich das Material zur Stelle.

Die Männer tragen Erde. Die Frauen und Mädchen stampfen die Erde mit Rammklötzen fest. Acht Arbeiterinnen handhaben eine Ramme. Hunderte von Rammen stampfen auf und ab. An langen Griffstangen werden die schweren Stempel emporge­schwungen und sausend fallengelassen - immer im gleichen Rhythmus. Der Rhythmus der stampfenden Frauen hat etwas vom Takt eines Herzschlages. Anstrengung, Entspannung, An­strengung, Entspannung. Und der Damm wächst und wird fest­gehämmert von ungezählten solcher Herzschläge des Volkes. Im Takt der Bewegung führen die Frauen und Mädchen einen Tanz auf und singen dazu. Der Fremde, sprachunkundig, hört doch einen stets wiederkehrenden Reim heraus. Es klingt wie: "Heja, tsonga tong-tso, hejo." Dann fliegt der Klotz hoch und saust nieder. Neuen Anlauf nehmend, singt reihum immer eine andere einen schnell aus dem Stegreif gedichteten Vers. Die Verse, die sie finden, sprechen vom Sieg der Arbeit, vom Ruhm des Kommunismus, vom Lob der Partei, die das Elend be­zwang.

Der Gast wankt zwischen dem alten und dem neuen Damm hin und her und schleppt Erde. Die Erde in den Körben wiegt etwa einen halben Zentner. Und immer wieder geht es hinauf. Lang­sam wächst der Damm seiner Krone entgegen. Korb um Korb leert sich, Erdhäufchen um Erdhäufchen kommt hinzu. Hunderte von Erdlasten in der Stunde, Tausende und aber Tausende am Tage häufen sich und werden festgehämmert zu einem Damm gegen die Not.

Der Deutsche wirft seine Jacke fort. Vergessen ist die ewige Friererei der vergangenen Tage. An die Tragstange hat er sich schnell gewöhnt. Der akkustische Hexenkessel, den die beiden Kapellen veranstalten, stört ihn nicht mehr. Aber die Erde wird schwerer und schwerer, der Kamm höher und höher. Zu Ehren des Gastes laufen die Erbauer mit ihren Lasten immer schneller. Der Takt der Erdstampfer erhöht sich. Die Herzschläge neh­men zu. Um nicht zurückzubleiben, muß auch der Gast schneller gehen. Je schneller er die Böschung hinaufkeucht, desto schneller laufen auch die Chinesen. Sie feuern sich gegenseitig an. "Hoo-hohoho-hoo!" gellt es dem Gast in den Ohren. Ihm, dem diese Sitte, sich zu Ehren eines Gastes anzufeuern, nicht bekannt ist, bricht der Schweiß aus der Stirn. Er bezieht die Schreie auf sich, meint, sein Trott sei zu langsam, meint, er hemme die Arbeit, weil manchmal dicht hinter ihm einer schreit. Er läuft noch schneller, und die Chinesen meinen wieder, es stimme nicht mit den Gesetzen der Höflichkeit überein, wenn sie langsamer liefen als ihr Gast, der sich abhetzt, und beschleunigen ihr Tempo. Zuletzt fangen alle an, buchstäblich zu rennen. Dem Deutschen tanzen Funken vor den Augen. Er schnauft verstohlen und öffnet, wenn er sich unbeobachtet glaubt, hechelnd die Kinnlade. Dann beißt er wieder die Zähne zusammen. - Bloß keine Blamage! Bloß nicht schlappmachen!

Mühsam keucht er den Hang empor, schüttet den stampfenden Mädchen die Last vor die Füße, wobei ihm jedesmal eine dunkle Blutwolke durchs Gehirn schießt, die ihm schier das Bewußtsein abdrückt. Dann rennt er wieder die Böschung hinab. Die ihn sehen, müssen glauben, er könne es nicht erwarten, die Körbe schnell wieder voll zu kriegen. Aber er kann gar nicht anders. Je länger er schleppt, desto schneller rennt er die Böschung wie­der hinab, weil in den Beinen nicht mehr genug Kraft ist, das Körpergewicht zu bremsen.

Nur nicht schlappmachen. - Seine Begleiter schuften ebenso wie er. 'Sie führen mich sofort weg, wenn ich mir etwas anmerken lasse. Aber einmal kommt der Punkt, wo es mich zusammen­dreht. Blödsinn ist das, was ich hier mache. Ich bin das nicht gewöhnt. Ich kann nicht mehr!'v Schon tut er den Mund auf. Schon formt die Zunge den ersten Laut. Die Mädchen vor ihm singen, wie ihm scheint, besonders hell. Da tippt ihm jemand auf die Schulter. Es ist Meister Jen. "Weißt du, was sie singen?" Er wollte eben sagen: 'Laß mich, ich kann nicht mehr.! Aber er würgt jetzt mühsam unter gewalt­sam unterdrücktem Brechreiz hervor: "Wie soll ich das wissen?" Sie singen so: "Nun ist der deutsche Gast gekommen. Er arbei­tet mit stürmischem Elan. Vorwärts, Freunde, das ist für uns eine große Ehre!"

Da greift er schweigend wieder zur Tragstange und rennt hin­ab. "Heja, tsonga tong-tso, hejo!" klingt es hinter ihm drein. 'Ja, kann ich sie denn enttäuschen?' So schreit etwas in ihm. Zusehends wächst der Damm. Den Hang hinauf ist es müh­sam, aber das Abwärtslaufen ist eine Qual. Steifbeinig, wie auf Stelzen, saust man hinab, wenn man nicht in den Knien ein­knicken will. Und doch ist der Fallauf die einzige Zeit, in der man für den Aufgang wieder etwas Kraft sammeln kann. 'Das Absurde dabei ist', denkt der Gast, 'daß dieses Hinunterrennen aussieht wie die reinste Arbeitswut.' Aber der tote Punkt ist überwunden, der Schwächeanfall vor­über. Keiner hat etwas gemerkt, keiner. Aus dem Körper strö­men neue Kräfte in die Muskelfasern. Eine neue Kraftreserve muß sich erschlossen haben. Aus dieser Quelle sammelt sich, wenn er heil wieder unten ist, gerade soviel Kraft in den Beinen, daß ein erneuter Aufstieg eben noch möglich erscheint. Und irgendwie gelingt es auch immer wieder.

Bis ein Mann mit groben schwarzen Bartstoppeln und festem Blick zu ihm tritt und sagt: "Mach mal Pause!" Da regt sich der Trotz in dem Deutschen, und er fragt: "Was hat denn der zu sagen?" Der Dolmetscher greift klärend ein. "Wang-lei, Regimentskommandeur, befiehlt: Pause machen!" Da sieht sich der also Kommandierte sehnsüchtig, verstohlen und vergeblich nach einem grünen Fleckchen Gras um, wo er sich hinfallen lassen könnte. Zur Not wäre er mit der nackten braunen Erde zufrie­den, aber rings um ihn sind Menschen und sehen herüber.

Die Regimentskapelle kommt herbei und spektakelt. Auf dem Damm stehen die Musiker vom Nachbarregiment und würden auch gerne herbeikommen. Aber sie können nicht, weil dort ihr Abschnitt zu Ende ist. Die Chinesen machen ebenfalls Pause. Sie drehen die Tragkörbe um und setzen sich drauf. Um den Gast versammelt sich ein immer größer werdender Kreis von Menschen. 'Es muß etwas getan werden', denkt dieser. 'Ich darf mich nicht nur angucken lassen. Ich stehe hier für alle meine Kumpel zu Hause.'

Er gibt sich einen Ruck. 'Dieses Ausgeben der Kräfte bis auf den letzten Docht hast du dir ja schon immer einmal gewünscht. Jetzt weißt du, wie es ist.' Er geht zu einem der Musiker und läßt sich dessen Horn geben. Sein Blick schweift über die große Baustelle. Ihm fallen die ersten Zeilen eines alten deutschen Volksliedes ein. 'Es blies ein Jäger in sein Horn, und alles was er blies, ja das war verlorn.' Und dann denkt er: 'Nein, soll denn mein Blasen verloren sein? Das bißchen Erde, das ich hinauf­geschleppt habe, ist wie ein Sandkorn am Meer. Es verschwin­det im Bauch des großen Dammes am Goe-pu. - Was bleibt, ist das Gefühl der Freundschaft zwischen unseren Völkern.'

Er setzt das Horn an die Lippen und schmettert einen hellen Weckruf hinaus, und dann, weil die Chinesen ihn drängen und weil ihm nichts anderes einfällt und weil er auch fast nichts an­deres kann, bläst er den Lützower Marsch: "Was glänzt dort vom Walde...."

Nach der Rast geht die Arbeit weiter. Bis mittags der Vorsit­zende sein strähniges Haar aus den Augen wischt, bis der Dol­metscher mit einer Handbewegung den Schweiß von der Stirn schleudert und sagt: "Nun laß es gut sein. Hast uns ganz schön auf Trab gebracht. In zwei Stunden fährt der Wagen nach Wu-han zurück. Du mußt noch essen und dich ausruhen."

Sie werden von der unermüdlichen Kapelle begleitet. Jetzt ist es denn Gast nicht mehr peinlich, daß er im Mittelpunkt der Auf­merksamkeit steht. Oft noch und gerne dreht er sich um und winkt zurück zum Damm.

Im Wagen, auf dem Weg zurück nach Wuhan, muß er an die Worte denken, die ihm der Vorsitzende auf seine Frage nach denn Perspektivplan der Kommune mit auf die Heimreise ge­geben hat:
"Grünes Gebirge, klares Wasser, blühende Welt."
Fern am Horizont sinkt der Damm ins Land zurück.

abgedruckt in:
Ruf in den Tag
Jahrbuch 1962
Institut für Literatur "Johannes R. Becher"
Paul List Verlag, Leipzig

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