Leserzuschrift an die
"Weißenseer Blätter" Heft 2 /1997

Sentenzen zur Kommunistik

Der schwerste Knüppel, mit dem gegenwärtig auf alles eingeschlagen wird, was sich zum DDR-Sozialismus bekennt, das ist weder die Stasi- noch die Stalinismuskeule. Der weitaus größere Hammer, von unterschiedlichster Seite auf Kommunisten geschwungen, das ist der Vorwurf, diese wähnten sich im Besitze der absoluten Wahrheit. Wenn dieser Vorwurf von den also Betroffenen zurückgewiesen wird, so liegt darin ein Ausdruck höchster Verblüffung. Denn als absolute Wahrheitler zu gelten, das heißt mit anderen Worten: Ihr seid keine Kantianer!

Woraufhin denn die Zurückweisung mit denselben anderen Worten bedeutet: Doch, doch, wir sind Kantianer. Was mit wiederum anderen Worten heißt: Wir sind Agnostizisten.

Denn nach Immanuel Kant ist das Ding an sich, umsomehr das zusammengesetzte, also komplizierte Ding ein transzendentales, als solches nicht unmittelbar kenntliches. Daher hat sich beispielsweise in der Kunst die Redensart begeben: das Ding zur Kenntlichkeit entstellen. Jedenfalls ist mit so einer richtigen Transzendenz nicht zu spaßen. Daher die Verblüffung.

Denn gerade Kommunisten sind am weitesten davon entfernt, die Leistungen großer Geister, auch Kants herabzumindern. Wo sie das aber täten, so wären es keine Kommunisten.

Am langen Stiel des Kant'schen Agnostizismus, nämlich fehlender sinnlicher Erkenntnislage, wird dieser Hammer gegen Nichtagnostiker geschwungen, etwa dann, wenn diese nicht nachlassen, statt kapitalistischer Profitmacherei eine kollektive Planwirtschaft einzufordern. Das eben sei Vermessenheit im Besitze absoluter Wahrheit.

Nun ist Wahrheit als Gegensatz zur bewußten Falschaussage, der Lüge, eine aus der Jurisprudenz in die Philosophie eingeschleppte und aus Bequemlichkeit dort belassene Kategorie. (Siehe Etymologie: verus, Var 'Göttin der Treueschwüre', wara 'Bündnistreue' usw. usf.) In der Philosophie erweicht dieser Rechtsbegriff zur ausnutzbaren Semantik. Ironischerweise wird über die Logik die Gegenbeschwörung, nicht im Besitze der absoluten Wahrheit zu sein, selber wieder zum Absoluten.

In die Naturwissenschaft fand solche Juristerei ohnehin keinen Eingang. Hier suchen und entdecken die Forscher jede Menge Universalkonstanten, sogenannte Invarianzen, an deren Vorhandensein, trotz Kant, nicht zu rütteln ist: Vakuumlichtgeschwindigkeit, unumkehrbarer Zeitverlauf, Gravitationskonstante... Zeugnisse einer von jedwedem Rechtsempfinden unabhängig existierenden Außenwelt. Sollen ausgerechnet für die Gesellschaftsentwicklung keine objektiven Gesetze gelten?

Unsere Hammer-Kantianer verkünden Sätze, wie in Marmor gehauen: "Sozialismus ist nach dem Verschwinden der DDR in Deutschland erst wieder möglich geworden." Merke: Möglich, statt nötig!

Hier waltet keine Spur erkenntnistheoretischer Abstinenz. Bei diesem, dann aber demokratischen, Sozialismus habe allerdings "die Mitbestimmung durch Belegschaften und Kommunen aus ökonomischen Gründen dort ihre Grenzen, wo die privaten Eigentümerinnen und Eigentümer das Interesse an der Verwertung ihres Eigentums verlieren." Der bürgerliche Eigentumsbegriff wird hier gleich dreimal festgehämmert. Aus welcher Kiste wurde die 'Belegschaft' hervorgekramt? Liegen Arbeiter und Angestellte in den gehobenen Mittelstandsbetrieben nur so herum? Authentiziät der hier ausgeliehenen Zitate sei geschenkt. Roß und Reiter sind bekannt. Lohnabhängigen wird hier keinerlei Konzeptions- und Führungskraft zugemutet. Wer einwendet, wo Kapitalisten das Interesse an der Verwertung ihrer Werte verlieren, dort fange Sozialismus erst an, dem wird Option auf absolute Wahrheit aufgebrummt.

Im Januar 1932 sprach im Düsseldorfer Industrie-Klub ein mit "Heil, Herr Hitler!" umgrüßtes Monster von einer "Vermählung zwischen Herrensinn im politischen Wollen und Herrensinn in der ökonomischen Betätigung". Man staune ob so viel gedankenloser Nähe über geschichtliche Zeiträume hinweg, auch wenn die ökonomische Avantgarde für den demokratischen Sozialismus eine Nummer kleiner ausgeguckt wird. Liegt darin der angedachte Kultursprung?

Bei den Eleaten, vor 2500 Jahren, hieß es: Alles was ist, ist wirklich. Die heutigen Positivisten knüpfen an: Kapitalismus, sprich Marktwirtschaft, ist, Sozialismus ist nicht. So aber Sozialismus sei, sei er so, daß er das Sein des Kapitals nicht an der Wurzel, den privaten Unternehmerinteressen, beschädige.

Vom Altpositivisten Parmenides über die Neupositivisten zum Unpositivisten Kant wird ein merkwürdiger Bogen gespannt. Weltweiter Monopolkapitalismus, indem er ist, hat sich als das Wirkliche erwiesen. Weltweiter Sozialismus ist nicht, also nicht wirklich, soll daher in der Transzendentalutopie verkümmern. Denn: Da das Nichtseiende nicht ist, so kann es auch niemals ins Sein transpariert werden. Werden als Negation der Negation ist dieser Philosophie moderner Realdemokraten fremd.

Gottfried-Wilhelm Leibniz, der in seinen, wenn auch fiktiven, wenn auch virtuellen 'petit perceptiones', kleinsten wahrnehmbaren oder gar unterschwelligen Befindlichkeiten, eine Erkennbarkeit der Welt aufscheinen läßt, vermöge deren "die Gegenwart mit der Zukunft schwanger geht und mit der Vergangenheit beladen ist", bietet Agnostikern keinen Ansatz zur Kommunismuskritik. Daher verschanzen sie sich hinter Kant.

Zwei blutige Versuche, großbürgerliche deutsche Verwertungsinteressen in Europa durchzuboxen, sind kläglich gescheitert. Von unseren wahren Kantianern wurde dazu kein erkenntnistheoretisches Geschrei erhoben. Statt dessen: "Unsere grundlegende Kritik an der Gesellschaft der BRD (nicht des Kapitalismus!) ist nur glaubwürdig, wenn sie einhergeht mit schonungsloser Kritik (hier folgt stets ein genußvoll ausgebreiteter Katalog vernichtender Adjektive) am Charakter des Sozialismus in Osteuropa."

Sprüchemacher am Werk. Priorität der Sozialismuskritik vor Kritik an der Kapitalherrschaft. Kritik am Nichtseienden vor Kritik am Seienden! Geschindludert wird mit dieser Strategie vor allem an der, gerade von Marxisten anerkannten, geistesgeschichtlichen Größe Immanuel Kants.

Gegenwärtig soll wenigstens dieses Osteuropa im Herrensinne heimgeholt werden, diesmal mit Geld und blauen Versprechungen. Kapital, ob klein, ob groß, muß sich vermehren oder untergehen. Dies ist eine gesellschaftswissenschaftliche Invarianz. Deutsche Bankherren, sofern sie nicht zuvor mit anderen Interessenverwertern zusammenstoßen, werden in den Weiten dieses Ostens ihr Debakel erleben wie zuvor ihre Heere in Stalingrad.

Stehe ihnen Gott bei oder wenigstens eine demokratische Partei, die ihre Führungsqualitäten auch dann noch anerkennt.

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